Der ungarische Premierminister Viktor Orban
APA/AFP/Attila Kisbenedek
Wahl in Ungarn

Orbans riskante Wette auf Putin

Der Krieg in der Ukraine hat den Wahlkampf für die Parlamentswahl am 3. April in Ungarn auf den Kopf gestellt. Der amtierende Ministerpräsident Viktor Orban möchte seine jahrelang gepflegten Russland-Beziehungen nicht kappen und übt sich in einem Balanceakt zwischen Ost und West. Eine drohende Wirtschaftskrise und eine geeinte Opposition könnten die Karten jedoch neu mischen, prognostizieren Experten.

Seit zwölf Jahren ist die FIDESZ-Partei unter Orban an der Macht – eine Ära, die die ungarische Opposition mit einer Einheitsliste am 3. April beenden möchte. Seit der Erlangung der Zweidrittelmehrheit durch die Orban-Partei vor zwölf Jahren waren die linken, grünen, liberalen und rechten Kleinparteien des Landes völlig zersplittert und konnten der Dominanz der Regierungspartei somit lange nicht gefährlich werden – bis sich 2019 erste Erfolge abzeichneten.

Bei der Kommunalwahl in Budapest gelang es der erstmals vereinigten Opposition, Gergely Karacsony als Bürgermeister an die Spitze der Hauptstadt zu bringen. Mit Oppositionsvorwahlen sollte im Herbst 2021 die Basis für einen weiteren Erfolg bei der Parlamentswahl geschaffen werden. Zur Überraschung der FIDESZ-Partei wurde der konservative parteilose Peter Marki-Zay, Bürgermeister der südostungarischen Stadt Hodmezövasarhely, zum gemeinsamen Spitzenkandidaten der sechs Parteien gewählt.

Medien auf Seite von FIDESZ

Da Orban die nationalen Medien laut Beobachtungen der Organisation Reporter ohne Grenzen seit seinem Amtsantritt sukzessive unter seine Kontrolle gebracht hat, gestaltet sich der Wahlkampf für das Bündnis hinter Marki-Zay schwierig. Mit den finanziellen Mitteln der FIDESZ-Partei kann es nicht mithalten, eine direkte TV-Konfrontation mit Marki-Zay lehnte Orban ab.

Der ungarische Politiker Peter Marki-Zay wird hier von Fidesz als Dr. Evil von Austin Powers auf einem Wahlplakat dargestellt
APA/AFP/Attila Kisbenedek
Auf Plakaten in Budapest stellt die FIDESZ-Partei den Spitzenkandidaten der Opposition, Peter Marki-Zay, als „Mr. Evil“ dar

Der ungarische Staatssender M1 kam kürzlich seiner gesetzlichen Pflicht nach, indem er führenden Oppositionspolitikern das Minimum von fünf Minuten Sendezeit gewährte, damit diese ihr Wahlprogramm vorstellen können. Damit präsentierte auch Marki-Zay um 8.00 Uhr vor den Nachrichten Hauptpunkte des Wahlprogramms der Allianz wie steuerfreien Mindestlohn, unabhängige Gerichte, Einführung des Euro, Verringerung der Wartelisten in den Spitälern und die Streichung der Coronavirus-Pflichtimpfung.

Krieg fordert Neuausrichtung im Wahlkampf

Der Ukraine-Krieg zwingt jedoch die beteiligten Parteien, ihre Botschaften und Strategien im Wahlkampf noch einmal völlig neu aufzustellen. Zuvor hatte die Opposition etwa gegen Korruption und für höhere Lehrergehälter geworben. Dass Orban zu den letzten Politikern der EU gehörte, die knapp vor der Invasion noch einen Staatsbesuch nach Russland unternahmen, nahm sie Anfang März zum Anlass, um das Naheverhältnis zwischen Orban und dem russischen Präsidenten einmal mehr öffentlich zu thematisieren.

Die Regierung und deren Medien würden ständig Lügen über die Opposition verbreiten, kritisierte Marki-Zay bei seinem Auftritt im Staatsfernsehen und dementierte Behauptungen der Medien, nach denen die Allianz Waffen und Soldaten in die Ukraine schicken wolle. „Orban und Putin oder der Westen und Europa – das ist der Einsatz“, schrieb er auf dem sozialen Netzwerk Facebook. „Eine Wahl zwischen der dunklen oder der guten Seite der Geschichte.“

Der ungarische Premier Viktor Orban zu Besuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin Anfang Februar 2022
AP/Yuri Kochetkov
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bei einem Staatsbesuch in Russland am 1. Februar 2022, wenige Wochen vor der Invasion

Orban: Müssen eigene Interessen verteidigen

Orban selbst bemüht sich um einen Balanceakt. Er verurteilt zwar offiziell die russische Aggression, trägt die EU-Sanktionen mit und nimmt Flüchtlinge aus der Ukraine auf, ist aber gleichzeitig darum bemüht, sein Land aus dem Krieg in der Nachbarschaft so gut wie möglich herauszuhalten. Dem Besuch der polnischen, tschechischen und slowenischen Regierungschefs im umkämpften Kiew vergangene Woche schloss er sich nicht an. Stattdessen möchte der amtierende Ministerpräsident als Garant für Frieden und Stabilität auftreten.

„Unser Interesse besteht darin, nicht als Bauernopfer in einem fremden Krieg zu enden. In diesem Krieg haben wir nichts zu gewinnen und alles zu verlieren“, so Orban in seiner Nationalfeiertagsrede vor Zehntausenden Anhängern der FIDESZ-Partei in Budapest am 15. März. „Wir müssen uns aus diesem Krieg heraushalten! Kein einziger Ungar darf zwischen den ukrainischen Amboss und den russischen Vorschlaghammer geraten.“

Der Name des russischen Präsidenten kam in der Rede, trotz des mehrmals thematisierten Krieges, nicht vor. Stattdessen warnte Orban vor den „stärkeren Ländern“ Deutschland, Russland, Türkei und USA. „Weder die USA noch Brüssel werden mit einem ungarischen Kopf denken oder einem ungarischen Herzen fühlen“, verwies der Premier auch auf das angespannte Verhältnis mit der EU. „Wir müssen unsere eigenen Interessen verteidigen – mutig und ruhig.“

Russland als Vorbild für „illiberale Demokratie“

Seit dem Beginn seiner Karriere als Ministerpräsident kündigte Orban an, sein Land nach Osten öffnen zu wollen – und liebäugelte ab 2014 offen mit dem Modell der „illiberalen Demokratie“, einer Herrschaftsform nach russischem Vorbild, die demokratische Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und funktionierende Opposition nach und nach untergraben und in uneingeschränkte Herrschaft münden soll.

Seit Jahren gilt Orban für Putin daher bei der Durchsetzung oftmals unpopulärer Interessen innerhalb der EU als wichtiger Verbündeter – und umgekehrt. Auch Polen zeigte unter dem Chef der europaskeptischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, in jüngster Vergangenheit immer mehr autokratische Züge. Dass Polen stark antirussisch eingestellt ist, sorgt aktuell für einen Bruch mit Ungarn, mit dem es vor Kurzem noch im Kampf gegen die EU-Rechtsstaatlichkeit vereint auftrat.

Ungarn als Sorgenkind der EU

Ungarn ist seit 1999 Mitglied der NATO und seit 2004 EU-Mitglied – die Regierung unter Orban sorgt jedoch immer wieder für Konflikte, wenn es etwa um Rechtsstaatlichkeit, die Freiheit der Justiz, Menschenrechte von Asylbewerbern und Medienfreiheit geht. Dazu zählen Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), mehrere Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission und sogar ein EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren.

EU-Sanktionen, die einen möglichen Ausstieg aus den russischen Energielieferungen beinhalten, möchte Orban um jeden Preis verhindern: Ungarn bezieht fast 100 Prozent seines Gases aus Russland – erst vergangenes Jahr unterzeichnete Orban einen 15-jährigen Liefervertrag. Auch zwei neue, zehn Milliarden Euro schwere Atomreaktoren sind mit der finanziellen Unterstützung Russlands geplant. In seiner Inszenierung als Stabilitätsgarant kommt der Krieg für Orban also zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.

Sieben Milliarden Euro an EU-Geldern stehen noch aus

Es gehört seit jeher zur politischen Strategie Orbans, Brüssel in seinen Reden als bürokratischen Superstaat zu inszenieren, der Ungarn gegen den Willen der Bevölkerung einem Regulierungszwang unterwerfen möchte. Dabei gehört Ungarn zu jenen Ländern, die finanziell besonders von der Mitgliedschaft profitieren: Im Jahr 2020 war es mit 4,8 Milliarden Euro unter den vier größten Nettoempfängern und nahm somit etwa im Gegensatz zu Deutschland und Österreich mehr Fördermittel ein, als es einzahlte.

Die Auszahlung der CoV-Wiederaufbauhilfe der EU im Wert von knapp sieben Milliarden Euro steht jedoch nach wie vor aus. Der kürzlich verabschiedete Rechtsstaatsmechanismus der EU ermöglicht es der Union, Mitgliedsstaaten, die rechtsstaatliche Prinzipien missachten, mit dem Einfrieren von Fördergeldern zu sanktionieren – eine Vorgangsweise, von der die EU nun Gebrauch macht und mit der sie Orban dazu bringen möchte, etwa die Rechte von LGBTIQ-Personen in Ungarn nicht weiter zu unterwandern und Fördergelder den Vorgaben entsprechend einzusetzen.

Experten prognostizieren Wirtschaftskrise ab Herbst

Das könnte die zukünftige Regierung vor die größte Herausforderung stellen, prognostiziert Botond Feledy, Spezialist für auswärtige Angelegenheiten am Zentrum für Euro-Atlantische Integration und Entwicklung in Brüssel. „Ich rechne bis zum Herbst mit einer großen Wirtschaftskrise. Das wird die wirklich bahnbrechende Auswirkung sein, egal, welche Regierung gewählt werden wird“, so Feledy. Im Februar hatte die Inflation mit 8,3 Prozent laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zuletzt ein 15-Jahres-Hoch erreicht.

„Die neue Regierung wird sich vor allem die Frage stellen müssen, was eine zweistellige Inflationsrate und Beschränkungen der öffentlichen Mittel für die allgemeine Bevölkerung, die möglicherweise arbeitslos wird, bedeutet.“ Das ungarische Finanzministerium sei so gut wie pleite – bis die Mittel aus dem EU-Aufbaufonds eintreffen würden, könnte es im besten Fall noch Monate dauern. Und auch das Moratorium für Immobilienkredite laufe im Sommer aus.

In Umfragen zeichnet sich Kopf-an-Kopf-Rennen ab

„Es bleibt abzuwarten, ob Orbans Friedens- und Sicherheitsnarrativ oder der West-gegen-Ost-Ansatz der Opposition die Wähler mehr überzeugen wird“, sagt Andreas Biro-Nagy vom Thinktank Policy Solutions gegenüber dem Balkan Investigative Reporting Network (BIRN). „Aber was Orban vor große Herausforderungen stellt, ist, dass er keine Kontrolle über die Geschehnisse in der Ukraine oder sogar in der Wirtschaft hat – er kann nur Schadensbegrenzung betreiben.“

Trotz der medialen Kontrolle Orbans liegen die Regierungspartei und das Oppositionsbündnis im Wesentlichen Kopf an Kopf. Zudem ist der Anteil der Unentschlossenen in Ungarn traditionell hoch – zuletzt lag er bei rund 25 Prozent. Das Wahlsystem, eine Kombination aus Listen- und Persönlichkeitswahl, begünstigt jedoch eher die Siegerpartei. 106 der 199 Parlamentssitze werden in den Wahlkreisen vergeben, der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt. Hier scheint FIDESZ nach wie vor eine deutliche Dominanz zu zeigen.