Zerstörte Russische Hubschrauber bei Cherson, Ukraine
Reuters/MAXAR
Kriegsverlauf

Russische Bomben, ukrainische Nadelstiche

Mit unverminderter Härte setzt Russland bei seinem Angriffskrieg auf die Ukraine den Beschuss von Städten wie Mariupol, Charkiv und Kiew fort. Noch können die ukrainischen Truppen die Städte verteidigen – und im Gegenzug mit „Nadelstichen“ der russischen Armee schwere Schäden zufügen. Gleich fünf russische Generäle sind laut übereinstimmenden Medienberichten seit Kriegsbeginn gefallen.

Laut international übereinstimmenden Medienberichten wurde am Samstag Generalleutnant Andrej Mordwitschew Kommandant der 8. Armee, getötet. Schon zuvor fielen Witali Gerasimow (44), Stabschef der 41. Armee aus Nowosibirsk, Andrej Suchowetzki (47), Vizechef dieser Armee, Andrej Kolesnikow (45), Chef der 29. Armee aus Chita, und Oleg Mitjajew (48), Chef der 150. Schützendivision der 8. Gardearmee aus Nowotscherkassk.

Dazu kommt wohl auch der tschetschenische General Magomed Tuschajew, der bereits in den ersten Kriegstagen mit einer Spezialtruppe nahe dem Flughafen Hostomel bei Kiew, von ukrainischen Kräften gestellt und getötet wurde. Die tschetschenische Führung behauptet allerdings, Tuschajew sei am Leben.

Kommunikationsprobleme und gezielte Angriffe

Die Experten des österreichischen Bundesheeres sehen dafür mehrere Ursachen. „Aufgrund der Aufklärungsunterstützung durch die NATO, speziell durch die USA, kann davon ausgegangen werden, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage sind, die Hauptquartiere hoher russischer Kommanden immer wieder gezielt anzugreifen“, sagte Oberst Markus Reisner.

„Dies ist in einem Fall dokumentiert“, so der Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie. „Dazu kommt, dass die russischen Kräfte offensichtlich unter Kommunikationsproblemen leiden. Dies führt dazu, dass sich die Kommandanten mit ihren beweglichen Gefechtsständen nahe an die vordersten Frontlinien bewegen. Hier können sie bei mangelnder Eigensicherung aber Ziel von Scharfschützen werden. Auch dies ist in zumindest einem Fall belegt.“

Zentralistische Kommandostruktur

Die Todesumstände sind oft unklar, schreibt die „Presse“. Ein Scharfschütze soll Suchowetzki getötet haben, Mitjajew soll bei Mariupol in einen Hinterhalt geraten sein, von seinem Körper zirkulieren Bilder. In mindestens einem Fall war Artillerie oder eine Drohne im Einsatz. „Die direkte Präsenz kann allerdings auch andeuten, dass die Truppe angeschlagen ist und eine moralische Stärkung wirklich benötigt“, schreibt die „Presse“. Bei Kriegsbeginn ging man von 20 Generälen der Russen in der Ukraine aus. Die US-Armee verlor in den vergangenen 50 Jahren einen General, das war 2014 in Kabul.

Internationale Militärexperten sehen auch noch einen anderen Grund, der generell das Kriegsgeschehen beeinflusse: Die russische Kommandostruktur sei extrem zentralistisch – und damit auch starr. Die ukrainische Militärführung würde hingegen lokalen Kommandanten mehr Entscheidungsfreiheiten geben – und damit sei man recht erfolgreich.

Kleine Kampftrupps

Die Tugend der ukrainischen Truppen stammt freilich aus einer Not heraus: An Gerätschaft ist man den russischen Truppen weit unterlegen. So müsse man sich einerseits gegen schwere Artilleriebeschüsse auf die Städte und an den Frontlinien stemmen, für Gegenangriffe setzt man aber auf eine Strategie der Nadelstiche: In kleinen Trupps wird mit entsprechenden Waffen, die man zur Verfügung hat, angegriffen – und das recht effektiv. Auch gezielte Schläge gegen Nachschubrouten sorgen laut Experten dafür, dass sich die Frontlinien in den vergangenen Tagen kaum verändert haben, Russland also kaum weiterkommt.

Zerstörte russische Panzer bei Kiew
AP/Felipe Dana
Zerstörte russsische Panzer in Brovary

Laut Schätzung 7.000 Russen gefallen

US-Schätzungen gehen laut „New York Times“ davon aus, dass bereits mehr als 7.000 Soldaten aus Russland in der Ukraine getötet wurden. Dabei handle es sich um vorsichtige Schätzungen, andere liegen noch darüber. So sind es ukrainischen Angaben zufolge bisher etwa 14.400 Tote aufseiten Moskaus. Selbst wenn man von der vergleichsweise niedrigeren US-Angabe ausgehe, seien die Zahlen erschreckend, so die „New York Times“. Laut ukrainischen Angaben antwortete Moskau bisher auch nicht auf Anfragen via Rotem Kreuz, die Leichen von russischen Soldaten zu übernehmen.

Getötete Soldaten sind nicht nur militärisch ein Problem. In vergangenen Kriegen hatten trauernde Mütter und Partnerinnen von gefallenen Soldaten in Russland mit ihren Vorwürfen viel Aufsehen erregt – und das bei Kriegen mit weit weniger Toten. Für die Kreml-Propaganda könnte das noch zu einem ernsthaften Problem werden.

Hohe Verluste auch bei Material

Die Zahl der Verwundeten und Gefangenen dürfte nach Erfahrungswerten mindestens viermal so hoch sein. Dann wären mindestens 20.000 Mann ausgefallen, vielleicht sogar 30.000 – von derzeit rund 200.000 russischen Soldaten und Separatisten in dem Land. Die Ukraine verkündete auch, bereits erste Lager für russische Kriegsgefangene zu errichten und sich dabei an internationales humanitäees Recht zu halten.

Das US-Verteidigungsministerium schätzte, dass die russischen Streitkräfte gut zehn Prozent ihrer Kampfkraft eingebüßt hätten. In Geheimdienstkreisen heißt es, dass sie das wegstecken könnten.

Zerstörte russische Militärfahrzeuge in Borodyanka
Reuters/Maksim Levin
Ausgebrannte russische Militärfahrzeuge in Borodjanka

Nachschub offenbar auf dem Weg

Das Blog Oryx, hinter dem ein niederländischer Militäranalyst steht, versucht auf Basis von Fotos und Videos, die in sozialen Netzwerken geteilt werden, den Verlust an Kriegsmaterial zu beziffern. Laut Oryx verlor Russland bisher (Stand Samstag) insgesamt 1.500 Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Waffensysteme, Transporter und auch Flugzeuge und Helikopter. Auf ukrainischer Seite zählte man knapp 400. Oryx zählt nur durch Bilder und Recherchen bereits belegte Verluste und räumt ein, dass diese weit höher sein könnten.

In sozialen Netzwerken kursieren allerdings bereits Bilder von Militärkonvois in Russland, die wohl als Verstärkung für die kämpfenden Truppen gedacht sind. Und bereits länger wird berichtet, dass das Regime von Baschar al-Assad in Syrien Tausende Soldaten zur Verfügung stellt. Diese sollen vor allem bereits eroberte Gebiete sichern. Noch wurde allerdings keine Truppenverlegung beobachtet.

Kampfmoral der russischen Truppen sinkt

Moskau selbst veröffentlichte Opferzahlen bisher nur zögerlich. Am 2. März gab der Kreml zum ersten und bis dato letzten Mal offizielle Zahlen von Opfern an. Laut russischem Verteidigungsministerium wurden 498 russische Soldaten getötet. Zudem seien 1.597 weitere verletzt worden. Wie die „New York Times“ unter Berufung auf nicht namentlich genannte Beamte schrieb, gehen die geschätzten Zahlen zurück auf Analysen von Medienberichten, Satellitenbildern, Videomaterial sowie Angaben aus Russland und der Ukraine.

Für die Truppen, so hieß es laut „New York Times“ von einem hochrangigen Beamten aus dem Pentagon, könnten die hohen Verluste zum Problem werden. Es gebe Hinweise auf eine nachlassende Kampfmoral. Die Hinweise benannte der Beamte nicht. Als Gründe würden mangelhafte Führung, kaum Informationen über Sinn und Zweck des Einsatzes und der unerwartet heftige Widerstand angenommen. Dabei gehe es allerdings um die Bodentruppen.

Keine Luftüberlegenheit

Das könnte auch eine der Erklärungen sein, warum Russlands Streitmacht außerhalb von Kiew weitgehend ins Stocken geraten ist. Auch nach drei Wochen haben die russischen Invasoren die ukrainische Hauptstadt nicht eingekesselt. Und auch an vielen anderen Orten im Land halten die ukrainischen Streitkräfte der russischen Armee bisher stand. Selbst die Lufthoheit haben die russischen Streitkräfte nach wie vor nicht errungen.

Grafik zur Lage in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW/liveuamap.com

Probleme bei Truppenversorgung

Nach Einschätzung der britischen Geheimdienste hat Moskau Probleme, die eigenen Truppen mit Lebensmitteln und Benzin zu versorgen. Dass Russland keine Kontrolle über den Luftraum habe und sich kaum über unbefestigtes Gelände bewege, verhindere, dass die russische Armee effektiv mit dem Nötigsten versorgt werden könne, hieß es am Freitag in einem Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums.

Die Gegenangriffe ukrainischer Kräfte zwängen Russland dazu, viele Soldaten dafür einzusetzen, ihre eigenen Versorgungswege zu verteidigen. Das schwäche die russische Kampfkraft deutlich, hieß es. In den vergangenen Tagen hat Russland seine Luftangriffe in der Ukraine zunehmend verschärft. Damit, so hieß es aus dem Pentagon, könnte Russlands Präsident Wladimir Putin versuchen, die schlechte Leistung seines Militärs auf dem Boden auszugleichen.

Zerstörtes Wonhaus bei Kiew
AP/Marko Djurica
Unzählige Wohnhäuser wurden durch russischen Beschuss zerstört, hier in Kiew

Schwenk auf Plan B

Die ursprünglichen Kriegsziele seien durch die ukrainischen Kräfte rasch unterbunden worden, sagte der Strategieexperte des österreichischen Bundesheeres, Philipp Eder, am Freitag im Ö1-Mittagsjournal. „Die Masse des Landes ist nach wie vor unbestritten nicht in russischer Hand“, so Eder. Die russische Armee sei nach wie vor schlagkräftig, sie müsse nun aber umplanen, „um einen Abnützungskrieg erfolgreich führen zu können“.

Auf dem Gefechtsfeld passiere derzeit sehr viel, und es werde blutig gekämpft. Solange keine Zielsetzung erreicht ist, ist Putin nach Eders Einschätzung auch nicht zu Friedensgesprächen bereit. „Das wird noch ein langer Prozess werden.“

Kiew hält sich bedeckt

Über ukrainische Verluste und Truppenstärken ist viel weniger bekannt ist als über russische. Die ukrainische Armee hatte sich bisher bei Angaben zu Verlusten in den eigenen Reihen bedeckt gehalten und lediglich die Zahl angeblich getöteter russischer Soldaten genannt. Zuletzt gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski die Zahl der in den eigenen Reihen getöteten Soldaten mit 1.300 an. Der britische Geheimdienst schätzt die Zahl auf 3.000, andere Schätzungen liegen zwischen 2.000 und 4.000.

Viele zivile Opfer

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf dokumentierte am Freitag den Tod von 816 Zivilpersonen seit dem Einmarsch russischer Truppen. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 1.333 Verletzte vor. Die meisten Opfer seien wegen schweren Artillerie- und Raketenbeschusses zu beklagen gewesen. UNO-Funktionäre gehen aber von einer weit höheren Opferzahl in der Ukraine aus. Hintergrund sei, dass Informationen mit Verzögerung eingingen und viele Berichte noch bestätigt werden müssten.

Reste eines russischen Kampffliegers in Chernohov
Reuters/Ukraine State Emergency Service
Reste eines abgeschossenen russischen Kampfjets in Tschernihiw

Nach Angaben aus der Ukraine liegt die Zahl der getöteten Zivilisten deutlich höher. Allein in der belagerten südostukrainischen Hafenstadt Mariupol sind ukrainischen Angaben zufolge bisher weit mehr als 2.000 Zivilisten getötet worden. Angaben des UNO-Nothilfebüros (OCHA) zufolge hätten Hunderttausende Menschen zudem durch Kriegsschäden keinen Zugang mehr zu Strom oder Wasser. Auch die Opferzahlen in kleinen Dörfern sind derzeit kaum abzuschätzen.