Bilcollage aus russischer Flagge, Faust, mit der Schrift #istandwithrussia
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Krieg im Netz

Wo und wie Russlands Propaganda wirkt

Während der militärisch geführte Krieg in der Ukraine mit unverminderter Härte weitergeht, hat bisher gegolten, dass die Ukraine den Informationskrieg schon gewonnen hat: Die Welt stehe auf der Seite der Ukraine, die Deutungshoheit habe das angegriffene Land. Doch möglicherweise stimmt das nicht so ganz: Denn die berüchtigte Onlinepropaganda Russlands wurde ganz woanders erfolgreich gestartet – und beginnt jetzt auch im Westen sichtbarer zu werden.

Für viele war zu Beginn des Krieges überraschend, dass die russischen Trollarmeen, die unter anderem bei US-Wahlen und in der Brexit-Debatte in den sozialen Netzwerken für viel Wirbel und Desinformation gesorgt hatten, kaum zu sehen waren. Analysen zeigen jetzt, dass es sie sehr wohl gab – allerdings nicht dort, wo westliche Beobachter sie auch sofort gesehen haben.

Carl Miller und Jeremy Reffin von CASM Technology, einem Unternehmen, das sich auf Analyse von Desinformation in sozialen Netzwerken spezialisiert hat, zeichnen genau nach, wie sich schon vor der Invasion am 24. Februar auf Twitter langsam die Hashtags #IstandwithPutin und #IstandwithRussia etablierten. In den ersten Tagen des Angriffskriegs wurden auch die entsprechenden Postings mehr – sehr oft auch in Kombination mit Spam, wie der Propagandaforscher Marc Owen Jones von der Hamad Bin Khalifa University in Katar herausgefunden hat.

Konzertierte Aktion zu März-Beginn

Von 2. bis 4. März waren es dann Zehntausende Tweets mit diesen Hashtags. Eine konzertierte Aktion, meinen die Forscher in ihrer Analyse auf der Website des Thinktanks Institute for Strategic Dialogue (ISD). Denn einige Tage danach sind nur noch rund ein Viertel der 80.000 Tweets abrufbar. Etliche der Accounts, die die prorussischen Botschaften verbreiteten, wurden wieder gelöscht oder gesperrt.

Im Westen fiel diese Aktion allerdings kaum auf, weil sie vor allem in anderen Twitter-Sphären passierte, wie Miller auf Twitter ausarbeitet. Mit den datenforensischen Methoden wurde untersucht, welche Accounts für die Verbreitung sorgten, diese wurden für eine Analyse nach verschiedenen Kategorien geclustert. Insgesamt acht unterschiedliche Gruppen macht Miller fest. Und die meisten davon würden sich an ein Publikum in Asien und Afrika richten.

Mutmaßlich viele Bots und gekaufte Poster

Viele der Twitter-Konten waren demnach neu angelegt und hatten wenige Follower. Darunter mischten sich allerdings auch schon länger bestehende Accounts. Das und die hohe Dichte an Retweets, also bloßen Weiterleitungen ohne eigene Anmerkungen, legen die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine Mischung aus Bots, also rein maschinell agierenden Accounts, und „gekauften“ Twitter-Konten handelt. Dass für soziale Netzwerke reale User in Hunderter- oder gar Tausender-Paketen gekauft werden können, vor allem in Asien, ist lange bekannt.

Zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt eine Analyse des Digital Forensic Research Lab (DFRLab) des Thinktanks Atlantic Council. Auch in dieser Studie wurde eine konzertierte, wenige Tage andauernde Aktion identifiziert, die quasi die Initialzündung für prorussische Propaganda auf Twitter darstellte.

Indien und Afrika im Fokus

Nach geografischer Verortung ist laut einer weiterführenden Studie, die von Miller und Kollegen mittlerweile veröffentlicht wurde, Indien einer der Hauptschauplätze dieser Gruppen, dazu kommen aber auch User, die sich mit den Sprachen Urdu und Farsi an pakistanische und andere Communitys richten.

In Afrika waren laut Miller in Nigeria, Kenia und Südafrika die meisten Postings zu verorten, teilweise in Kombination mit einem anderen rein kommerziellen Netzphänomen: Spam. So führte einer der meistgeteilten Links mit einem #IstandwithRussia-Hashtag auf die Website eines Gebrauchtwagenhändlers. Das südafrikanische Cluster war laut Miller das „organischste“,also jenes mit den meisten realen Usern. Ein Grund dafür ist wohl, dass eine Tochter von Ex-Präsident Jacob Zuma mit großer Follower-Zahl die Postings teilte.

Westen als – dankbares – Feindbild

Auf fruchtbaren Boden fällt die russische Propaganda deswegen, weil sie an Erfahrungen in diesen Ländern anknüpft. Als unter dieser Prämisse oft nicht von der Hand zu weisendes Feindbild wird der westliche Imperialismus gezeichnet, sehr oft am Beispiel der NATO, auch ganz ungeachtet dessen, dass der Krieg auch als russischer Imperialismus gedeutet wird. Befeuert wird aber auch der Gegensatz zwischen Westen und Globalem Süden, zwischen westlichen Industriestaaten und den BRICS-Ländern.

Russlandfreundliche Memes
CASM Technology
In Memes und Karikaturen wird dem Westen Doppelmoral vorgeworfen

In Indien knüpfen prorussische Postings laut den Analysen häufig an den nationalistischen Positionen der regierenden BJP von Premier Narendra Modi an. Im arabischen Raum wird auf die unrühmliche Rolle der USA und der NATO etwa im Irak verwiesen. Und in Afrika verweist man darauf, dass die Flüchtlingsproblematik auf dem Kontinent vom Westen ignoriert wird, während sie in der Ukraine jetzt ein Topthema ist.

Rassismus als Motiv

Aber auch die russische Erzählung der „Entnazifizierung“ der Ukraine fällt dort teilweise auf fruchtbaren Boden. Per Twitter werden unter anderen Berichte geteilt, wonach Afrikanerinnen und Afrikaner an der Flucht aus der Ukraine gehindert werden – und zwar in der Ukraine selbst. Dass es viele Vorfälle von polnischer Seite an der ukrainischen Grenze gab, geht in dieser Thematik eher unter. Auch Videos, die zeigen, wie Schwarze in der Ukraine verprügelt werden, werden weitergereicht. Wo und wann diese aufgenommen wurden, ist unklar – sie malen aber jedenfalls das Bild eines rassistischen Landes.

Spiel mit Emotionen

Was wahr und unwahr sei, spiele vielleicht gar keine Rolle bei der Wirkung, schreibt Miller auf Twitter: „Es geht nicht in erster Linie um ‚Desinformation‘, sondern darum, den Menschen Dinge zu erzählen, die sie bereits für wahr halten, und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.“ Diese „Kriegsführung mit Informationen“ habe wohl mehr mit Emotionen als mit Vernunft zu tun: „Manchmal scheint es, dass Zugehörigkeit und Identität wirklich im Mittelpunkt stehen, wie sich die Menschen wirklich fühlen und nicht, was sie für wahr halten.“

Auch Propagandaforscher Jones verweist in einem „Spiegel“-Interview darauf, dass Desinformation auch effektiv ist, wenn man nicht an sie glaubt. Wenn eine einzelne Person eine Verschwörungstheorie verbreiten würde, „wäre es irrelevant. Aber sobald Sie tausend oder zweitausend Menschen haben und sogar eine Regierung, die es tut – dann müssen Sie darüber reden.“

Andere Netzwerke als Black Box

Miller wiederum verweist darauf, dass man Twitter vergleichsweise gut datenforensisch untersuchen kann, was sich auf anderen Plattformen abspielt, sei aber nur zu erahnen. Messenger-Dienste wie Telegram funktionieren aufgrund ihrer Geschlossenheit ganz anders – und TikTok sei als vergleichsweise neues Phänomen eine Black Box. Eine erste ISD-Studie zeigt aber, dass russische Staatsmedien und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuletzt auf TikTok ihre Bemühungen stark ausgebaut haben.

Das Mediennetzwerk des Kreml

Doch es sind nicht nur die klassischen Staatsmedien Russlands, die für die Inhalte sorgen, die dann weitervereitet werden. Die auf Analyse von Desinformation spezialisierte Plattform Miburo versuchte das „Ökosystem“ der russischen Propaganda zu kartografieren. Dazu gehören demnach auch Plattformen und Websites, die den Geheimdiensten nahe stehen, ebenso wie solche in der Einflusssphäre von Oligarchen.

Als Akteure und Verstärker wirken aber auch russische Einrichtungen wie Botschaften in andern Ländern, zudem in Einzelfällen aber auch chinesische Diplomaten und andere offizielle Stellen.

Plötzlich Bilder aus der Ukraine präsent

In den vergangenen Tagen wurde hier aber auch die Kommunikationsstrategie wohl geändert. Russische Medien zeigen nun expliziter Bilder aus der Ukraine. So war im russischen Staatsfernsehen ein Drohnenflug über die komplett zerstörte Stadt Mariupol zu sehen, allerdings mit dem Hinweis, „ukrainische Nationalisten“ hätten die Stadt zerstört.

Und mittlerweile ist – offenbar nach dem erfolgreichen Vorbild des Kriegsgegners – auch die russische Armee dazu übergegangen, Bilder des Krieges in den sozialen Netzwerken zu zeigen. Spekuliert wird damit, dass Moskau demnächst auch seine verpflichtende Sprachregelung der „militärischen Spezialoperation“ ändern könnte – weil diese mit den verbreiteten Bildern einfach nicht mehr zusammenpasst.

Auch Ukraine nicht zimperlich

Für viel Aufmerksamkeit sorgte ein Video des russischen Militärs, das offenbar den Beschuss eines Einkaufszentrums in Kiew mit acht Toten rechtfertigen soll. Dabei ist in der Nähe des Einkaufszentrums offenbar ein Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem zu sehen. Die Botschaft lautet, dass es sich keineswegs um ein rein ziviles Ziel handelt, das zerbombt wurde – die Ukraine hätte in dem Gebäude zudem Raketen versteckt.

Das Arbeiten mit Bildern ist wohl dem Erfolg des ukrainischen Informationskriegs geschuldet, der ebenfalls wenig zimperlich geführt wird. Hier sind Übertreibungen zu finden, teilweise werden ältere Bilder als neue verkauft – und auch der Umgang mit getöteten oder gefangen genommenen Russen ist teilweise jenseitig. „Im Informationsnebel“ des Krieges lässt sich auch hier vieles, was behauptet wird, nicht belegen. Ganz große Propagandalügen wurden allerdings noch nicht entlarvt.

Deep Fakes und platte Lügen

Bei Russland teilweise schon: So wurde behauptet, Bilder von der bombardierten Geburtsklinik in Mariupol seien gestellt, weil eine Frau – eine bekannte Influencerin – in unterschiedlichen Posen zu sehen gewesen sei. Es handelte es sich hingegen um zwei unterschiedliche Frauen – von denen eine nach dem Angriff gemeinsam mit ihrem Neugeborenen den erlittenen Verletzungen erlag.

In Umlauf gebracht wurden zudem Deep-Fake-Videos, in denen etwa dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski eine Kapitulationserklärung in den Mund gelegt wurde. Platte Lügen und haarsträubende Verschwörungsmythen – wie sie etwa in einigen der deutschsprachigen Telegram-Kanäle der Querdenker und CoV-Impfgegner verbreitet werden – können recht einfach entlarvt werden. Doch erfolgreicher im Sinne der russischen Propaganda sind solche Inhalte, bei denen es zumindest Indizien gibt, die auf einen wahren Kern hindeuten könnten. Denn dann werden sie auch öfter weltweit von dadurch beeinflussten, realen Personen weiter verbreitet.

„Erfolgreiche“ Biolabor-These

So unterstellte Russland der Ukraine zunächst eher erfolglos, Nukleartechnologie für Atomwaffen zur Verfügung zu haben. In einem zweiten Schritt wurde dann die These in die Welt gesetzt, das Land würde mit Hilfe der USA in geheimen Laboren Biowaffen herstellen. Ähnliche Vorwürfe hatte Russland früher schon mehrmals gegen andere Länder, etwa Georgien und Kasachstan, erhoben. Dennoch funktionierte dieser Plan besser, da es tatsächlich – wie in jedem Land – Labore gibt, die in Kontakt mit den USA stehen. Die haben allerdings laut allen vorhandenen Informationen nichts mit Biowaffen zu tun.

Doch eine aus dem Zusammenhang gerissene Aussage der US-Staatssekretärin Victoria Nuland ließ die Spekulationen wachsen, in Kombination mit einer Falschmeldung über angeblich schnell gelöschte Unterlagen auf diversen Websites. Quasi als Kronzeugen werden dann noch einschlägige US-Stimmen zitiert, etwa ein Fox-News-Fernsehmoderator, der vor laufenden Kameras die Frage stellte, wieso die USA eigentlich die Ukraine unterstützen und nicht Russland. Auch die aus Hawaii stammende US-Demokratin Tulsi Gabbard, die seit Jahren für russlandfreundliche Töne bekannt ist, wird als Befürworterin der russischen Position verwendet.

Inszenierung von „befreiten“ Menschen aus Mariupol

Zuletzt setzte Russland auch auf Interviews mit angeblichen Bewohnern Mariupols, die dabei behaupteten, sich über die „Befreiung“ durch russische Truppen zu freuen – nachdem sie zuvor von ukrainischen Kampfverbänden quasi als Geiseln gehalten worden seien. Ähnliche Inszenierungen waren in der ebenfalls eroberten Stadt Cherson noch medial gescheitert – mittlerweile konnte die russische Propaganda aber im Netz viel an Boden gewinnen – und mit Schwarz-Weiß-Denken und Übertreibungen einige überzeugen: Neben spanischsprachigen Postings in sozialen Netzwerken ist auch der Anteil der prorussischen in deutschsprachigen Bereich deutlich gestiegen.

Auffällig ist dabei, wie fast immer bei Diskursen in sozialen Netzwerken, dass die Graustufen verloren gehen: Man kann also offenbar nicht durchaus kritisch sein, was die Politik der USA und der NATO in den vergangenen Jahrzehnten betrifft, ohne gleich den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu unterstützen.