Bei einem Sturm umgekippte Bäume liegen quer über eine Straße
APA/Manfred Fesl
Klimakipppunkte

Kettenreaktion alarmierend nahe

Hochwasser im vergangenen Sommer, ausbleibende Niederschläge und damit zahlreiche Waldbrände – das kippende Klimasystem hinterlässt auch in Österreich merkbare Spuren. Doch das könnte nur die Spitze des Eisberges sein. Wird nicht sofort gehandelt, kippt das Klima immer weiter. Satellitendaten aus dem Amazonas-Regenwald und der Antarktis zeigen, dass der Teufelskreis bereits begonnen haben könnte.

„Das Fenster der Gelegenheit, eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern, schließt sich“, so das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) in seinem sechsten Sachstandsbericht. Entscheidend für das „Fenster der Gelegenheit“ sind vor allem auch die Klimakipppunkte.

Denn diese drastischen Klimaveränderungen könnten ab einem gewissen Punkt zu unaufhaltsamen Kettenreaktionen führen, durch die sich die Erderwärmung unkontrollierbar verstärken würde. Schon im Jahr 2000 identifizierte der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber erstmals Klimakipppunkte als solche.

Kipppunkt bereits unter zwei Grad

Im dritten IPCC-Bericht 2001 wies Schellnhuber auf diese diskontinuierlichen, irreversiblen und extremen Ereignisse im Zusammenhang mit globaler Erwärmung hin. Zuvor gingen Forschende von linearen Veränderungen aus. Auch rechnete das IPCC 2001 noch damit, dass diese Punkte bei einer Erwärmung von fünf Grad im Vergleich zum Durchschnitt des vorindustriellen Zeitalters 1850–1900 erreicht werden.

Doch heute ist klar: Bereits eine Erwärmung zwischen ein und zwei Grad lässt das Klima kippen – manche Gebiete sind bereits an diesem Punkt angelangt. Seit dem vorindustriellen Zeitalter erwärmte sich die Erde um rund 1,2 Grad. Mit den aktuell implementierten Klimaschutzmaßnahmen könnte die Erderwärmung bis 2100 auf 2,9 Grad steigen – mit gravierenden Folgen.

Grafik zu den Szeneren der Erderwärmung bis 2100
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: climateactiontracker.org

Unaufhaltsamer Dominoeffekt

Warum die Klimakipppunkte so eine entscheidende Rolle spielen, ist leicht erklärt. Es gibt einen Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt. Ähnlich dem Anstoßen eines Dominosteines lässt sich die in Gang gesetzte Kettenreaktion nicht mehr stoppen oder rückgängig machen, wenn sie einmal angefangen hat.

Mit jedem fallenden Stein fällt wieder ein Stein und so weiter. Wann die Grenze der Irreversibilität in den jeweiligen Gebieten überschritten ist, lässt sich aber nur schwer im Detail prognostizieren. Denn sobald ein Kipppunkt eines Systems überschritten ist, ordnet sich das System neu – so auch das Klimasystem.

„Es gibt verschiedene Arten von Kipppunkten“, erklärt Georg Kaser, Klimaforscher und Professor im Ruhestand an der Universität Innsbruck. Manche würden isoliert zusammenbrechen, andere seien anstoßend für andere Kipppunkte und dann möglicherweise für das gesamte Klimasystem. „Kleinere Kipppunkte, die zwar nicht so relevant für das Gesamtklimasystem sind, sind bereits gekippt. Eine Reihe anderer, die relevant sind für das Gesamtklimasystem, sind schon im Alarmzustand.“

Wesentliche globale Klimakipppunkte

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) teilt die bisher bekannten Kipppunkte in drei Kategorien: Eiskörper, Ökosysteme und Strömungssysteme, wie in der Karte oben zu sehen ist. Per Mausklick sind weiterführende Informationen zu den Punkten ersichtlich.

Rückkoppelungseffekte als Teufelskreis

Überschreitet ein Gebiet seinen Kipppunkt, löst das Rückkoppelungseffekte aus. Im Falle der schmelzenden Eiskörper treibt die Albedo-Rückkoppelung die Erderwärmung und Eisschmelze noch weiter voran: Denn der Verlust der hellen Eisflächen führt dazu, dass weniger Sonnenlicht reflektiert wird.

Somit ist der Eisverlust Folge und Teil der Ursache der Temperaturerhöhung. Das bedeutet auch: Je mehr Gebiete kippen, desto schneller kippen auch andere, denn desto schneller schreitet die Erderwärmung voran.

Ein Beispiel ist etwa der antarktische Eisschild, der im Westen teilweise schon einen Kipppunkt erreicht haben dürfte. Auch im Osten der Antarktis brach kürzlich ein riesiger Eisberg – etwa in der Größe Roms – vom Festland weg. Denn nicht nur die Luft, sondern auch die Ozeane erwärmen sich. Dieses wärmere Meerwasser höhlt das antarktische Schelfeis am Rande des Inlandeises von unten aus. Das Eis wird folglich dünner und bricht weg.

Seit 2002 schrumpfte die antarktische Landeismasse um rund 152 Gigatonnen pro Jahr – mit schwerwiegenden Folgen. Bricht das antarktische Schelfeis weg, fehlt dem Inlandeis eine wichtige Barriere. „Wenn das Eis wegfällt, werden die großen Auslassgletscher schneller fließen und in kürzerer Zeit mehr Eis aus dem Inland herausbringen“, so Kaser. Es bricht immer mehr Eis in kürzerer Zeit weg und der Meeresspiegel steigt.

Aber nicht nur das. Der Zufluss des geschmolzenen Eiswassers hat auch Auswirkungen auf globale Meereszirkulationen, zum Beispiel auf den nordatlantischen Strom. „Eine weitere Verlangsamung bedeutet für Europa extremere Hitzewellen im Sommer und stärkere Winterstürme“, erklärt Marc Olefs, Abteilungsleiter für Klimaforschung an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG).

Kollabierende CO2-Speicher

Klimakipppunkte wie etwa der Amazonas-Regenwald drohen zudem Unmengen an Treibhausgasen freizusetzen. Denn die „grüne Lunge“ der Erde ist ein riesiger Kohlenstoffspeicher. Zwischen 80 und 120 Millionen Tonnen CO2 speichert das Ökosystem.

Durch Brände oder Abholzungen werden diese Mengen an CO2 freigesetzt. Je mehr Regenwald verschwindet, desto weniger besitzt er außerdem die Fähigkeit, sich wieder zu regenerieren. Satellitendaten zeigen, dass dieser Prozess bei mehr als drei Viertel des Gebietes bereits begonnen habe, analysierte ein britisch-deutsches Forschungsteam in der Fachzeitschrift „Nature“.

Ebenso durch Abholzung und Brände bedroht sind die nördlichen Nadelwälder, auch Borealwälder, die von Wald- und Buschlandschaften verdrängt werden könnten. Und auch die zunehmend tauenden Permafrostböden könnten sehr große Mengen an Treibhausgasen freisetzen, die im üblicherweise permanent gefrorenen Boden seit Jahrtausenden gespeichert sind.

Österreichische Kipppunkte?

Kippende Systeme – wenn auch kleinere und nicht mit denselben globalen Auswirkungen – gibt es auch in Österreich. „Zwei Beispiele wären die Alpengletscher und der Absinkeffekt der Schneefallgrenze“, so Olefs.

Sollten die Alpengletscher eines Tages gänzlich verschwinden, habe das auf die Wasserversorgung allerdings keine gravierenden Folgen, erklärt Kaser. „Viel wichtiger für die Versorgung ist, dass die Winterschneedecke intakt ist.“ Doch auch die Schneefallgrenze verschiebt sich – sowohl zeitlich als auch räumlich.

Gletscherschmelze in Österreich von 1969 bis 2015

Besonders in tiefen Lagen schneit es deutlich weniger. „Im Herbst beginnt der Winter später und im Frühjahr hört er schneller auf.“ Diese Entwicklung habe für den Wasserhaushalt negative Einflüsse. Solche Prozesse seien zwar global gesehen keine Kipppunkte, aber im Kleinräumigen würden sie als solche identifiziert werden müssen.

Gretchenfrage Emissionen

Gewissermaßen des Pudels Kern in puncto Ursachenbekämpfung der Klimakrise sind die Treibhausgasemissionen. Nicht zuletzt durch den Ukraine-Krieg und die damit verbundene Suche nach Alternativen zu russischem Erdgas wird sichtbar, wie schleppend Antworten auf diese Gretchenfrage umgesetzt werden.

„Wir können nichts anderes tun, als den Energieverbrauch zu reduzieren, um den Ausstoß von Treibhausgasen sehr schnell auf null herunterzufahren“, so Kaser. Das gilt auch für Österreich.

Mit rund 80 Millionen Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr ist Österreich zwar in absoluten Zahlen ein vergleichsweise kleiner Emittent. „Aber kleine Emittenten spielen eine große Rolle. Zusammen machen sie knapp 40 Prozent der globalen Emissionen aus“, so Olefs. Auch Österreichs Rolle beim Klimaschutz innerhalb der EU sei aufgrund des Zuschauereffektes sehr wichtig. So kann das Agieren gegen Treibhausgasemissionen für andere Staaten motivierend wirken, um ebenfalls Maßnahmen umzusetzen.

Maßnahmen „reichen bei Weitem nicht“

Pro Kopf sanken die Treibhausgasemissionen in Österreich in den vergangenen Jahren nur sehr langsam. Dazu kommt, dass der Wert mit rund 9,8 Tonnen 2018 deutlich über dem weltweiten Durchschnitt von 6,7 liegt. Auch der EU-Schnitt ist mit rund 8,9 Tonnen pro Kopf niedriger als Österreichs Emissionsausstoß.

Die Maßnahmen, die derzeit gesetzt werden, reichen „bei Weitem nicht“. Zwar werde einiges getan, „aber nicht in Hinblick auf das, was es klimatisch zu vermeiden gilt“, so Kaser: „Der ‚European Green Deal‘ in seiner jetzigen Fassung kommt 20 Jahre zu spät.“

Für die Umsetzung der globalen Klimaschutzmaßnahmen müsse die Politik den Rahmen schaffen, sagt auch Olefs. Aufseiten der Symptombekämpfung sei es gleichzeitig notwendig, die Folgen der Erderwärmung der nächsten 20 bis 30 Jahre abzumildern: „Zum Beispiel mobiler Hochwasserschutz, klimafitte Baumarten und Getreidesorten sowie klimagerechte Stadtplanung.“

Immer häufiger werden Klimaforscherinnen und -forscher daher selbst zu Aktivistinnen und Aktivisten. Vergangene Woche etwa wurden zahlreiche Forscherinnen und Forscher bei einer weltweiten Aktion der Initiative Scientist Rebellion in mehreren Städten verhaftet. Darunter auch Peter Kalmus, Klima- und Datenwissenschaftler bei der NASA.

„Wenn alle kommen sehen würden, was ich sehe, würde die Gesellschaft in einen Klimanotstand übergehen und aus fossilen Brennstoffen aussteigen“, schreibt Kalmus in einem „Guardian“-Kommentar.

Auch soziales Klima kippt

Langfristige Veränderungen durch die Klimakrise gehen auch Hand in Hand mit Veränderungen im sozialen Klima. Denn „die größten Opfer werden von denen getragen, die die wenigste Schuld haben. Das sind die ärmsten Länder und Menschen“, so Kaser. Auch in Österreich werde es die Schwächsten zuerst treffen. Rund 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen seien weltweit bereits „sehr anfällig“ für die Folgen der Klimakrise, berechnete das IPCC.

Grafik zeigt Daten zum Klimafußabdruck nach Einkommen weltweit
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Nature Sustainability

Und auch Österreich wird „mitkriegen, wenn Hunderte von Millionen Menschen in absehbarer Zeit in immer mehr Gegenden auf der Erde ihre Lebensgrundlage verlieren“. Dann werde das global gesehen auch das wirtschaftliche System ganz massiv strapazieren. Ökologische, soziale und physikalisch-klimatische Aspekte seien zusammenhängend. „Aber die haben alle wir – das erste Weltverhalten der letzten 200 Jahre – gemacht.“