Russicher Präsident Wladimir Putin bei einer Militärparade
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Kreml-Führungszirkel

Brisanter Rücktritt zeigt Brüche auf

Bisher schien die Loyalität des Führungszirkels rund um den russischen Präsidenten Wladimir Putin gefestigt. Doch es deuten sich Risse an: Mit Anatoli Tschubais ist am Mittwoch ein langgedienter Kreml-Politiker und Sonderberater Putins zurückgetreten. Berichten zufolge setzte er sich mit seiner Frau in die Türkei ab. Tschubais ist die bisher höchstrangige Persönlichkeit, die Russland seit Beginn der Invasion den Rücken kehrt. Zudem mehren sich Gerüchte über verdächtigte Abwesenheiten rund um Putin.

Beobachter sehen im Rückzug Tschubais’ einen Abgang mit Signalwirkung. Der 66-Jährige hat lange zentrale Positionen im russischen Politikapparat besetzt. Er gilt als Architekt der postkommunistischen Reformen in den 1990er Jahren und hatte maßgeblichen Anteil an den bis heute umstrittenen Privatisierungen. Unter Putins Vorgänger Boris Jelzin bekleidete der Liberale das mächtige Amt des Leiters der Präsidialverwaltung und zog von dort aus die Fäden. Anschließend ging er in die Wirtschaft, war unter anderem Vorsitzender des halbstaatlichen Stromkonzerns EES Rossii.

Im Dezember 2020 hatte Putin ihn überraschend zum Sonderbotschafter für die nachhaltige Entwicklung Russlands ernannt. Das Amt wurde eigens für ihn geschaffen. Bereits damals war über die Hintergründe dieser Versetzung auf einen relativ einflussarmen Posten spekuliert worden, verwiesen wurde aber auf Tschubais’ enge Verbindungen in den Westen. Immer wieder fiel er auch mit Kritik am Kreml auf, kürzlich veröffentlichte er etwa ein Foto des 2015 im Zentrum Moskaus ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow.

Kreml-Berater Anatoly Chubais
Reuters/Evgenia Novozhenina
Tschubais soll sich in der Türkei befinden

Auch der Kreml bestätigte Tschubais’ Rücktritt, dieser sei „freiwillig“ erfolgt. Seine angeblich dauerhafte Ausreise sei seine „persönliche Angelegenheit“. Tschubais gab keine Erklärung zu seiner Entscheidung ab. Seine Frau, die Drehbuchautorin Awdotja Smirnowa, hatte jüngst einen offenen Brief russischer Aktivistinnen und Aktivisten gegen den Krieg unterzeichnet. Laut „Washington Post“ sei Tschubais’ Rückzug ein Signal für „die Beunruhigung, die viele in Russlands urbaner, wohlhabender Klasse“ angesichts Putins Krieg verspürten.

Ausreisebeschränkungen für Abgeordnete

Dass andere Politiker und Politikerinnen Russland verlassen, scheint der Kreml hingegen verhindern zu wollen. Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei Geeintes Russland dürfen das Land ohne Sondergenehmigung nicht mehr verlassen. Eine solche Erlaubnis müsse vom Fraktionschef erteilt werden, hieß es am Mittwoch laut der staatlichen Agentur Ria Nowosti. Diese Entscheidung habe die Fraktion allerdings bereits vor Monaten getroffen, meinte er. Betroffen seien ausschließlich Duma-Abgeordnete von Geeintes Russland.

Verteidigungsminister seit fast zwei Wochen abgetaucht

Diese Entwicklungen werden zunehmend als Indikatoren dafür gesehen, dass die Entwicklungen im Ukraine-Krieg auch in Russland für Unruhe sorgen. Zudem verbreiten sich Gerüchte über auffällige Abwesenheiten in der obersten Führungsebene.

Für Rumoren sorgt derzeit vor allem die Abwesenheit des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu. Der eigentlich äußerst medienpräsente Minister wurde seit zwölf Tagen nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Als letzter bekannter Auftritt gilt eine Auszeichnungsverleihung, ein Video von dieser datiert auf den 11. März. Gemeinsam mit Putin wurde Schoigu zuletzt am 27. Februar gesehen, also wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine. Laut einer russischen Investigativplattform sollen die offizielle Begründung für Schoigus Abwesenheit Herzprobleme sein.

Der Kreml versuchte am Mittwoch, die Gerüchte zu zerstreuen. „Der Verteidigungsminister hat im Moment viel zu tun“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Es sei nicht die Zeit für Medienauftritte. „Das ist durchaus verständlich.“ Auch die Berichte über angebliche Herzprobleme wies er zurück. Der Kreml veröffentliche zudem in Staatsfernsehen ein kurzes Video von Schoigu. Das Verteidigungsministerium teilte weiters mit, Schoigu habe Putin über den Kriegsfortschritt unterrichtet.

Experten sehen Minister in Bedrängnis

Die „New York Times“ berichtet allerdings unter Berufung auf den russischen Militärexperten Andrej Soldatow, dass Schoigu aufgrund der Rückschläge für Russland im Ukraine-Krieg in Bedrängnis geraten sein könnte. „Der Krieg hat gezeigt, dass die Armee schlecht kämpft“, so auch der russische Militäranalyst Pawel Lusin zur „New York Times“. „Der Verteidigungsminister ist dafür verantwortlich.“

Der 66-jährige Schoigu galt bisher als enger Vertrauter Putins – die beiden machten sogar gemeinsam Urlaub. Wie der Analyst Soldatow im „New Yorker“ sagte, soll Schoigu zu denen wenigen Personen gehört haben, mit denen sich Putin zuletzt noch ausgetauscht habe. Mit seinen 30 Jahren in der russischen Politik verfügt er über beträchtlichen Einfluss.

Berichte über „Hexenjagd“

Britische Medien berichteten zuletzt, dass Putin derzeit ohnehin in seinem inneren Zirkel nach den Verantwortlichen für die militärischen Misserfolge in der Ukraine sucht und sich dabei in einer regelrechten „Hexenjagd“ befinden soll. Unter Druck stehen soll dabei unter anderem Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs und damit erster Stellvertreter des Verteidigungsministers. Auch er trat länger nicht mehr öffentlich auf.

Zerwürfnisse soll es aber auch zwischen den Nachrichtendiensten und der Staatsspitze geben, denn unzureichende Geheimdienstinformationen über die Lage in der Ukraine dürften laut Analysten maßgeblich zu Russlands Verlusten beitragen. Damit scheint auch der Druck auf die Dienste zu wachsen. Jüngst berichtete das Portal Medusa mit Sitz im lettischen Riga, dass der Leiter der für Auslandseinsätze zuständigen Abteilung 5 des Inlandsgeheimdienstes FSB, General Sergej Besseda, und sein Stellvertreter Anatoli Boluch unter Hausarrest gestellt worden seien. Anderen Angaben zufolge sei Besseda zwar verhört worden, aber noch im Dienst. Boluch wurde den Angaben zufolge entlassen.

Der FSB sorgte zuletzt auch in einem anderen Zusammenhang für Schlagzeilen: Das ukrainische Verteidigungsministerium behauptete jüngst, dass in der russischen Elite ein Putsch gegen Putin erwogen werde und man den General und FSB-Chef Alexander Bortnikow zum Nachfolger auserkoren habe. Der Wahrheitsgehalt lässt sich nicht überprüfen, die Behauptung dürfte aber vor allem auch darauf abzielen, in Russlands Führung weiter Zwietracht zu säen. Auch Bortnikow gilt als loyal. Er befand sich bereits vor Kriegsbeginn im Zusammenhang mit dem Giftanschlag auf Alexej Nawalny auf einer Sanktionsliste der EU.

Angst und Loyalität

Öffentlich zeigen sich die Bruchlinien innerhalb des Führungszirkels derzeit noch nicht, so Fachleute. Das sei allerdings auch keine Überraschung, sagt etwa Ben Noble, Professor für russische Politik am University College London und Mitautor eines kürzlich erschienenen Buches zu Nawalny, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. „Wladimir Putin hat ein System kultiviert, in dem er von Super-Loyalisten umgeben ist, die seine Weltsicht eines Westens, der Russland zerstören will, teilen, oder von solchen, die zu viel Angst haben, ihre abweichende Meinung zu äußern.“

Putin hat bisher keinen Zweifel daran gelassen, dass er hart gegen Kritikerinnen und Kritiker und „westfreundliche“ Russinnen und Russen im eigenen Land vorgehen will. „Die russische Bevölkerung wird immer in der Lage sein, wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern zu unterscheiden, und sie einfach wie Fliegen, die zufälligerweise in den Mund geflogen sind, ausspucken“, sagte Putin vergangene Woche. Ähnlich scharfe Worte wählte auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow: In Russland würden sich viele Menschen als „Verräter“ entpuppen. Er deutete auf diejenigen, die ihre Jobs aufgäben und das Land verließen.