Marlene Streeruwitz im Garten ihres Hauses
Wolfgang Paterno / picturedesk.com
Streeruwitz

„Krisen offenbaren unseren Selbstbetrug“

„Die Pandemie hat unsere Selbstflucht schonungslos offengelegt“, sagt die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in einem ausführlichen ORF.at-Interview zum Stand der Gesellschaft. Auch den momentanen Ukraine-Krieg sieht sie als eine Form des Ausgeliefertseins an narzisstisch gestrickte Eliten. Dringend sollten die Menschen die demokratische Kontrolle über ihr Leben wiederherstellen. Und auch in einer Gesellschaft der täglichen Mitbestimmung leben. Die Öffentlichkeit habe man privatisiert, mit den Folgen, dass das Büro und der Ort des Wohnens zu einer Einheit zusammenfielen – und wir „in einem Dauerstress gehalten werden“.

Geplant war ein ausführliches Interview mit Marlene Streeruwitz zu den Folgen der Pandemie und dem Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit. Doch bevor das Gespräch fertig verschriftlicht war, begann der Ukraine-Krieg, und es drängten sich noch mehr Fragen an die Autorin auf. Streeruwitz sieht beide Krisen als Ausdruck für eine Situation, in der Menschen klein gehalten werden. Und über Jahrzehnte mitgemacht haben, sich klein halten zu lassen. Schonungslos geht sie mit der scheinbaren Euphorie der 1980er und 1990er Jahre ins Gericht, die dazu geführt habe, jede Form der Mitbestimmung abzudrängen. Ja, man habe sogar das Private insofern privatisiert, als man auch in diesem Bereich in der Pandemie zeigte, dass das Wirtschaftssystem weiterlaufe. „Unsere kleinen Fluchtmöglichkeiten haben sich als das herausgestellt, was sie sind. Wir sind erwischt, habe ich den Eindruck“, sagt die Autorin.

Im Mai will Streeruwitz alle Erfahrungen der letzten zwei Jahre, aber auch der gegenwärtigen Wochen in Buchform aufgeschrieben haben. Das Interview liest sich wie ein Rahmen und eine Rahmung dieser Arbeit.

Das gesamte Interview

Frau Streeruwitz, wie geht es einer Gesellschaft, die permanent mit Meta-Narrativen der Angst zu leben hat? Zuerst ist unser Leben von SARS-Covid bedroht, jetzt lauert im Hintergrund die Atombombendrohung Putins. Was macht das mit uns?

Streeruwitz: Es werden Metaschicksale dekretiert, die unsere Kleinrealitäten außer Kraft setzen. Die Macht über uns wird offenkundig. Das Metaschicksal setzt unsere Rechte und auch die Pflichten aus und lässt uns den Stress des Ausgeliefertseins als Beschäftigung. Es sind psychotische Welten, in die wir da verfrachtet werden, und es wäre der richtige Zeitpunkt, sich gemeinsam diesem Ausgeliefertsein zu entziehen. Zum Beispiel in einer Durchsetzung von Klimapolitik, die die Welt nicht als Besitz von Eliten betrachtet, sondern sich den demokratisch aufgefassten Grundrechten aller widmet. Das wiederum hieße, das Leben darin ernst zu nehmen, dass die natürlichen Ressourcen nicht dem kapitalistischen Prinzip der Profitmaximierung unterworfen werden können. Unsere Rede muss dann „grün-grüner-grün“ heißen. Der Superlativ muss aus dem Spiel genommen werden.

Bücher zum Thema

„So ist die Welt geworden“ ist beim Wiener Verlag Bahoe Books erschienen. Im Mai 2022 erscheint von Streeruwitz auch bei Bahoe: „Handbuch gegen den Krieg“.

Wie stellt sich für Sie innerhalb dieser zwei fundamentalen Krisen das Verhältnis von Politik und Bevölkerung dar?

Ich fände die Ruhigstellung des einen Prozents an Elite einen guten Schritt, sich des Prinzips solcher Maximierung in narzisstischen Persönlichkeitsstörungen der Eliten zu entledigen. Wie wir eben demokratische Kontrolle über unsere Umstände herstellen sollten. Das wiederum hieße, das demokratische Verantwortungssubjekt geworden zu sein. Das wiederum ist in den Umständen unserer Beschulungen, die wir gerade erleben, sehr schwierig. Wir müssen ja unsere inneren Welten neu denken, wenn die Welt insgesamt gedacht werden muss zu ihrem Weiterbestehen. Natürlich sollten wir zu so einem demokratischen globalen Handeln längst fähig sein und deshalb alle diese Krisen jetzt gar nicht erlebt haben. Dass Angst beherrschend eingesetzt werden kann, muss umfassend kulturell bekämpft werden. Wir müssen uns selbst retten. Die Eliten werden uns zu ihrem Erhalt weiter von einer psychotischen Situation in die nächste taumeln lassen. Soviel ich sehe, steht ja auch ein ordentlicher Wirtschaftscrash ins Haus, damit wir wie nach der Krise 2007/2008 wieder die Scherben für diese Eliten aufsammeln und bezahlen dürfen. Stress. Es ist Dauerstress, in dem wir gehalten werden.

Cover von zwei Streeruwitzbüchern
heid/ORF.at
Zwei Streeruwitz-Bücher aus der Pandemiezeit

„So ist die Welt geworden“ heißt Ihr letztes Buch. Deshalb zu Beginn die Frage: Wie ist die Welt denn geworden? Wie stellt sie sich dar nach diesem dritten Winter des Zurückgezogen-worden-Seins?


Streeruwitz: 
Das Interessante ist ja, dass dieses „so“ in „So ist die Welt geworden“ eine Basis hat, von der wir alle wissen. Und dann differenziert sich das aus. Und dieses „so“ ist, glaube ich: grau, blass, ohne Anregung, passiv, ein vorkranker Zustand oder ein nachkranker Zustand und beraubt. Aber alles flach. Das ist das Erstaunlichste: Du kriegst ja keine richtige Wut mehr, du kriegst keine richtige Depression mehr. Alle Lebensäußerungen werden nicht mehr so richtig. Auch die Freude nicht. Das heißt, es ist wie ein Schimmelpelz über allem. Das ist jetzt die wissenschaftlichste Möglichkeit, das zu beschreiben, denn alle anderen Kriterien würden dieses „So ist es“ nicht wirklich erfassen können. Ich schreibe ja gerade einen Roman, der im nächsten Mai spielen wird. Das heißt, ich mache jetzt all diese Umkreisungen - und dann im Mai stelle ich fest, was es ist.

Diesen Mai also?

Dieser Mai, ja. Das ist neu. Das hätte ich davor nicht gekonnt, weil die Zeit noch nie so zur Verfügung gestanden ist. Weil sie uns weggenommen wurde in der Verstaatlichung der Lockdowns.

Ihr letztes Buch ist wie eine Netflix-Serie getaktet. Sie haben auch sehr früh über diese Pandemie und das Ich in dieser Pandemie zu schreiben begonnen. Und rasch liest man in diesem Text vom „Gleich-gemacht-Werden“. Deckt sich das mit der Beschreibung vom Flachen und Grauen?

Ja. Eingeebnet. Und der Eigenschaften beraubt, die die Autonomie ausmachen. Also die Autonomie einer Person, so wie ich lebe, ist natürlich einfach hinauszugelangen aus dem Haus, in die Welt, herumzureisen, den Zufälligkeiten zu begegnen. Das ist alles weg. Das ist alles nicht mehr vorhanden. Wir sind auch verändert. Und da bin ich nicht ganz sicher noch, was das eigentlich ist. Deshalb muss ich diesen Roman unbedingt jetzt schreiben, um dahinterzukommen. Das ist ja eine Forschungsmöglichkeit.

Es gab Stimmen, die meinten, nach der Pandemie kämen die Roaring 20’s. Momentan erlebe ich aber alles sehr gedämpft, noch dazu kam ja mit dem Ende der Pandemie der Anfang eines Kriegs.

Das wird wahrscheinlich generationsabhängig sein. Ich hoffe, dass jüngere Leute die Roaring 20’s noch einmal erwischen. Diese Grund-Melancholie, die uns gerade prägt, ist ja nicht sehr lebenslustig. Es muss nicht unbedingt ein Roaring sein, aber eine Art von Lebensfreude brauchen wir zurück, auch die Abenteuerlichkeit im Alltag, die wir ja eigentlich gewohnt sind. Das, was Alltagserotik bedeutet und Sinnlichkeit. Dass das zurückerobert werden kann, meinetwegen mit Charleston, ist okay. Meine größere Sorge aber sind die Verluste, die zu verzeichnen sein werden. Es wird kein Theater mehr geben, so wie es das einmal gegeben hat. Alle kulturellen Äußerungen, von denen wir früher ausgehen konnten, werden verändert sein, beziehungsweise verschwinden. Es wird eine völlig andere Welt sein.

Marlene Streeruwitz im Bahoe Arthouse
Wolfgang Paterno / picturedesk.com
Marlene Streeruwitz im Bahoe Arthouse, wo auch das Gespräch mit ORF.at stattfand

Ist diese Lücke zu füllen? Oder gibt es ein Verschwinden ohne Wiederkehr?


Ich beobachte es an US-amerikanischen Beispielen, weil das von ganz weit weg leichter zu beobachten ist: Es kommen einfach die Versäumnisse der letzten 30, 40, 50 Jahre hervor. Das Theater hat sich nicht selbst neu erfunden, sich nicht politisch und damit unverzichtbar gemacht. Es ist ein Unterhaltungsbetrieb geblieben. Und das ist für die Vorstellung von Öffentlichkeit bestimmter Generationen einfach nicht genug. Broadway zum Beispiel hat große Probleme. Es wurde für eine bestimmte Generation gespielt, ohne einen Gedanken daran, wie nun eine andere Form von Broadway aussehen könnte, etwa eine demokratischere Form mit einem anderen Publikum und völlig anderen Schichtungen. Und die Welt nur einzuteilen in Auftritte, also in analoge Auftritte, die sehr teuer sind, und mediale Auftritte, die mittlerweile auch teuer werden, ist ja zum Beispiel auch schon eine Aufteilung der Welt und des öffentlichen Raums. Wenn ich in Wien in einem Konzert sitze und sehe, dass so ziemlich alle dieselbe Haarfarbe haben wie ich, nämlich Silber, dann frage ich mich, warum ist das nicht anders gelungen. Wir wussten immer, dass das Richtige gemacht werden muss, damit es in der Krise da ist. Und wir haben es nicht gemacht. Wir haben ja auch keine richtige Politik mehr. Wir haben gar nichts, weil in der Krise die Veränderung nicht mehr möglich ist, beziehungsweise wird schlicht Macht ausgeübt, und die Krise soll das legitimieren.

Weil der Begriff von Öffentlichkeit angesprochen wurde. Reiben wir uns auch die Augen, weil Öffentlichkeit nun von einem ganz anderen Eck für sich reklamiert wird?


Ja. 

Kommt das auch vom Gefühl, von den etablierten Betriebsformen abgeschnitten worden zu sein? Wird es neue Formen von Kunst geben, die wieder offener sein wird?

Kunst, wie wir sie gekannt haben, ist ja sowieso schon lange vorbei. Das wissen wir ja auch. Seit den spätestens 80er Jahren wissen wir, dass das der falsche Weg war. Der Kunstmarkt in der bildenden Kunst zum Beispiel hat ganz sicher nicht dazu geführt, dass es eine wirkliche Beteiligung gegeben hat. Es gibt Initiativen, etwa in Berlin zum Beispiel, die das schon auf eine andere Weise angegangen sind. Aber die waren auch abhängig davon, dass Leute aus dem Haus gehen und dorthin kommen. Und es gibt eben nichts, was nach Hause kommt oder vorbeikommt. Jetzt mussten wir draufkommen, dass es auch ohne geht. Ich meine, das ist ja nun eindeutig. Ich habe natürlich überleben müssen, auch ohne dass ich herauskomme. Und das ist ja auch eine Erkenntnis, die sich einarbeitet in alles: dass das Leben auch ohne Kultur geht. Das wirkt unbewusst auf unsere Arbeit. Ob was Neues kommt? Ich weiß es nicht. Ich habe mir immer gewünscht, dass alles anders ist. Aber ob das gerade jetzt unter den Verlusten, die da verzeichnen sind, möglich wird, bezweifle ich. Es wäre ja in den 80er Jahren darum gegangen, dass das, was aus den 70er Jahren gekommen ist, in einer großen und großzügigen Geste zu realisieren. Also zum Beispiel die Beteiligung der Frauen, wirklich ernst zu nehmen. Und hätte Mann das gemacht, wäre die Welt eine andere. Weil die Pflegeberufe zum Beispiel anders bezahlt würden, weil sie gleichberechtigt sind. Und dann hätten wir vielleicht die Pandemie gar nicht. Das ist immer die Geschichte, dieser Zwang, davon auszugehen, dass alles so ist, wie es ist. Wir haben uns das Wissen verstellt und die Möglichkeiten, dass es auch ganz anders hätte sein können. Wir haben es damals nicht bekommen und haben jetzt die Rechnung.

Ich habe damals in einem völlig anderen Stil geschrieben, der für diese Zeit auch richtig gewesen ist. Ich habe mir in einer Art Wutreaktion auf das Übersehenwerden eine andere Form erobert und mir dann diesen winzigen Platz verschafft, sprechen zu können. Aber lieber hätte ich ja eine ganz andre andere Umgebung gehabt. Und habe ja auch die Theaterstücke geschrieben, die das spiegeln. Und die werden nicht gespielt, weil sie nicht diesen konventionellen Vorstellungen, die sich hegemonial gemacht haben, entsprechen. Und das ist ärgerlich. Ich müsste jetzt über etwas sprechen, was ich mir immer vorgestellt habe und angegangen bin und dafür gearbeitet habe. Und sehe heute, was die Folgen des Nicht-erreichen-Könnens sind. Aber ich weiß auch nicht, ob es notwendig ist, dass es Kunst noch gibt.


Was macht das mit dem Schreiben? Es liegt da ein sehr nahe an der erkennbaren Realität geführter Text vor, mit einer Erzählerin, die sich einige virtuelle Gegenüber auf die Pandemiecouch setzt, um einen Diskurs führen zu können? Erzwingt das eine Form von Schreiben, das alle Grenzen sprengt?

Handwerklich würde ich sagen, ich muss alles herholen, was geht. Also ich kann jetzt nicht sagen, das geht mit reiner Lehre oder so. Ich brauche die Vermittlungsebenen wie zum Beispiel die Fernsehserie, weil das schon etwas transportiert, was ich nicht mehr erarbeiten muss, worauf ich aufsetzen und weiter tun kann. Wenn ich zum Beispiel diese Kitsch-Genres verwende, kann ich den ganzen Kitsch mit hereinnehmen und muss ihn aber selbst nicht bedienen und habe ein Spiel damit. Ein gewisses Vergnügen muss ja auch da sein. Das ist auch ein diebisches Vergnügen, muss ich ehrlich sagen. Die Fernsehserie hat ja in gewisser Weise die Literatur ersetzt. Ich denke auch, dass in der Fernsehserie das gesamte kreative Potenzial vom Geschichtenerzählen aufgehoben ist. Ich will einfach wissen, was ist. Ich weiß ja nicht, was da „so“ ist, wie die Welt geworden ist. Das „So“ ist ja in dem ganzen Buch drinnen. Es ist eben nicht mit einem Satz zu erklären, sondern es ist immer nur in der Geschichte drinnen. Für mich ist das ein Rückschritt auf das 16. Jahrhundert, als etwa Naturgeschichte auch wie ein Roman geschrieben wurde. Das heißt, es ist für mich ist das eine Art Wissenschaft, eine Erforschung der Möglichkeiten anhand einer fiktiven Figur. Ich kann eine Instanz bilden, die nicht mehr ich bin und von der aus diese Geschichte erzählt werden kann. Das ist eine Beobachtungsinstanz, die da natürlich auch ganz andere Dinge herausfindet, als es mir als Person möglich wäre. Und dann wird es interessant.


Marlene Streeruwitz im Bahoe Arthouse
Wolfgang Paterno / picturedesk.com
„Im Grunde genommen ist es fast logisch, dass die neoliberale Zurichtung darin endet, dass wir nur mehr zweidimensional miteinander umgehen und die Öffentlichkeit selber liefern.“

Im 16. Jahrhundert wurde das Wissen mit gewissen Orten in Verbindung gebracht, von denen aus man dieses Wissen abrufen kann. Spielt das eine Rolle?


Ja, und das geschichtlich sicher auch mit der Autonomie der Frau zu tun, die sich ja erst erschreibt, die im Kanon nicht vorkommt. Das ist wahrscheinlich genau der Punkt, wo wie bei Montaigne das allgemeine Wissen mit dem unbenannt Vorausgesetzten, in dem wir leben, verschnitten wird. Das ist die Hebung der genauen Umstände, der Machtverhältnisse, die ja alle tief verborgen in uns arbeiten, an uns und um uns herum. Und wo wir mitmachen.


Sie haben vorher gesagt, die Krise hat nichts, was zu einer Lösung beiträgt. Sondern die Krise verfestigt das, was da ist.
 Geht gerade in der Krise der Politik das Gegenüber verloren? Ist die Politik wie in einem Shakespeare-Stück gefangen, in dem sie das Gegenüber nicht mehr erkennen kann?

Shakespeare liegt da wahrscheinlich gar nicht falsch, weil er ja die Feudalisierung der Macht sieht. Also eine Verfügung über den Bürger und die Bürgerin, die besagt, dass der Körper dem Staat gehört und vom Staat dirigiert wird. Das war zwar immer der Fall, aber es musste nicht so klar gewusst werden. Meine Analyse würde sowieso ergeben, dass die Personen viel klüger waren in ihren Reaktionen und Bewältigung der Krise als die Regierenden. Insofern könnte ein neuer Zusammenschluss der Basis schon etwas Wunderbares sein. Ich sehe nur jetzt nicht große Versuche davon. Es war doch so, dass die Regierten freundlich und nachsichtig dieser Politik gefolgt sind und es viel vernünftiger gemacht haben als die Vorschläge, die von oben kamen. So gesehen ist ja auch hier eine Umkehr festzustellen: Die Erwachsenen sind eigentlich die, die das Volk genannt werden und Spielkinder …


… die Politik?

… im Dauerzorn. In einer Daueranspannung in der krisenhaften Situation und in einer Mischung aus Ärger über die Krise und die Benutzung der Krise diesen Ärger abzureagieren. Dadurch ist noch viel mehr eine angespannte Situation entstanden und keine Souveränität. Die Souveränität war bei den Personen und nicht bei den Regierenden. Und so gesehen gab es da eine Umkehr und ich denke auch, da könnte es schöne Überraschungen geben.

Marlene Streeruwitz im Stadtpark
Wolfgang Paterno / picturedesk.com
Streeruwitz sieht eine Erosion der Gesellschaft, die Mitte der 1980er Jahre eingesetzt hat

Gibt es einen Verbindlichkeitsverlust durch die Pandemie? Gerade auch durch das dauernde Eingesperrtsein zu Hause, gekoppelt aber mit einer dauernden Erreichbarkeit über digitale Kommunikation. Das Zuhause ist ja zum „Homeoffice“ geworden, und Grenzen verschwimmen. Was macht das mit uns?


In gewisser Weise ist das wie Endpunkt von dem, was in den 80er-Jahren begonnen wurde. Im Grunde genommen ist es fast logisch, dass neoliberale Zurichtung, darin endet, dass wir nur mehr zweidimensional miteinander umgehen und die Öffentlichkeit selber liefern, also den öffentlichen Raum schon nur mehr selber liefern können und gar keinen mehr zu betreten habe. Die Privatisierung ist damit endgültig abgeschlossen, indem wir in unseren Zimmern sitzen und gleichzeitig öffentlicher Raum sind.

Haben wir die 80er auch insofern nicht verstanden, weil wir nicht gelernt haben, mit der gesellschaftlichen Breite, die da entstanden ist und sich auch politisch artikuliert hat, umzugehen? Und wie sehr sind heutige politische Fragen auch an die Zugehörigkeit zu gewissen Generationen gebunden?

Na gut, die Fragmentierung der Lager ist ja Absicht. Alle Medien, alles dringt darauf, die Fragmentierung zu vollenden. Das beginnt ja in den 80er Jahren. Meine Erfahrung ist ja, dass ich das Universitätenorganisationsgesetz (UOG) 74 mit erkämpft habe: Das war Drittelparität, das heißt, alle sprechen mit, und 93 wird das dann abgeschafft. Das ist der Weg. Und das wäre jetzt öffentlicher Raum. Der öffentliche Raum ist die Besprechung, die transparente Besprechung aller Agenden, die da laufen. Alle sind beteiligt und müssen sich oder sollen sich beteiligen. Das ist Arbeit, und es erfordert ein Leben, das bewusster sein muss, weil Du ja die ganze Zeit reflektieren musst, was nun richtig wäre, was Du möchtest und was richtig wäre von allen Beteiligten. Dieser öffentliche Raum wäre von didaktischen, pädagogischen, philosophischen, wirtschaftlichen Dingen geprägt – es wäre ein Riesenprojekt, an dem alle beteiligt sind und alle ihre Expertise, ihre Leben mit einbrächten. Und das ist ja das, was wir nicht können, wir sind zwar Experten und Expertinnen in unseren Leben, aber wir können zurzeit überhaupt nichts davon einbringen. Von dem ausgehend, dass der öffentliche Raum geöffnet wird und die Teilnahme daran in einer anderen Form stattfindet, hätten wir heute viel weniger Probleme. Weil wir alle irgendwie in diese Dinge eingespannt wären, selbst wenn wir diese Mitbestimmung nur über Zoom betrieben. Es wäre Mitbestimmung und nicht Arbeit. Anstatt, dass wir uns jetzt in einem entfremdeten Arbeitsprozess befinden, in dem natürlich nichts anderes herauskommen kann als die Hoffnung, dass man sich ausruhen darf.

Ist es nicht paradox, dass wir uns just nach der Wende von 1989 vom öffentlichen Raum verabschiedet haben?

Ja, richtig. Die Deregulierung hat das Öffentliche schrittweise privatisiert. In dieser Pandemie haben wir uns ja angehalten, unsere eigenen öffentlichen Räume offen zu halten. Um auch funktionieren zu können. Ich habe 1973 oder 1974 ein Flugblatt geschrieben, in dem verlangt wurde, dass die Wiener Philharmoniker erstmals Frauen aufnehmen. Die haben ja lieber den entferntesten Japaner aufgenommen als eine Frau von hier. Es ging um das Aufbrechen der Militarisierung unserer Kultur, was sich in diesem Bestehen auf Männlichkeit ausdrückte. Und das sind nur Beispiele, die einen ersten Schritt beschreiben für ein Umsteigen auf etwas anderes. Revolutionen sind schön und wahrscheinlich notwendig, aber ein Umsteigen in eine Demokratisierung stelle ich mir als einen unglaublich spannenden und gedeihlichen Prozess vor, in dem niemand sterben muss, sondern im Gegenteil alle gewinnen. Wir wären heute in einer Welt, in der man das Abenteuer neu erobern konnte, weil es ein Abenteuer ist, solche Dinge zu machen. Stattdessen haben wir eine unglaubliche Langweile und eine unglaubliche Regulierung der Einzelperson. 


Ihre Kritik meint also, wir hätten die Krise besser als Kollektiv bewältigt?


Ich glaube sogar, wir hätten die Krise nicht. Wir hätten ein anderes Gesundheitssystem, eine andere Schichtung der Gesellschaft. Wir würden in einer Welt leben, in der es einen Kosmos der Pflege gibt. Das ist der Raum, in dem die Kinder zur Welt kommen, erzogen werden, lernen, wie sie sich anziehen, waschen und so weiter. Das ist für mich ein öffentlicher Raum, der ganz viele Berufe betrifft. Ein Raum, der das Leben meint. Wir hätten keine solchen Spitäler, wie wir sie haben. Wir hätten andere mit einer anderen Konstruktion. Schweden ist natürlich ein gutes Beispiel dafür, wie dieses Leben ernst genommen wird und die Personen Experten und Expertinnen in ihrem Leben sind, auch als solche behandelt werden. Und hätten wir auch noch Geschlechtergerechtigkeit, denn wären zum Beispiel Pflegeberufe, die als Frauenberufe gelten und unterbezahlt sind, gleich bezahlt wie Ministerialbeamte. Es würde alles ganz anders gelagert sein. Jetzt sind wir doch in der totalen Entfremdung erwischt worden. Jetzt ist dieses Scheinleben, das wir erlaubt bekommen haben, auch noch weg. 


Gibt es neben der Scheinöffentlichkeit dann auch so etwas wie eine Scheinprivatheit?

Nein, ich teile die Welt jetzt in den Kosmos der Pflege ein und den Kosmos des Öffentlichen, und weil ich damit auch der Frage von Mann–Frau entkomme, weil das auch längst anders gewürfelt ist. Es gibt ja auch Pfleger, die unterbezahlt sind. Der Kosmos der Pflege, in dem das Leben eigentlich stattfindet, muss eine neue Wichtigkeit bekommen. Deswegen ist mir auch die Mitbestimmung so wichtig, denn Mitbestimmung bedeutet, dass die Macht anders verteilt ist. Du bist dann nicht zu dieser stillen, hilflosen Existenz verdammt. Jetzt haben wir alle Telefonnummern und E-Mail-Adressen der Institutionen, die unsere Leben regeln, aber wir bleiben in den Warteschleifen hängen.

Wie kommen wir wieder hin zu dieser Kleinautonomie? Und kann die Pandemie Anlass für das Drücken einer Reset-Taste sein? 

Na ja, Reset ist für Herrn Gates. Ich glaube, es geht nicht. Es müsste etwas Größeres, Grundsätzlicheres her, das ich eine Reformation nennen würde, die tiefgehend ist und alle Sinneinheiten erfassend die Frage löst: Was ist denn eigentlich die Person?


In Ihrem Buch kommt man zum Befund, dass jemandem so richtig hart das Glück von außen entzogen wurde.

Na ja, das ist das deutlichste Symptom der Sache. Die Frau in dem Buch ist eine tatkräftige Person, die um alles gekommen ist. Letzten Endes stellt sich heraus, wie alles nicht stimmt. Das stellt sie auch fest. Und sie erkennt, dass unsere kleinen Fluchtmöglichkeiten sich als kleine Fluchtmöglichkeiten herausgestellt haben. Wir sind erwischt, habe ich den Eindruck. 

… weil wir uns permanent selbst überlistet haben …

… ja, der Selbstbetrug, mit all diesen Volten, die wir nehmen, um zu überleben, stellt sich als solcher heraus.

Ist gerade der Ukraine-Krieg jenes Moment, wie 1949, für eine Reformation oder Reform der Gesellschaft.

Gibt es diese „guten“ Momente in der Geschichte? Der Kalte Krieg hat doch zur Zweiteilung der Welt geführt. Es gab bisher immer die anderen, denen es dreckig gehen musste, damit die einen es gut hatten. Eine solche Entwicklung wäre wegen der Klimakrise nur ein weiterer Schritt der Selbstzerstörung, was es bisher ja auch schon immer war. Es waren nur die Schmerzen auf die anderen beschränkt. Damit es aber diesmal nicht so wird, sollten wir auf dieser demokratischen Lösung der Weltprobleme bestehen und daran arbeiten. Auch wenn die einen oder die anderen noch nicht mitmachen. Im Übrigen wissen wir nichts über die jetzigen anderen und es wird noch eines der Gebote der Stunde sein, nicht wieder in dieses strategische Primitivgerede vom „Russen“ und vom „Ukrainer“ oder dem „Europäer“ und dem „Amerikaner“ zu geraten. Und jetzt gerade müssen wir den Flüchtenden beistehen. Es kann doch nicht sein, dass wir mit unserer selbstverständlichen Hilfe dann aber wiederum die Drecksarbeit des Patriarchats erledigen, wie das nun immer schon so war.

Mussten wir lernen, dass nichts mehr selbstverständlich ist?

Freiheit war bisher schon nicht selbstverständlich. So gesehen haben wir nur Steigerungen unserer „Bestaatung“ erfahren. Der Prozess der Verstaatlichung des Bürgers und der Bürgerin und der Bürger beginnt im 18. Jahrhundert als Idee und nimmt postrevolutionär einen immer zwänglicheren Verlauf, der jetzt in der digitalen Kontrollstaatlichkeit einen ersten Abschluss erreicht hat. Wir werden uns darum kümmern müssen, unsere Mitbestimmungsrechte neu zu erkämpfen und zu gestalten. Die Rettung der Welt wird nur gemeinsam gelingen können. Das heißt aber völlig andere Lebensweisen, die das Lebendigsein der Person zum Ziel hat und nicht die Erstarrung in staatliche Datensammlungen und den Folgen davon enden. Wenn es mit uns weitergehen sollen, dann müssen wir uns die Freude am Leben wiedererobern. Demokratie ist die Aufgabe der auktorialen Fantasie. Das gute Leben muss zum schönen Leben werden, das mit den anderen und der Welt als Ressource in Frieden auskommt. Wenn wir es wollen, es kann alles noch schön werden.