Anders gesprochen hat die Türkei ganz bewusst zwischen allen Stühlen Platz genommen. Erdogan kritisiert zwar den Angriffskrieg Russlands, Sanktionen gegen Moskau lehnt er jedoch ab. Für diesen Kurs bekommt Erdogan in der Öffentlichkeit breite Unterstützung.
So sperrte die türkische Regierung zwar den Bosporus und die Dardanellen, also die Verbindung vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer, für russische Kriegsschiffe. Auch forderte Erdogan den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Abzug aus der Ukraine auf. Doch spricht Erdogan auch von fatalen Fehlern der NATO in ihrer Politik gegenüber Russland und von einer westlichen „Hexenjagd“ gegen russische Bürgerinnen und Bürger.
Türkei als sicherer Hafen
Die praktischen Folgen dieser politischen Positionierung sind in türkischen Häfen der Ägäis zu sehen. In Marmaris liegt die 162 Meter lange Luxusjacht „Eclipse“, die dem russischen Oligarchen Roman Abramowitsch gehören soll. Ein paar Buchten weiter, im mondänen Badeort Bodrum, ankert eine zweite Superjacht des Oligarchen – in sicheren Gewässern und nur wenige Seemeilen von EU-Territorium und möglicher Beschlagnahmung entfernt.
ORF-Analyse über „Politspagat“ der Türkei
ORF-Korrespondent Jörg Winter berichtet aus Istanbul über den „Politspagat“, den Türkei übt.
Kofferweise Geld in Privatjets
Ein sicherer Hafen scheint die Türkei auch für undurchsichtige Kapitalströme zu sein, sowohl aus Russland als auch aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien. „Dieses Geld kommt in Koffern, in Privatjets oder Schiffen ins Land. Die Quelle und wie es hierherkommt, wird nicht hinterfragt", sagte der türkische Investigativjournalist Bahadir Özgür im ORF-Interview.
Transparente, legale Investitionen etwa in die türkische Infrastruktur, in Immobilien und Tourismusprojekte vermischen sich mit undurchsichtigen Deals. Die OECD führt die Türkei auf ihrer grauen Liste von Staaten mit schweren Defiziten bei der Bekämpfung internationaler Geldwäsche.

Gelder von zentralasiatischen Oligarchen
„Alle reden nur über Russland. Aber in der Türkei sind es hauptsächlich Investitionen von Oligarchen aus Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan und Aserbaidschan. Sie alle pflegen dennoch enge Beziehungen zu Putin und Russland. Doch fallen sie aufgrund ihrer Herkunft nicht unter die derzeitigen Sanktionen. Deshalb hat die Türkei hier vorerst wenig zu befürchten“, so Özgür, der bereits ausführlich zu den illegalen Geldflüssen recherchiert hat.
Heikle Sonderrolle
Sich selbst an Sanktionen zu beteiligen ist für die Türkei kein Thema. Im Gegenteil: Erdogan hat sein Land geschickt als Vermittler mit guten Beziehungen zur Ukraine und zu Russland positioniert. Eine Rolle, die auch die EU anerkennt, die in der Sanktionsfrage gegenüber der Türkei bisher zumindest ein Auge zudrückt. Doch mehren sich kritische Stimmen. So sprach jüngst der EU-Botschafter in Ankara, Nikolaus Meyer-Landrut, von einem „Balanceakt der Türkei“ und von einem „Spagat, den das NATO-Land Türkei auf Dauer nicht durchhalten kann“.
Im Umgang mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine bekommt das durchaus schwierige Verhältnis zwischen der NATO und dem Mitglied zusätzliches Gewicht. Vor allem der Kauf des modernen russischen Raketenabwehrsystems S-400, das ab Sommer 2019 an die Türkei ausgeliefert wurde, stieß die westlichen Bündnispartner vor den Kopf. Russland war es damit gelungen, innerhalb der NATO Zwietracht zu säen. Die USA reagierten erzürnt und schlossen die Türkei vom gemeinsamen Entwicklungsprogramm für den neuen F-35-Kampfjet aus. Bis heute nahm die Türkei das S-400-System übrigens nicht in Betrieb.

Lavieren zwischen den Linien
Gleichzeitig verkaufte die türkische Rüstungsfirma Baykar seit 2019 rund 50 Kampfdrohnen an die Ukraine. Die Drohnen vom Typ Bayraktar wurden angeblich gegen Separatisten im Donbass eingesetzt und jüngst auch gegen die russische Armee in der Ukraine. Die türkische Regierung hält sich dazu bedeckt. Eine klare Linie vertrat Präsident Erdogan nie. Das entspricht auch der vorherrschenden Einstellung in der Türkei, die Moskau zwar nicht traut, dem Westen und der NATO aber ebenfalls nicht.
Ankaras Syrien-Problem
Dafür gibt es jedoch auch nachvollziehbare Gründe. „Die Türkei tickt anders als die restlichen NATO-Verbündeten. Zusätzlich zur Abhängigkeit von russischen Energielieferungen, die viele europäische Staaten teilen, ist die Türkei auch politisch von Russland abhängig. Und zwar ganz besonders im Nachbarland Syrien und dort in Idlib“, sagt Sinan Ülgen, Leiter von EDAM, einem Istanbuler Thinktank mit Schwerpunkt Außen- und Europapolitik.
Die syrische Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei ist die letzte, die von Rebellen gehalten wird. Russland hält seinen verbündeten Baschar al-Assad dort von einem Generalangriff ab. Die Türkei brauche Russland, so Ülgen, um das zu vermeiden: „Ein Angriff Assads auf die Provinz Idlib hätte eine humanitäre Krise und eine neue, massive Fluchtwelle in unser Land zur Folge. Das wäre für die Regierung kaum mehr zu managen, weil wir die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit mit vier Millionen Syrerinnen und Syrern in der Türkei längst erreicht haben“, so Ülgen.
Türkei zwischen den Stühlen
Das NATO-Mitglied Türkei macht bei den Sanktionen gegen Russland nicht mit. Im Konflikt positioniert sich das Land als Vermittler, sitzt aber zwischen den Stühlen.
Blick auf nächste Wahl
Für Erdogan steht auch persönlich viel auf dem Spiel. Im kommenden Jahr wird gewählt, die Türkei steckt tief in einer Inflations- und Währungskrise. Man braucht russische Touristen, die als größte Urlaubergruppe Milliarden an Devisen ins Land bringen und heuer in großer Zahl ausfallen könnten. „Wenn der Tourismus dieses Jahr wieder in die Brüche geht, dann hat die türkische Regierung kaum noch Chancen, sich an der Macht zu halten. Dann könnte für sie auch die letzte offene Tür zugehen“, zeigt sich der Investigativjournalist Özgür überzeugt.