Zwei Militärschiffe bei der NATO-Übung Cold Response 2022
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Krieg und Klimakrise

Arktis als neuer politischer Brennpunkt

Der Polarkreis galt bisher als friedliche Region, auch wenn dort Einflussbereiche und Interessen aller Großmächte aufeinanderprallen. Doch der Wettbewerb um die Vormachtstellung wird härter: Das infolge der Klimakrise schmelzende Eis öffnet den Weg für deutlich kürzere Schiffsrouten, gleichzeitig wecken Bodenschätze in immensem Ausmaß Begehrlichkeiten. Russlands Einmarsch in die Ukraine bringt das fragile Gefüge endgültig ins Wanken.

Das Szenario für die NATO-Militärübung am Polarkreis ist seit Jahren ähnlich: Norwegen wird von einem fiktiven Land angegriffen, das setzt die kollektive Verteidigungsvereinbarung des Bündnisses in Kraft und führt dazu, dass Truppen der Vereinigten Staaten und von mehr als einem Dutzend Partnerstaaten zur Verteidigung des Landes anrücken. „Cold Response“ („Kalte Antwort“) heißt die multinationale Großmanöverserie, die seit 2006 im zweijährigen Turnus durchgeführt wird – so auch dieser Tage.

Doch dieses Mal wirkt die Übung, die bis zur ersten Aprilwoche läuft und an der rund 30.000 Soldaten und Soldatinnen aus 27 Ländern teilnehmen, angesichts des Ukraine-Krieges erschreckend real. Die Sicherheitslage in der arktischen Region hat sich schlagartig geändert.

Karte zeigt Arktis
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Die Beziehungen zwischen Norwegen und Russland, die eine rund 200 Kilometer lange gemeinsame Grenze haben, hatten sich in der Zeit nach dem Kalten Krieg allmählich verbessert. Der erste Rückschlag kam, als Moskau 2014 die Krim annektierte – häufigere Militärmanöver auf beiden Seiten waren die Folge. Doch trotz konkurrierender wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen galt der Nordpolarraum weiter als friedliche Weltregion.

Arktischer Rat liegt auf Eis

Bei der Kooperation spielte der Arktische Rat eine Schlüsselrolle. In ihm sind jene acht Länder vertreten, die am Polarkreis liegen: Island, Norwegen, Schweden, Finnland, Russland, USA, Kanada und Dänemark. Der 1996 gegründete Rat wurde mehrmals für den Friedensnobelpreis nominiert – unter anderem 2018.

„Die Arktische Region war schon immer ein Ort, wo die Zusammenarbeit zwischen und unter Gruppen nicht nur wünschenswert war, sondern in vielen Fällen notwendig für das Überleben“, hieß es damals in dem Brief, den finnische Wissenschaftler nach Oslo schickten. In dem Gremium würden die acht Anliegerstaaten konstruktiv zusammenarbeiten, obwohl sich das Verhältnis unter ihnen auf anderen Ebenen in den vergangenen Jahren verschlechtert habe. So schlecht wie momentan war es allerdings noch nie.

Das Thema militärische Sicherheit ist zwar ausdrücklich vom Tätigkeitsbereich des Rates ausgenommen, die russische Invasion in die Ukraine hat eine Zusammenarbeit mit Moskau für die anderen Mitgliedsländer derzeit dennoch unmöglich gemacht. „Angesichts der eklatanten Verletzung der Grundprinzipien von Souveränität und territorialer Integrität durch Russland“ werde jegliche Tätigkeit suspendiert, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der sieben Länder Anfang März. Denn ausgerechnet Russland hat den, alle zwei Jahre wechselnden Vorsitz im Rat bis 2023 inne.

NATO-Übung Cold Response 2022
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In den Fjorden Norwegens wird alle zwei Jahre die Verteidigung des Landes geübt – diesmal unter besonderen Umständen

NATO-Chef: „Neue Normalität für Sicherheit“

„Russlands Krieg in der Ukraine ist ein Wendepunkt. Er stellt eine neue Normalität für die europäische Sicherheit und auch für die arktische Sicherheit dar“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Besuch von „Cold Response“. Man habe gesehen, dass Russland bereit sei, grundlegende Sicherheitsprinzipien anzufechten und dafür militärische Mittel einzusetzen. Deshalb müsse man Verteidigung und Abschreckung grundlegend überdenken.

In den vergangenen Jahren, so Stoltenberg, sei eine deutliche Zunahme der russischen militärischen Aktivitäten in der Arktis verzeichnet worden. Russland teste viele seiner marinen Waffensysteme in der Region, die zugleich die Heimat der strategischen U-Boot-Flotte des Landes sei. Außerdem sehe man zunehmende chinesische Interessen in der Arktis. „Aus all diesen Gründen ist der hohe Norden ein Gebiet von entscheidender Bedeutung für alle Verbündeten.“ Ein Sicherheitsvakuum im hohen Norden könne man sich nicht leisten, da das Russlands Ambitionen anheizen könne.

Bodenschätze wecken Begehrlichkeiten

Vulnerabel ist die Arktis auch aus anderen Gründen: Sie erwärmt sich aufgrund der Klimakrise dreimal so schnell wie der Rest der Welt. Das Meereis schrumpft, gleichzeitig öffnen sich die polaren Gewässer für die Ausbeutung der immensen natürlichen Ressourcen in der Region – darunter Öl, Gas und Metalle wie Gold, Eisen und seltene Erden, die in Bereichen von militärischer Ausrüstung bis hin zu erneuerbaren Energien eingesetzt werden. Auch Sand und Kies, den die Bauindustrie braucht, wären dort zu holen.

Der Schiffsverkehr wird sowohl durch den Handel als auch durch den Tourismus zunehmen – laut Prognosen soll die Arktis Mitte des 21. Jahrhunderts eisfrei sein. Das führt zwangsläufig dazu, dass die komplizierten Verträge, Ansprüche und Grenzzonen, die die Region regeln, alle Seiten aufwiegeln. Durch Russlands Einmarsch in die Ukraine wird sich der Wettbewerb um Souveränität und Ressourcen in der Arktis noch deutlich verschärfen.

Gletscher auf Spitzbergen
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Im März war es in der Arktis um 40 Grad wärmer als für diese Jahreszeit üblich

USA und Russland rüsten sukzessive auf

Die Interessen aller Supermächte treffen dort zusammen. Russland, dessen östliches Festland nur 88 Kilometer über die Beringstraße von der Küste Alaskas entfernt liegt, setzt seit Jahren auf eine verstärkte Präsenz in der Arktis, indem es Flugplätze instand setzt, Stützpunkte ausbaut, Truppen ausbildet und militärische Verteidigungssysteme an der Nordgrenze entwickelt, wie die „New York Times“ („NYT“) kürzlich berichtete.

Die USA, die eine lange Seegrenze in der Region mit Russland teilen, prangern die militärische Expansion Moskaus an, arbeiten ihrerseits aber intensiv daran, die in den zwei Jahrzehnten des Krieges im Irak und in Afghanistan vernachlässigten Fähigkeiten im Umgang mit kaltem Wetter bei Einsätzen wieder aufzubauen. Die Air Force verlegte Dutzende von F-35-Kampfflugzeugen nach Alaska und kündigte an, dass der Bundesstaat „mehr moderne Kampfflugzeuge als jeder andere Standort auf der Welt“ beherbergen wird.

China strebt nach „Polarer Seidenstraße“

Auch China investiert seit Jahren gigantische Summen, um als Nicht-Arktis-Staat Fuß fassen zu können. „Infolge der Klimaerwärmung werden die arktischen Schifffahrtsrouten voraussichtlich zu wichtigen Transportrouten für den internationalen Handel werden“, hieß es bereits 2019 in einem „Weißbuch zur Arktis“ aus Peking.

Unter dem Begriff „Polare Seidenstraße“ treibt Peking seine Agenda voran: Neue Seerouten sollen Chinas Schifffahrt von den traditionellen Handelswegen unabhängig machen. Zugleich könnten sie die bisherigen Seerouten nach Europa um Tausende Kilometer verkürzen. Um ihre Ziele zu erreichen, ist die Volksrepublik auf eine umfassende Kooperation mit Russland angewiesen, die Zeichen dafür stehen Fachleuten zufolge gut. Russland suche nach Transitkunden und Abnehmern für seine Rohstoffe – umso dringlicher, je stärker sich die Sanktionen des Westens spürbar machen –, China nach alternativen Handelswegen und Energiesicherheit.

EU vor Zeitenwende

Bleibt noch die Rolle der EU: „In den letzten zehn Jahren hat die Arktis in den Diskussionen über eine strategische europäische Sicherheitsperspektive kaum eine Rolle gespielt“, hieß es jüngst in einem Beitrag auf dem Nachrichtenportal Euractiv. Zu lange sei der arktische Raum, trotz aller divergierender Interessen, friedlich und stabil geblieben.

„Mit dem Einmarsch in die Ukraine wird sich diese Zurückhaltung jedoch ändern, da die nordischen Länder (und infolgedessen die EU) nicht nur mit der zunehmenden Militarisierung durch Russland, sondern auch mit dem wachsenden Interesse Chinas an der Region und dem damit verbundenen Machtkampf mit den USA umgehen müssen.“