Zerstörtes Wohnhaus in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Warum Mariupol?

Putins strategische Zerstörung

Warum zerstört die russische Armee im Ukraine-Krieg ausgerechnet Mariupol? So grausam das auch klingen mag, aus Sicht der russischen Strategie und von Kreml-Chef Wladimir Putin ergibt die Zerstörung der vorwiegend russischsprachigen Stadt mit ehemals 440.000 Einwohnerinnen und Einwohnern militärstrategisch und auch für einen möglichen „Plan B“ Sinn, wie etwa englischsprachige Medien schreiben.

Die drastische Demolierung durch die russischen Streitkräfte passt zur derzeitigen Neugruppierung der russischen Armee ob der offenbar hohen Verluste und diverser anderer Schwierigkeiten, etwa bei den derzeitigen Nachschub- und Versorgungslinien. Die Bilder von Mariupol zeigen eine so gut wie zerstörte Stadt. Für internationale Kritik und Empörung sorgten auch die Attacken und Zerstörung eines Kinderkrankenhauses und des Theaters von Mariupol, wo laut ukrainischen Angaben rund 300 Menschen starben.

Seit Beginn der Belagerung sind einem Sprecher des Bürgermeisters von Mariupol vom Montag zufolge mindestens 5.000 Menschen ums Leben gekommen. Wie die Zahl berechnet wurde, wurde nicht mitgeteilt. Auch sind laut ukrainischen Angaben mehrere tausend Menschen nach Russland deportiert worden. Sie würden laut Kiew als Geiseln Moskaus in dem Konflikt genommen. Wie die Geiseln von Russland eingesetzt werden sollen, ist allerdings unklar.

Menschen stellen sich im zerstörten Mariupol um Hilfsgüter an
Reuters/Pavel Klimov
Menschen stellen sich im zerstörten Mariupol um Hilfsgüter an

Mariupol als Warnung an andere Städte

Mariupol ist laut einer rund zwanzig Jahre alten Erhebung zu 90 Prozent russischsprachig. Deshalb wurde im russischen Staatsfernsehen zu Bildern eines Drohnenflugs über die komplett zerstörte Stadt gesagt, dass „ukrainische Nationalisten“ dafür verantwortlich wären.

Seit der illegalen russischen Annexion der Krim 2014 war die ukrainische Stadt einerseits von den russischen Truppen auf der Krim und den russischen Separatisten in Donezk und Luhansk „eingeklemmt“. Die Gründe für die Bombardierung ausgerechnet einer russisch dominierten Stadt und dabei noch auf zivile Ziele sind aus russischer Sicht offenbar vielfältig. So soll an der Stadt ein Exempel für die gesamte Ukraine und für die ukrainische Führung statuiert werden.

Angst soll mit den Terrormaßnahmen auch in den anderen Städten, etwa in der Hauptstadt Kiew, verbreitet werden. Vergleiche mit der Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny im Tschetschenien-Krieg und Aleppo in Syrien durch die russische Luftwaffe wurden in Medien bald nach den ersten Attacken auf Mariupol gezogen.

„Sie wollen sie auslöschen“

Seit Wochen ist Mariupol eingekesselt und damit so gut wie von der Außenwelt abgeschnitten. Es gibt weder Wasser noch Strom, Lebensmittel sind rar, zivile Infrastruktur ist niedergebombt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski bezeichnete am Montag die Situation in Mariupol als eindeutige humanitäre Katastrophe. Laut Schätzungen sind bereits rund 80 Prozent der Stadt zerstört.

Zerstörtes Wohnhaus in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
In Mariupol wurde auch ein Kinderspital von dem russischen Militär bombardiert

„Es ist klar, dass die Belagerer sich nicht für die Stadt interessieren, sie wollen sie auslöschen, in Asche verwandeln“, sagte die Stadtverwaltung von Mariupol letzte Woche. Immer wieder gibt es für die noch nicht geflohenen, in der Stadt eingeschlossenen Menschen Hoffnung auf Evakuierungen. Doch diese stellen sich immer wieder auch als Chimäre von russischer Seite heraus.

Russische Armee nicht so schnell wie geplant

Ein Teil der Antwort für das Schicksal Mariupols sei, dass sich Putin auch nicht um die russischsprachigen Ukrainer und Ukrainerinnen „schere“, wie die US-Website Intelligencer schreibt. Putin sehe die russischsprachige Bevölkerung nur als lebendes Testament des ehemaligen russischen bzw. sowjetischen Imperiums und leite davon in seiner Ethnienmythologie das Recht Russlands, in der Ukraine zu regieren, ab, schreibt Intelligencer weiter.

Auch scheint sich Putin bzw. die russische Militärführung bei der Eroberung der Stadt verkalkuliert zu haben. Offenbar war geplant gewesen, Mariupol mit einem schnellen Vorpreschen einzunehmen – ähnlich auch die Pläne zur Eroberung Kiews. In Mariupol wurde offenbar gedacht, dass man von der russischsprachigen Bevölkerung als Befreier begrüßt würde. Nachdem das jedoch nicht so gewesen war, setzte die russische Armee auf die Zerstörung der Stadt.

Der russische Präsident Wladimir Putin
Reuters/Kreml/Sputnik/Mikhail Klimentyev/
Der russische Präsident Wladimir Putin am 22. März bei einem Gespräch mit einem Provinzgouverneur

Kampf um Stadt symbolisch aufgeladen

Der Kampf um Mariupol ist für beide Seiten symbolisch aufgeladen. Von der Einnahme der Stadt versprechen sich die russische Militärführung und der Kreml auch einen dringend nötigen Schub für die Kampfmoral der russischen Truppen, schreibt die BBC. Auch war die Stadt bei den Kämpfen von 2014 kurzfristig von ukrainischen Separatisten eingenommen worden, wurde dann aber von der ukrainischen Armee zurückerobert.

Für die Ukraine gilt es hingegen, die Stadt zu halten. Man werde alles tun, um die Einnahme durch die russische Armee zu verhindern und werde bis zum letzten Mann kämpfen, hieß es von ukrainischer Seite kürzlich.

Hauptquartier der Asow-Truppe

Ideologischen Auftrieb bekommt die Zerstörung Mariupols auch durch die Ansage Putins zu Beginn des Krieges, die Ukraine als Kriegsziel „entnazifizieren“ zu wollen. In Mariupol ist das Hauptquartier des Asow-Regiments. Die paramilitärische Freiwilligenmiliz wurde 2014 im Zuge des ersten Konflikts mit Russland bzw. für den Kampf gegen die prorussischen Separatisten in der Donbass-Region von nationalistischen ukrainischen Politikern gegründet. Anführer und auch Mitglieder der Miliz sind oft rechtsextrem bzw. ultranationalistisch und Teilen der Neonazi-Szene zurechenbar. Das Asow-Regiment wurde später auch in die ukrainische Nationalgarde eingegliedert.

War kurz nach der Gründungsphase von einer Stärke von rund 2.500 Mann die Rede, soll die Truppe später auf 900 dezimiert worden sein. Mittlerweile war dann wieder von mehreren tausend Kämpfern die Rede. Asow mache damit zwar nur einen verschwindend kleinen Teil der ukrainischen Kampftruppen aus, habe dafür aber einen großen Platz in der russischen Propaganda, wie der Intelligencer schreibt. Putin suggerierte mit seiner Wortwahl der „Entnazifizierung“, dass die ganze ukrainische Regierung nationalsozialistisch unterwandert ist bzw. mit Neonazis zusammenarbeitet.

Landbrücke zwischen Krim und Separatistengebieten

Mariupol ist geografisch äußerst wichtig. Mit dem Fall der Stadt kann ein Landkorridor, eine Landbrücke, zwischen der von Russland unrechtmäßig 2014 annektierten Krim und der von Aufständischen dominierten Region Donbass geschaffen werden, wie das „Wall Street Journal“ („WSJ“) schreibt. Das sei auch Putins „Plan B“, so die Zeitung weiter.

Laut Militärexperten ist deshalb die Einnahme Mariupols ein wichtiges Kriegsziel Moskaus. Sie würde als strategischer Erfolg des russischen Militärs verbucht werden, schreibt die BBC. Moskau werde auch den Sieg über die ukrainischen Truppen in der Stadt propagandistisch ausnützen.

Beide: Zerstörtes Theater in Mariupol
Beide: Reuters/Azov
Die beiden Bilder zeigen die Zerstörung des Theaters in Mariupol. Rund 300 Menschen sollen laut ukrainischen Angaben bei der Bombardierung getötet worden sein.

Schwerindustrie äußerst wichtig

Mariupol ist auch wirtschaftlich äußerst wichtig. So befindet sich der wichtigste Stahlproduzent des Landes, Metinvest, in Mariupol. Die Werke wurden von der russischen Armee in letzter Zeit bombardiert. Russland geht damit auch gegen wirtschaftliche Konkurrenten vor. Die Zerstörung bzw. teilweise Zerstörung der ukrainischen Schwerindustrie würde das Land nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch äußerst stark treffen.

Man wäre dann im äußersten Fall von Zukäufen aus dem Ausland zumindest für eine Zeit abhängig, wie Intelligencer schreibt. Die Annexion der Ostukraine würde durch Mariupol für Russland wirtschaftlich lukrativer werden, so der Intelligencer weiter.

Aus für Seehandel der Ukraine

Umgekehrt würde der Verlust der Stadt bzw. der Region die Ukraine wirtschaftlich, aber auch militärisch schwer treffen. Mit der Einnahme oder eben in Kauf genommenen kompletten Zerstörung Mariupols hätte Russland auch mehr als 80 Prozent der ukrainischen Küstenlinie am Schwarzen Meer erobert.

Die Ukraine wäre dann vom Seehandel im Schwarzen Meer und damit weiter von der restlichen Welt abgeschnitten, heißt es weiter. Mariupol ist der größte und wichtigste Hafen in der Region des Asowschen Meeres. Über Mariupol lief auch der ukrainische Export von Stahl, Kohle und Getreide, etwa in den Nahen Osten, aber via Mittelmeer weit darüber hinaus.