Zerstörtes Auto in Tschernihiw
AP/Yuriy Vasilenko
Verhandlungen mit Ukraine

Moskau will Kämpfe um Kiew reduzieren

Offenbar gibt es nun doch Fortschritte in den Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland. Wie der russische Vizeverteidigungsminister Alexander Fomin am Dienstag in Istanbul sagte, werde man die „militärischen Aktivitäten“ bei Kiew und Tschernihiw deutlich zurückfahren. Von der ukrainischen Seite hieß es erneut, dass die Neutralität ein mögliches Szenario sei.

Man wolle die Bedingungen für einen Dialog schaffen, so Fomin nach Verhandlungen in der türkischen Metropole. Die Gespräche in Istanbul am Dienstag waren das erste persönliche Treffen zwischen den Seiten seit dem 10. März. Der russische Unterhändler Wladimir Medinski bezeichnete die Gespräche zwischen Kiew und Moskau als „konstruktiv“. Man werde die ukrainischen Vorschläge prüfen und Präsident Wladimir Putin informieren, so Medinski. Er sagte auch, Kiew habe grünes Licht aus Moskau für einen Beitritt zur Europäischen Union gefordert.

Ein Treffen zwischen Putin und seinem ukrainischen Gegenüber Wolodymyr Selenski könne aber erst stattfinden, wenn die Ergebnisse von den jeweiligen Außenministerien abgesegnet werden, so Medinski weiter. Eine ausführliche Information über die Vereinbarungen von Istanbul solle es nach der Rückkehr der Delegation nach Moskau geben.

„Spezialoperation“ wird weitergeführt

Der ukrainische Generalstab teilte sofort mit, im Gebiet um die Hauptstadt und um Tschernihiw werde der Abzug einzelner Einheiten der russischen Streitkräfte beobachtet. Russland hatte seinen Angriffskrieg auf die Ukraine vor gut einem Monat begonnen. Es war die erste Ankündigung zu einem Rückzug dieser Art von russischer Seite. Das Verteidigungsministerium hatte vor einigen Tagen mitgeteilt, sich auf den Donbass im Osten der Ukraine konzentrieren zu wollen.

Ukraine: Verhandlungen in Istanbul

Rund viereinhalb Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine haben am Dienstag in Istanbul neue Verhandlungen stattgefunden. Die Türkei spricht von den bedeutendsten Fortschritten auf dem Weg zu Frieden.

Medinski sagte, dass die Deeskalation rund um Kiew und Tschernihiw „keinen Waffenstillstand“ bedeutet. Das berichtet die russische Nachrichtenagentur TASS. Auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, sagte Interfax zufolge, dass die „militärische Spezialoperation“, wie Russland den Krieg in der Ukraine nennt, fortgesetzt werde. „Sie verläuft streng nach Plan“. Die Aufgaben und Ziele würden weiter erfüllt. Bei den Friedensverhandlungen zwischen beiden Ländern gehe es weiterhin um die „Entmilitarisierung der Ukraine, die Entnazifizierung“, sagte Sacharowa.

Neutralität gegen Garantien

Kiew hat seinerseits noch einmal signalisiert, dass eine Neutralität unter bestimmten Voraussetzungen eine Option sei, so der ukrainische Delegationsleiter Mychailo Podoljak. Sie sei möglich, wenn Sicherheitsgarantien gewährleistet seien. Dafür habe man ein neues System vorgeschlagen, bei dem die Türkei als einer der möglichen Hauptgaranten gesehen werde.

Russisch-ukraininische Verhandlungen in Istanbul
APA/AFP/Turkish Presidential Press Service/Murat Cetin Muhurdar
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eröffnete die neue Gesprächsrunde in Istanbul

Um die Sicherheit der Ukraine zu garantieren, solle es ein „internationales Abkommen“ geben, forderte der ukrainische Unterhändler Dawyd Arachamija. Zu weiteren Ländern, die der Ukraine Sicherheitsgarantien geben könnten, könnten Israel, Polen und Kanada gehören. Das würde auch umfassen, dass es keinen ausländischen Militärstützpunkt auf ukrainischem Gebiet geben werde. „Wir wollen einen internationalen Mechanismus zu Sicherheitsgarantien, bei dem die Garantiestaaten sich entsprechend Artikel 5 der NATO und sogar in einer noch härteren Form verhalten würden.“ Der Bündnisfall-Artikel sieht eine Beistandspflicht im Fall eines Angriffs vor.

Arachamija machte zugleich auch deutlich, dass aus seiner Sicht die Ergebnisse von Istanbul „ausreichend“ seien für ein Treffen zwischen Selenski und Putin.

Referendum als Bedingung

Selenski hatte zuvor klargestellt, dass er als Grundvoraussetzung für ein Abkommen ein Referendum in der Ukraine ansieht. Zudem müsse vor Inkrafttreten eines finalen Abkommens auf dem gesamten Gebiet der Ukraine wieder Frieden herrschen. Selenski hatte zudem am Wochenende in einem Interview mit russischen Medien gesagt, dass man prüfen werde, ob die Ukraine auch einen neutralen Status annehmen könne.

Karte zur militärischen Lage in der Ukraine, Stand 29.03.2022
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: BBC

Die Gespräche hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vermittelt. Sie sollen am Mittwoch nicht fortgesetzt werden, die Delegation werden zu Beratungen mit ihren Regierungen zurückreisen. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sah eine Annäherung bei den Verhandlungen. Die Gespräche seien die bisher wichtigsten gewesen. Die schwierigeren Themen würden zu einem späteren Zeitpunkt von den Außenministern beider Seiten besprochen. „Dieser Krieg muss beendet werden“, so Cavusoglu.

Das NATO-Land Türkei hat enge Beziehungen zu Kiew und Moskau und ist von Russland etwa in den Bereichen Energie- und Getreideversorgung sowie im Tourismus abhängig. Erdogan betonte wiederholt, an beiden Partnern festhalten zu wollen.

US-Außenminister Antony Blinken äußerte sich skeptisch zu den jüngsten russischen Ankündigungen. Es gebe das, was Russland sage, und das, was Russland tue, sagt er. Die USA konzentrierten sich auf Letzteres.

Börsen reagieren positiv

Die strategisch wichtige Stadt Tschernihiw liegt rund 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Kiew an der Grenze zu Belarus und war ebenso wie Vororte von Kiew in den vergangenen Wochen von der russischen Armee heftig beschossen worden. In Tschernihiw kamen nach Angaben der örtlichen Behörden bereits mehr als 350 Menschen ums Leben. Die Zahlen seien aber nur vorläufig, sagte Bürgermeister Wladyslaw Atroschenko am Dienstag nach Angaben der ukrainischen Agentur UNIAN.

Auf den Finanzmärkten wurden die Verhandlungen in Istanbul positiv aufgenommen. Die europäischen Börsen legten sichtbar zu, der Ölpreis gab nach: Ein Barrel (159 Liter) der Nordsee-Sorte Brent wurde am Dienstag in London für 105,79 Dollar (rund 95 Euro) gehandelt – das waren 5,95 Prozent weniger als zuvor.