Ein „Blitzkrieg“ Russlands wird es nicht werden, so viel war nach kurzer Zeit schon klar. Hohe Verluste auch für die russische Seite, Probleme mit dem Nachschub und der große Widerstand vor allem von Kiew hatten einen schnellen russischen Sieg verunmöglicht. Fast genau einen Monat nach dem Einmarsch in die Ukraine verkündete der russische Generalstab schließlich, dass man ab sofort „die Hauptanstrengungen auf das Erreichen des Hauptziels“ richten werde: „die Befreiung des Donbass“. Ein Eingeständnis, von der gewaltvollen Eroberung der Ukraine abrücken zu müssen, war das freilich nicht. Man habe aber „die grundlegenden Aufgaben der ersten Etappe der Operation erfüllt“.
Westliche Fachleute und das US-Verteidigungsministerium werteten die Neuausrichtung anders: „Offensichtlich haben sie ihre Fähigkeit, Kiew einzunehmen, überschätzt“, hieß es aus dem Pentagon.
Ukraine: Zeichen der Entspannung
Rund viereinhalb Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine haben am Dienstag in Istanbul neue Verhandlungen stattgefunden. Beide Seiten sprechen von Fortschritten, Russland will seine Militäraktivitäten – etwa rund um Kiew – reduzieren.
Am Dienstag saßen einander in Istanbul wieder Vertreter Russlands und der Ukraine direkt gegenüber, um über ein Ausstiegsszenario zu verhandeln. Russland zeigte sich dabei bereit, „militärischen Aktivitäten“ bei Kiew und Tschernihiw im Nordosten der Ukraine „drastisch“ zu reduzieren. Damit wolle man die Voraussetzungen für einen Dialog schaffen, so der russische Vizeverteidigungsminister Alexander Fomin. Die Ukraine bereite nun einen Vertrag über einen neutralen Status ohne Atomwaffen vor, so Fomin. Seine Regierung gehe davon aus, dass die Ukraine dazu entsprechende Entscheidungen treffe.
„Militäroperation verläuft nach Plan“
Es war die erste Ankündigung zu einem Rückzug dieser Art von russischer Seite und daher ein Fortschritt. Tatsächlich gab es am Dienstagnachmittag bereits Anzeichen für einen Abzug russischer Einheiten rund um Kiew und Tschernihiw. Doch Russland betonte auch, dass die Kämpfe anderswo weitergehen würden. „Das ist kein Waffenstillstand, sondern unser Bemühen, schrittweise zumindest in diesen Richtungen zu einer Deeskalation des Konflikts zu kommen“, sagte der russische Unterhändler Wladimir Medinski gegenüber dem Staatssender RT.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, sagte der Agentur Interfax zufolge, dass die „militärische Spezialoperation“, wie Russland den Krieg in der Ukraine nennt, fortgesetzt werde. „Sie verläuft streng nach Plan.“ Es gehe bei den Friedensverhandlungen weiterhin um die „Entmilitarisierung der Ukraine, die Entnazifizierung“, sagte Sacharowa – Zweiteres hatte der russische Präsident Wladimir Putin in seinen jüngsten Reden gar nicht mehr als Ziel angeführt.
Krim und Donbass vorerst nicht auf Verhandlungstisch
Die Ukraine bot ihrerseits in der Verhandlungen die Neutralität an, wenn es dafür ausreichend Sicherheitsgarantien in Form eines internationalen Abkommens gebe. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hatte zuvor schon klargestellt, dass er als Grundvoraussetzung dafür ein Referendum in seinem Land ansieht. Zudem müsse vor Inkrafttreten eines finalen Abkommens auf dem gesamten Gebiet der Ukraine wieder Frieden herrschen.
Analyse der Ukraine-Verhandlungen
ORF-Außenpolitikexperte Peter Fritz analysiert die Verhandlungen in Istanbul und erläutert die Fortschritte.
Gebietsabtretungen seien aber weiterhin für die Ukraine nicht diskutabel, hieß es von der ukrainischen Seite. Man erkenne nur die Grenzen an, die seit 1991 anerkannt seien. Die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim und die von moskautreuen Separatisten beherrschten Gebiete Donezk und Luhansk im Donbass sollen bei den Friedensverhandlungen aber ausgelassen werden. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte, dass die Frage der Krim erst nach dem Ende der Kampfhandlungen diskutiert werden solle, und zwar innerhalb von 15 Jahren. Auch der Status von Donezk und Luhansk solle an anderer Stelle zur Verhandlung stehen.
Skepsis in Washington und London
Ob das Russland derzeit ausreicht, ist fraglich. Die russischen Unterhändler müssen die Ergebnisse von Istanbul ohnehin erst im Kreml besprechen. Skepsis herrscht jedenfalls im Westen: Die USA wollen Präsident Joe Biden zufolge genau beobachten, ob Russland seine militärischen Aktivitäten tatsächlich zurückfährt. „Es wird sich zeigen, ob sie das durchziehen, was sie andeuten“, so Biden. Sein Außenminister Antony Blinken stellte die „Ernsthaftigkeit“ von Moskaus Verhandlungsbemühungen infrage. „Ich habe nichts gesehen, das nahelegt, dass das auf effektive Art vorwärtsgeht, weil wir keine Zeichen wirklicher Ernsthaftigkeit gesehen haben“, so Blinken in Marokko.
„Es gibt das, was Russland sagt, und das, was Russland tut.“ Die USA konzentrierten sich auf Letzteres. Auch Großbritannien wollte zunächst abwarten. „Wir werden Putin und sein Regime an seinen Taten messen und nicht an seinen Worten“, sagte ein Sprecher des britischen Regierungschefs Boris Johnson. Nötig sei ein vollständiger Rückzug der russischen Truppen von ukrainischem Gebiet.
Sanktionsdruck soll aufrechtbleiben
Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und die USA wollen auch den hohen Sanktionsdruck gegen Russland beibehalten. Darauf verständigten sich die Staatschefs der fünf Nationen am Dienstag in einem Telefonat. Sie drängten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung zu ermöglichen.