Nach der Frage nach dem „Wohin?“, stellt sich für viele Vertriebene fünf Wochen nach Kriegsbeginn in der Ukraine zunehmend auch jene nach dem „Und jetzt?“. Das beobachtet auch der in der Flüchtlingshilfe tätige Verein Train of Hope, der sich um Akuthilfe, Erstversorgung und Betreuung von Schutzsuchenden in Österreich kümmert.
Die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine befänden sich in einem „Schwebezustand“, sagt Nina Andresen von Train of Hope zu ORF.at. Nur sehr wenige würden jetzt schon klar behaupten, dass sie sich nicht mehr vorstellen können, zurückzukehren.

Temporäre Suche nach Wohnung, Job und Schule
Die Hoffnung auf Rückkehr sei groß, sagt Andresen: „Was wir aus den Gesprächen mit den Menschen bei uns vor Ort mitbekommen, ist, dass sie alle vorübergehend (Quartiere) suchen, bis sich die Lage in der Heimat etwas beruhigt hat“, so Andresen – „wohl wissend, dass es komplett unklar ist, wann und ob sich die Lage entspannt.“ Zu Beginn des Kriegs habe der Faktor Zeit bei den Schutzsuchenden noch eine größere Rolle gespielt.
Ähnliches beobachte der Verein auch hinsichtlich der Themen Schule und Arbeit. „Den Eltern ist es ganz wichtig, dass ihre Kinder wieder in die Schule gehen, und da ist es relativ unerheblich, ob die Perspektive ist, dass sie in zwei, vier oder sechs Monaten zurückgehen“, so Andresen. Ebenso würden sich nun zunehmend auch Erwachsene, die sehr wohl eine Rückkehr in die Ukraine anstreben, nach Deutschkursen und der Arbeitsmarktsituation erkundigen.
40.000 Schutzsuchende in Österreich erfasst
Grundsätzlich erhalten alle ukrainischen Geflüchteten mit der Inkraftsetzung der temporären EU-Schutzrichtlinie von Beginn an einen rechtlichen Aufenthaltsstatus sowie EU-weit einheitliche Rechte in Bezug auf Zugang zu Wohnraum, Arbeitsmarkt und Ausbildung. Der Schutz gilt zunächst für ein Jahr, kann jedoch um zwei weitere Jahre verlängert werden. Ein langwieriges Asylverfahren ist dafür nicht nötig – das Recht, einen Asylantrag zu stellen, besteht aber weiter. Die EU setzt bei der Verteilung der Vertriebenen zudem weiter auf eine freiwillige Aufnahme.
Auch Österreich, das laut Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) zu den besonders betroffenen Ländern zählt, lehnt einen verpflichtenden Verteilungsschlüssel ab. Bei einer Pressekonferenz am Mittwochnachmittag gab Karner an, dass bereits 40.000 Personen in Österreich erfasst wurden, etwa 7.000 seien mit Vertriebenenpässen ausgestattet worden. Eingereist sind nach Angaben des Innenministeriums bis Dienstagvormittag etwa 225.000 Menschen, rund 82 Prozent seien in andere Länder weitergereist.
Viele harren in Nachbarländern aus
Besonders viele Menschen befinden sich naturgemäß in den Nachbarländern der Ukraine. Fast 2,4 Mio. Menschen kamen bisher in Polen an, rund 600.000 sind es in Rumänien. Hunderttausende reisten überdies nach Moldawien, Ungarn und in die Slowakei ein. „Derzeit wollen viele bewusst in Polen, in Ungarn, in Rumänien bleiben – vor allem aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Heimatland, aber auch, weil sie dort Netzwerke haben, familiäre oder berufliche“, erklärt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger gegenüber ORF.at.

Rumänische NGO: Neue Phase erreicht
Wie viele Menschen tatsächlich in den Nachbarländern bleiben und wie viele weiterreisen, ist aber vielfach unklar – unter anderem deshalb, weil etwa Polen, Ungarn und die Slowakei zum Schengen-Raum zählen, wo keine systematischen Personengrenzkontrollen stattfinden. Anders ist das etwa im Falle Rumäniens, das außerhalb des Schengen-Raums liegt, sagt Ana Cojocaru von der rumänischen NGO Romanian National Council for Refugees (CNRR) zu ORF.at. In Rumänien blieben bisher nicht einmal zwanzig Prozent der Geflüchteten, sagt Cojocaru.
Ihr zufolge sei nun jedenfalls eine Phase erreicht worden, in der Schutzsuchende anfangen, „über ihre mittelfristigen Pläne nachzudenken“, sagt Cojocaru. „Die Anfragen, die wir dieser Tage bekommen, fokussieren vielmehr auf Integration, und damit ist Integration im breiteren Sinne gemeint. Es geht um Fragen zu temporärem Schutz, vereinzelt um Asyl, um Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Schulbildung.“ Sie betont aber auch, dass die meisten trotz allem in der nahen Zukunft wieder in die Ukraine zurückkehren wollen.
Caritas Deutschland: „Große Sorgen um Angehörige“
Ähnliches berichtet Anja Stoiser von Caritas Deutschland auf Anfrage von ORF.at: Auch in Deutschland wollen viele Schutzsuchende aus der Ukraine „schnellstmöglich wieder zurück in ihr Heimatland“. Nach Deutschland sind seit Beginn des Kriegs mehr als 288.000 Menschen eingereist. Da es keine festen Grenzkontrollen gibt und Menschen mit ukrainischem Pass für 90 Tage visumsfrei einreisen können, dürfte die Zahl der Geflüchteten insgesamt deutlich höher liegen.

Viele würden „trotz aller Ungewissheit“ hoffen, ihre Leben in der Ukraine „wieder aufbauen zu können, wenn der Angriffskrieg Russlands zu Ende ist“, so Stoiser. Das hängt vielfach auch damit zusammen, dass volljährige Söhne, Väter und Ehemänner verpflichtet sind, derzeit im Land zu bleiben, da sie der ukrainischen Armee zur Verfügung stehen müssen. „Die Folge ist, dass die Familien auseinandergerissen sind und sich viele geflohene Frauen und Kinder große Sorgen um ihre Angehörigen machen“, so Stoiser.
Auch die Migrationsforscherin Kohlenberger bezeichnet Männer, die in der Ukraine bleiben müssen, als wesentlichen Faktor, was den Wunsch nach Rückkehr betrifft. Sollte es künftig dazu kommen, dass sich die Gegebenheiten dahingehend ändern, dass auch ukrainische Männer flüchten müssen, dann würde „einer der Gründe, warum man möglichst schnell zurückgehen will, nicht mehr bestehen“. „Da tut man sich natürlich auch leichter, hier etwas Neues aufzubauen“, so Kohlenberger.
Grenzschutz: Hunderttausende in Ukraine eingereist
Die Ukraine berichtete zuletzt aber auch von Hunderttausenden Menschen aus dem Ausland, die seit Kriegsbeginn in die Ukraine eingereist sein sollen. Die meisten kämen aus Polen. Von Polen in Richtung Ukraine hätten seit Kriegsbeginn am 24. Februar rund 377.000 Menschen die Grenze überquert, erklärte der polnische Grenzschutz am Mittwoch dazu.
Hunderttausende kehren zurück in die Ukraine
Etliche aus der Ukraine geflüchtete Menschen wollen wieder in ihr Heimatland reisen. Von Polen in Richtung Ukraine hätten seit Kriegsbeginn Hunderttausende die Grenze überquert, erklärte der polnische Grenzschutz. Viele wollen zu ihren dort verbliebenen Familien, andere wollen die ukrainischen Truppen im Kampf gegen Russland unterstützen.
Dabei handelt es sich nach früheren Angaben zum überwiegenden Teil um ukrainische Staatsbürger, die in ihr Heimatland zurückkehren. Viele Männer, aber auch Frauen, wollen sich dort den ukrainischen Truppen anschließen und gegen die russischen Soldaten kämpfen. Andere kehren zurück, um sich um Kinder oder hilfsbedürftige Angehörige zu kümmern.

„Vertreibung dauert tendenziell immer länger an“
Noch ist jedenfalls völlig unklar, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird. Die Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew kamen zuletzt kaum voran. „Was man mit Blick auf andere Fluchtkontexte sagen kann: Vertreibung dauert tendenziell immer länger an. Weltweit sind Konflikte und Krisenherde selten temporär – 80 Prozent aller Flüchtlingskrisen dauern länger als zehn Jahre“, sagt Kohlenberger. „Davon ableitend stehen die Chancen also eher dafür, dass Ukrainer auch längerfristig in Österreich bleiben werden.“
Dem pflichtet Andresen von Train of Hope bei: „Das ist kein Kurzstreckensprint. Das wird ein sehr langes Projekt, das nur gelingen kann, wenn Zivilgesellschaft, wenn öffentliche Hand, wenn Wirtschaft, wenn alle gemeinsam versuchen, diese Menschen bestmöglich unterstützen zu können. Und auch da hoffen wir, dass es irgendeine übergeordnete Planung und Koordination gibt. Erleben tun wir es momentan aufseiten des Bundes noch nicht.“ Darauf angesprochen hieß es seitens des Innenministeriums: „Hier liegt natürlich eine Mischzuständigkeit sehr vieler Player vor“, weshalb jene Frage vom Ministerium „nicht vollinhaltlich“ beantwortet werden könne.