Ukrainische Soldaten gehen an zerstörten russischen Panzern in der Stadt Butscha vorbei
Reuters/Zohra Benemra
Nach Rückzug bei Kiew

Kriegsverbrechen-Vorwurf gegen Moskau

Nach dem offenbar vollständigen Abzug russischer Truppen aus der Umgebung von Kiew werden nicht nur die Zerstörung, sondern auch das menschliche Leid, das die Zivilbevölkerung während der mehrwöchigen Besatzung durch die russische Armee erlitten hat, sichtbar. Die Bewohner selbst und Vertreter der Ukraine sprechen von Kriegsverbrechen und Völkermord. Auch die NGO Human Rights Watch spricht von „offensichtlichen Kriegsverbrechen“. Aus dem Westen gab es entsetzte Reaktionen – und die Ankündigung weiterer Sanktionen.

Die ukrainische Armee eroberte nach eigenen Angaben bis Samstagabend mehr als 30 Städte und Dörfer rund um Kiew zurück, von denen großteils zuvor die russische Armee abgezogen war. Mit dem russischen Rückzug werden aber die Verheerungen sichtbar: Leichen von zahlreichen Zivilisten, teils offensichtlich hingerichtet, lagen etwa in Butscha, aber auch in anderen Orten auf offener Straße, Verwesungsgeruch hing über dem Ort.

Journalisten der Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, die sich im Gefolge der ukrainischen Armee befinden, haben in Butscha, das neben Irpin und etwa 37 Kilometer nordwestlich von Kiew liegt, Leichen in den Straßen gesehen. Außerdem sahen sie ein noch offenes Massengrab auf einem Friedhof, aus dem die Hände und Füße vieler toter Menschen herausragten.

Ukraine: Hinweise auf Kriegsverbrechen

Fünf Wochen nach Beginn der russischen Angriffe habe man die gesamte Region Kiew wieder unter Kontrolle, heißt es von der ukrainischen Regierung. Nun wird auch sichtbar, was in Vororten wie Butscha mit den Zivilisten passiert ist – nach dem Abzug der russischen Truppen finden ukrainische Soldaten erschossene Menschen auf den Straßen.

Russland soll Beisetzung nicht erlaubt haben

Die Behörden beerdigten rund 280 Zivilistinnen und Zivilisten in Butscha in mehreren Massengräbern. Die Leichen konnten während der russischen Besatzungszeit nicht beigesetzt werden, verlautete nach Angaben der „Ukrajinksa Prawda“ aus der Verwaltung. Zuvor hatte es auch geheißen, es gebe nicht genügend Platz auf dem Friedhof.

Drei der Getöteten wurden offenbar erschossen, als sie mit ihren Fahrrädern flüchten wollten. Zu den auf der Straße liegenden Leichen sagte Butschas Bürgermeister Anatoly Fedoruk gegenüber AFP-Reportern, sie seien „alle erschossen“ worden. „Das sind die Folgen einer russischen Besatzung.“

Angeblich bei Fluchtversuch erschossen

Die britische Tageszeitung „Guardian“ sprach mit der 55-jährigen Überlebenden Halyn Tovkach. Sie suchte am Samstag die Leiche ihres 62-jährigen Mannes Oleg. Er wurde demnach von russischen Soldaten ebenso erschossen wie zwei Nachbarsburschen und deren Mutter, als sie am 5. März versuchten, aus der Stadt zu flüchten. „Es ist ein Kriegsverbrechen“, klagte Tovkachs Sohn Russland an.

Klitschko: „Nur als Völkermord zu bezeichnen“

Kiews Bürgermeister Witali Klitschko wirft russischen Truppen vor, in Butscha Kriegsverbrechen begangen zu haben. „Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen“, so Klitschko gegenüber der „Bild“-Zeitung. Es seien grausame Kriegsverbrechen, die der russische Präsident Wladimir Putin zu verantworten habe. Es seien Zivilisten mit verbundenen Händen erschossen worden.

„Hölle des 21. Jahrhunderts“

Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak schrieb auf Twitter, das sei die „Hölle des 21. Jahrhunderts“. Auch er sprach von „Leichen von Männern und Frauen, die mit gebundenen Händen ermordet wurden. Die schlimmsten Verbrechen des Nationalsozialismus sind nach Europa zurückgekehrt“. Die Taten seien absichtlich von Russland so begangen worden.

Im Tweet sind mehrere Fotos zu sehen, deren Echtheit bisher nicht unabhängig überprüft werden konnte. Eines zeigt eine männliche nackte Leiche in einem Kanal. Ein anderes zeigt Leichen, die teils aus einem offensichtlichen Massengrab hervorragen, ein anderes auf einer Straße verstreut liegende Leichen. Auf einem weiteren Foto sind erschossene Männer zu sehen, bei einem von ihnen sind die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Viele von ihnen seien von russischen Soldaten erschossen worden, so Podoljak. „Sie waren nicht beim Militär, sie hatten keine Waffen, sie stellten keine Bedrohung dar“, schrieb er. „Wie viele derartige Fälle ereignen sich gerade in den besetzten Gebieten?“

Kuleba fordert härtere Sanktionen

Nach Bekanntwerden von Gräueltaten in der Stadt Butscha bei Kiew forderte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba härtere Sanktionen der G-7-Staaten gegen Russland. „Das Massaker von Butscha war vorsätzlich. Die Russen zielen darauf ab, so viele Ukrainer wie möglich auszulöschen“, so Kuleba auf Twitter.

HRW: Mehrere Verbrechen dokumentiert

Auch die US-amerikanische Menschrechts-NGO Human Rights Watch (HRW) veröffentlichte am Sonntag eine Zusammenfassung von Belegen für Kriegsverbrechen. Man habe „mehrere Fälle, in denen russische Truppen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten in den Regionen Tschernihiw, Charkiw und Kiew dokumentiert“. Dabei gehe es unter anderem um wiederholte Vergewaltigung, zwei Fälle standrechtlicher Hinrichtung – in einem Fall sechs Männer, in einem anderen ein Mann. Auch Fälle von Plünderungen dokumentierte HRW nach eigenen Angaben bereits. Es seien zehn Personen – Zeugen, Opfer und lokale Bewohner – persönlich oder am Telefon befragt worden.

Soldaten in Bucha
Reuters/Zohra Benemra
Ukrainische Soldaten finden einen völlig devastierten Ort vor

Bilder völliger Zerstörung

Generell zeigen Fotos aus den Orten, aus denen sich die russischen Soldaten zurückgezogen haben, ein Bild der völligen Zerstörung, mit Teilen von zerstörten russischen Panzern und Militärfahrzeugen zwischen Leichen und völlig kaputten Häusern.

Laut AFP wurde der Leichnam des vermissten ukrainischen Fotografen Maksim Levin in einem Dorf nahe Butscha gefunden. In den sozialen Netzwerken kursieren Berichte, wonach russische Truppen die Leichen vermint haben. Ukrainische Soldaten schleppten daher laut „Guardian“ die Leichen teils mit Seilen von der Straße.

„Guardian“: Kinder als „menschliche Schilde“

Der „Guardian“ berichtete zudem von Vorwürfen der ukrainischen Seite, russische Truppen hätten Kinder als „menschliche Schutzschilde“ eingesetzt – und sie beim Abzug von Butscha etwa auf den Panzer gesetzt. Die Behauptungen können nicht unabhängig überprüft werden. Die ukrainische Staatsanwaltschaft sammelt demnach Material zu diesen oder ähnlichen Vorwürfen. So sollen die russischen Soldaten bei Novyj Bykiv, nahe Tschernihiw, Kinderwägen vor den Panzern platziert haben. Außerdem sollen von ihnen Kinder an mehreren Kriegsschauplätzen als Geiseln genommen worden sein, so die ukrainische Ombudsfrau Lyudmila Denisova.

EU fordert Untersuchung von „Gräueltaten“

Die EU will nach Angaben von Ratspräsident Charles Michel die Untersuchung von „Gräueltaten“ der russischen Armee in Vororten von Kiew unterstützen. Michel zeigte sich am Sonntag „erschüttert“ über Bilder aus dem ukrainischen Ort Butscha und sprach von einem „Massaker“. Auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich entsetzt.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sprach von „unerträglichen Bildern“ aus Butscha. „Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen.“ Als Konsequenz kündigte sie weitere Sanktionen gegen Moskau und zusätzliche Unterstützung für die Ukraine „bei ihrer Verteidigung“ an. Unklar war zunächst, ob damit zusätzliche Waffenlieferungen gemeint waren.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warf Russland schwere Kriegsverbrechen vor. „Die von Russland verübten Kriegsverbrechen sind vor den Augen der Welt sichtbar“, erklärte Steinmeier am Sonntag in Berlin. „Die Bilder aus Butscha erschüttern mich, sie erschüttern uns zutiefst.“

Die britische Außenministerin Liza Truss hatte bereits Stunden zuvor Russland für die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung mit scharfen Worten verurteilt. Zivilisten anzugreifen, sei „abscheulich“.