Entsetzte Menschen beim Anblick eines Massengrabs
APA/AFP/Sergei Supinsky
Hunderte ermordete Zivilisten

Entsetzen über Gräuel von Butscha

Laut Ukraine ist die Zahl Getöteter in der Umgebung von Kiew viel höher als bisher bekannt. Vor allem die Bilder von – teils gefesselten – Leichen von Zivilisten auf den Straßen von Butscha lösten international Entsetzen aus. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach von „Kriegsverbrechen“ und kündigte verschärfte Sanktionen gegen Moskau an. Der Westen fordert Aufklärung und dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Russland wies die Vorwürfe entrüstet von sich.

Die Bilder, die sich am Wochenende aus Butscha teils über westliche Medien, vor allem aber auch über soziale Netzwerke weltweit verbreiteten, sind weit jenseits dessen, was man in Europa des 21. Jahrhunderts für vorstellbar hielt. UNO-Generalsekretär Guterres reagierte „zutiefst schockiert“ auf die „Bilder von getöteten Zivilisten in Butscha“ und forderte eine „unabhängige Untersuchung“.

US-Außenminister Antony Blinken betonte: „Man kann nicht anders, als diese Bilder als einen Schlag in die Magengrube zu sehen“, so Blinken gegenüber CNN. Die USA seien schon vor Wochen zum Schluss gekommen, dass Russland Kriegsverbrechen begehe. „Das ist die Realität, die sich jeden Tag abspielt, solange Russlands Brutalität gegen die Ukraine anhält. Deshalb muss es ein Ende haben.“

Scholz will „schonungslose Aufklärung“

Der deutsche Kanzler Scholz (SPD) betonte, „die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen“. Internationale Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz müssten Zugang zu diesen Gebieten erhalten. „Diese Verbrechen der russischen Streitkräfte müssen wir schonungslos aufklären.“

"Wir werden im Kreis der Verbündeten in den nächsten Tagen weitere Maßnahmen beschließen. Russlands Präsident Wladimir Putin und seine Unterstützer „werden die Folgen spüren, und wir werden der Ukraine weiterhin Waffen zur Verfügung stellen, damit sie sich gegen die russische Invasion verteidigen kann“, betonte Scholz.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die russischen Behörden „für diese Verbrechen“ zur Verantwortung ziehen. Die Bilder aus Butscha mit „Hunderten feige ermordeter Zivilisten auf den Straßen“ seien unerträglich, so auch Macron. Auch Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) zeigte sich entsetzt und betonte, die russische Armee müsse sich dafür verantworten.

EU fordert Untersuchung von „Gräueltaten“

Die EU will nach Angaben von Ratspräsident Charles Michel die Untersuchung von „Gräueltaten“ der russischen Armee in Vororten von Kiew unterstützen. Michel zeigte sich am Sonntag „erschüttert“ über Bilder aus dem ukrainischen Ort Butscha und sprach von einem „Massaker“. Auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich entsetzt.

Die britische Außenministerin Liza Truss hatte bereits Stunden zuvor Russland für die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung mit scharfen Worten verurteilt. Zivilisten anzugreifen sei „abscheulich“.

„Zutiefst erschüttert“ von den „grauenerregenden Bildern“ in Butscha zeigte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen. „Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen alles, wofür wir stehen, werden geahndet werden“, betonte der Bundespräsident am Sonntagabend auf Twitter. Zuvor hatte bereits das Wiener Außenamt eine UNO-Untersuchung gefordert. Politiker von Grünen und NEOS forderten eine schärfere Gangart gegenüber Russland.

HRW: „Offensichtliche Kriegsverbrechen“

Während die europäische Politik es – anders als die USA – noch weitgehend vermied, offen von Kriegsverbrechen zu sprechen, veröffentlichte die US-amerikanische Menschenrechts-NGO Human Rights Watch (HRW) am Sonntag eine Zusammenfassung von Belegen „offensichtlicher Kriegsverbrechen“. Man habe „mehrere Fälle, in denen russische Truppen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten in den Regionen Tschernihiw, Charkiw und Kiew dokumentiert“.

Dabei gehe es unter anderem um wiederholte Vergewaltigung, zwei Fälle standrechtlicher Hinrichtung – in einem Fall sechs Männer, in einem anderen ein Mann. Auch Fälle von Plünderungen dokumentierte HRW nach eigenen Angaben bereits. Es seien zehn Personen – Zeugen, Opfer und lokale Bewohner – persönlich oder am Telefon befragt worden.

Ukrainer werfen Russen Kriegsverbrechen vor

Nach dem Abzug russischer Truppen aus der Umgebung von Kiew und der angeblichen Rückeroberungen durch ukrainische Truppen, werfen die Ukrainer den Russen Massaker an der Zivilbevölkerung vor.

Behörden: 410 Leichen bei Kiew entdeckt

Die ukrainischen Behörden fanden nach dem Rückzug russischer Truppen in den Ortschaften rund um die Hauptstadt Kiew nach eigenen Angaben bisher 410 Leichen. Dabei habe man am Sonntag zunächst nur in die Städte Butscha, Irpin und Hostomel gelangen können, sagte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa am Abend. Innenminister Denys Monastyrsyj erklärte, Hunderte Zivilisten seien getötet worden.

Die genaue Zahl könne noch nicht genannt werden, auch weil erst Minen in den Gebieten geräumt werden müssten. Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb: „Hunderte Menschen wurden getötet. Gefolterte, getötete Zivilisten. Leichen auf den Straßen. Verminte Gebiete. Sogar die Körper von Toten sind vermint.“

Laut dem englischsprachigen Nachrichtenportal Kyiv Independent handelt es sich bei den Toten ausschließlich um Zivilisten. Die Fotos würden darauf hinweisen, dass russische Truppen in Butscha gezielte, organisierte Tötungen an der Zivilbevölkerung – insbesondere Männern – vornahmen. Als Hinweis dafür nennt der Kyiv Independent, dass sie erschossen, mit auf den Rücken zusammengebundenen Händen vorgefunden worden seien.

Selenskyj: Neue Sanktionen reichen nicht aus

Selenskyj sagte, dass der Westen angesichts der Gräueltaten von Butscha neue Sanktionen gegen Russland verhängen werde. Diese würden aber nicht ausreichen, sagte er auch. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte zuvor als Reaktion härtere Sanktionen der G-7-Staaten gegen Russland. „Das Massaker von Butscha war vorsätzlich. Die Russen zielen darauf ab, so viele Ukrainer wie möglich auszulöschen“, so Kuleba auf Twitter.

Soldaten in Bucha
Reuters/Zohra Benemra
Ukrainische Soldaten finden einen völlig devastierten Ort vor

„Hölle des 21. Jahrhunderts“

Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak schrieb auf Twitter, das sei die „Hölle des 21. Jahrhunderts“. Auch er sprach von „Leichen von Männern und Frauen, die mit gebundenen Händen ermordet wurden. Die schlimmsten Verbrechen des Nationalsozialismus sind nach Europa zurückgekehrt“. Die Taten seien absichtlich von Russland so begangen worden.

Im Tweet sind mehrere Fotos zu sehen, deren Echtheit bisher nicht unabhängig überprüft werden konnte. Eines zeigt eine männliche nackte Leiche in einem Kanal. Ein anderes zeigt Leichen, die teils aus einem offensichtlichen Massengrab hervorragen, ein anderes auf einer Straße verstreut liegende Leichen. Auf einem weiteren Foto sind erschossene Männer zu sehen, bei einem von ihnen sind die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Russisches Dementi

Das russische Verteidigungsministerium dementierte einem Agenturbericht zufolge einen Massenmord an Zivilisten in Butscha. Jegliches von der Ukraine veröffentlichte Bild- und Filmmaterial in diesem Zusammenhang stelle eine „Provokation“ dar, berichtete die Agentur RIA unter Berufung auf das Ministerium. Sämtliche russische Truppen seien bereits am 30. März aus Butscha abgezogen, behauptete das Verteidigungsministerium und warf der ukrainischen Seite die Inszenierung des Grauens vor. Russland will angesichts des Vorwurfs für Montag eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrats einberufen.

Bilder des Grauens

Die ukrainische Armee eroberte nach eigenen Angaben bis Samstagabend mehr als 30 Städte und Dörfer rund um Kiew zurück, von denen großteils zuvor die russische Armee abgezogen war. Mit dem russischen Rückzug werden aber die Verheerungen sichtbar: Leichen von zahlreichen Zivilisten, teils offensichtlich hingerichtet, lagen etwa in Butscha, aber auch in anderen Orten auf offener Straße, Verwesungsgeruch hing über dem Ort.

Journalisten der Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, die sich im Gefolge der ukrainischen Armee befinden, haben in Butscha, das neben Irpin und etwa 37 Kilometer nordwestlich von Kiew liegt, Leichen in den Straßen gesehen. Außerdem sahen sie ein noch offenes Massengrab auf einem Friedhof, aus dem die Hände und Füße vieler toter Menschen herausragten.

Russland soll Beisetzung nicht erlaubt haben

Die Behörden beerdigten rund 280 Zivilistinnen und Zivilisten in Butscha in mehreren Massengräbern. Die Leichen konnten während der russischen Besatzungszeit nicht beigesetzt werden, verlautete nach Angaben der „Ukrajinksa Prawda“ aus der Verwaltung. Zuvor hatte es auch geheißen, es gebe nicht genügend Platz auf dem Friedhof.

Satellitenbilder der US-Firma Maxar zeigten indes einen 14 Meter langen Graben auf dem Gelände einer Kirche in Butscha. Dort wurden nach ukrainischen Angaben die Leichen Hunderter von russischen Truppen getöteter Zivilisten begraben.

Völlige Zerstörung

Generell zeigen Fotos aus den Orten, aus denen sich die russischen Soldaten zurückgezogen haben, ein Bild der völligen Zerstörung, mit Teilen von zerstörten russischen Panzern und Militärfahrzeugen zwischen Leichen und völlig kaputten Häusern. In den sozialen Netzwerken kursieren Berichte, wonach russische Truppen die Leichen vermint haben. Ukrainische Soldaten schleppten daher laut „Guardian“ die Leichen teils mit Seilen von der Straße.

„Guardian“: Kinder als „menschliche Schilde“

Der „Guardian“ berichtete zudem von Vorwürfen der ukrainischen Seite, russische Truppen hätten Kinder als „menschliche Schutzschilde“ eingesetzt – und sie beim Abzug von Butscha etwa auf den Panzer gesetzt. Die Behauptungen können nicht unabhängig überprüft werden. Die ukrainische Staatsanwaltschaft sammelt demnach Material zu diesen oder ähnlichen Vorwürfen. So sollen die russischen Soldaten bei Nowyj Bykiw, nahe Tschernihiw, Kinderwägen vor den Panzern platziert haben. Außerdem sollen von ihnen Kinder an mehreren Kriegsschauplätzen als Geiseln genommen worden sein, so die ukrainische Ombudsfrau Lyudmila Denisowa.