Abgabe von Gratistests in London
Reuters/Henry Nicholls
Großbritannien

Praktisch keine CoV-Überwachung mehr

England hat mit Anfang April nahezu alle CoV-Schutzmaßnahmen zurückgefahren, Gratistests sind für den Großteil der Bevölkerung Geschichte. Auch die Überwachungsprogramme wurden stark dezimiert – angesichts der bisherigen Vorreiterrolle Großbritanniens auf dem Gebiet könnte das weltweit Auswirkungen haben.

Seit Monatsbeginn sind in England die bisher kostenlosen Antigen-Tests des Nationalen Gesundheitsdiensts nur noch für bestimmte Risikogruppen und einzelne Berufsgruppen erhältlich. Der Großteil der Bevölkerung muss nun selbst für die Tests bezahlen, auch wenn Symptome vorliegen. Der Schritt ist Teil des Regierungsplans „Mit Covid leben“, in dessen Rahmen bereits alle Maßnahmen aufgehoben wurden, inklusive der Pflicht zur Isolation bei einer Erkrankung.

Just am Tag des Aus für Gratistests teilte die britische Statistikbehörde ONS mit, dass die Zahl der aktuellen Fälle einen neuen Höchststand erreicht habe. Von den 67 Millionen Einwohnern seien in der Woche bis zum 26. März schätzungsweise 4,9 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert gewesen. Das Statistikamt ermittelte seine Zahlen anhand repräsentativer Stichprobenbefragungen – diesen zufolge war in England einer von 13 Menschen infiziert.

Maßnahmen „zu brutal“ reduziert

Großbritannien zählt nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den Ländern, die ihre Schutzmaßnahmen „zu brutal“ reduziert haben. Doch nicht nur diese, auch die Überwachungsprogramme wurden stark dezimiert. Mit vergangenem Freitag wurden zwei der routinemäßigen Viruserhebungen des Landes eingestellt und eine dritte zurückgefahren, wie die „New York Times“ („NYT“) berichtete. Angesichts der bisherigen Vorreiterrolle Großbritanniens auf dem Gebiet könnte das die CoV-Forschung weltweit zurückwerfen, warnen Fachleute.

Abgabe von Gratistests in London
Reuters/Henry Nicholls
Gratistests gibt es in England nur mehr für Menschen mit gesundheitlichen Problemen und Anfälligkeiten

Bereits zu Beginn der Pandemie war Großbritannien gut für die Analyse des Virus gerüstet: Es verfügte über ausreichend Fachleute und große Labors, die in der Lage waren, das Erbgut des Coronavirus in vorliegenden Proben zu sequenzieren, und es konnte diese Sequenzierung mit den elektronischen Aufzeichnungen des Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS) verknüpfen.

Sequenzierungen als Schlüsselwort

Im März 2020 gründeten britische Forscherinnen und Forscher ein eigenes Konsortium, um Proben zu sequenzieren, die aus verschiedenen Bereichen stammten: von Menschen, die bereits CoV-infiziert waren, andere von Patienten und Patientinnen aus Krankenhäusern und schließlich von Tests aus einzelnen Gemeinden. „Die Tests in der Gemeinde waren der schnellste Indikator für Veränderungen in der Epidemie und auch für das Auftreten neuer Varianten“, zitierte die „NYT“ Christophe Fraser, Epidemiologe an der Universität Oxford.

Ende 2020 wurden in Großbritannien wöchentlich Tausende von Virusproben sequenziert und Onlinedatenbanken mit mehr als der Hälfte der weltweiten Coronavirus-Genome versorgt. Auch andere Länder unternahmen Bemühungen, die Entwicklung des Virus zu verfolgen. Dänemark etwa etablierte ein System zur Sequenzierung der meisten positiven Coronavirus-Tests im Land. Doch nachdem die dänische Regierung am 10. März angekündigt hat, dass Tests nur noch aus bestimmten medizinischen Gründen, z. B. bei Schwangerschaft, erforderlich sein werden, ist die Testrate seit ihrem Höchststand im Jänner um fast 90 Prozent gesunken – entsprechend auch die Sequenzierung.

Fachleute erwarten „Verschlechterung der Erkenntnisse“

Großbritannien blieb jedoch Vorbild, nicht nur bei der Sequenzierung, sondern auch bei der Kombination mit medizinischen Aufzeichnungen und der Epidemiologie, um die Varianten richtig zu deuten. „Das Land hat sich wirklich darauf eingestellt, der ganzen Welt Informationen zu geben“, sagte Jeffrey Barrett, der ehemalige Direktor der Covid-19 Genomics Initiative am Wellcome Sanger Institute nahe Cambridge. Noch in den vergangenen Wochen lieferten die britischen Überwachungssysteme entscheidende Informationen über die BA.2-Untervariante von Omikron.

Wer das in Zukunft übernehmen wird, ist ungewiss. „Wie auch immer man es betrachtet, es wird zu einer Verschlechterung der Erkenntnisse führen, entweder über die Anzahl der Infektionen oder über unsere Fähigkeit, neue Varianten zu erkennen, wenn sie auftauchen“, sagte Steven Paterson, Genetiker an der Universität Liverpool. Andere Fachleute führen dagegen ins Treffen, dass Quantität nicht unbedingt zu mehr Qualität führen würde. Die Hoffnungen liegen dabei vor allem auf Südafrika – hier wurde Omikron zuerst nachgewiesen, obwohl der Sequenzierungsanteil viel niedriger ist, als er es in Großbritannien bis zuletzt war.

Neue Variante auf dem Weg

Eine Erkenntnis aus dem britischen Überwachungssystem wurde der Welt noch auf den Weg gegeben: eine neue Mutante mit der Bezeichnung XE. Diese könnte übertragbarer sein als jeder andere Coronavirus-Stamm, schrieb die Weltgesundheitsorganisation (WHO). XE ist eine „rekombinante“ Mutation der Stämme BA.1 und BA.2 Omikron – diese Mutationen entstehen, wenn ein Mensch mit mehreren Varianten von CoV infiziert ist, schrieben Fachleute in einem im „British Medical Journal“ veröffentlichten Artikel. Die britische Gesundheitsbehörde UKHSA erklärte, dass XE erstmals am 19. Jänner entdeckt wurde und bisher 637 Fälle registriert worden seien.