Es ist eines der insgesamt drei großen Logistikzentren von Ärzte ohne Grenzen (Medecins Sans Frontieres, MSF). In der 18.000 Quadratmeter großen Lagerhalle im Norden von Brüssel finden sich all jene Hilfsgüter, ohne die ein Einsatz im Krisengebiet nicht möglich wäre. Von Medikamenten über Zelte und Decken, Notfallnahrung bis hin zu Gaffa-Tapes. Auf gelben Zetteln stehen in schwarzen Lettern die Zielländer der fertig gepackten Kartons geschrieben: Afghanistan, Libanon, Jemen und – Ukraine.
Seit Beginn des Krieges wurden von hier aus laut MSF 71 Tonnen an Hilfsgütern in die Ukraine gebracht, 14 Lastwagenladungen. „Die vergangenen Wochen waren sehr intensiv. Wir arbeiten von Montag bis Sonntag durch. Wir haben eigene Taskforces eingerichtet und haben fast täglich Meetings mit allen Akteuren“, sagt Mina Kanashiro. Sie ist zuständig für die Koordination aller Artikel und arbeitet seit vielen Jahren für Ärzte ohne Grenzen. Mit einem Krieg in Europa habe sie nicht gerechnet.
„Wir wissen, wie man mit Krieg umgeht“
„Wir (MSF, Anm.) haben Erfahrungen mit dem Krieg. Wir wissen, wie man damit umgeht und haben das nötige Fachwissen. Es gibt einige grundlegende Informationen, grundlegende Schlüsselelemente, die man in einem Kriegskontext braucht. In gewisser Weise sind wir also vorbereitet, wenn auch nicht speziell auf diesen Krieg“, so Kanashiro.
Was es bedeutet, in einem Krisen- oder gar Kriegsgebiet tätig zu sein, weiß auch sie. Wer in einem „instabilen Kontext“ arbeitet, wie sie es nennt, sei großen Risiken ausgesetzt. „Alles könnte passieren“, so Kanashiro. Diese Risiken wäge man zwar ab, aber „letztendlich folgst du also deiner Intuition, deinem Herzen, deinen Überzeugungen und deinen Werten“. Für Angst bleibt in Situationen wie diesen „keine Zeit“.
Umstände ändern sich von Minute zu Minute
Doch egal, ob im Einsatz an Ort und Stelle oder in der Lagerhalle – mit Herausforderungen, wenn auch unterschiedlicher Art, ist man überall konfrontiert. Im Fall der Ukraine kämpfe man derzeit vor allem damit, sicherzustellen, dass alle richtigen Produkte zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Doch die Umstände würden sich „täglich, ja fast minütlich“, ändern, erzählt Kanashiro.
„Wir wissen nie, was in der nächsten Minute passieren wird. Nichts ist stabil. Manchmal hat man einen Plan, an einem bestimmten Punkt zu liefern, und dann muss plötzlich alles geändert werden, weil die Straße nicht mehr befahrbar ist.“ Dazu kämen globale Lieferkettenprobleme, die es schwierig machen würden, die Produkte in den benötigten Mengen innerhalb einer gewissen Zeit zu beschaffen.
Doch die Taskforce sei geübt darin, mit Unsicherheiten umzugehen, bestehe sie doch aus „Personen, die viel Erfahrung im Bereich der Notfallhilfe haben“, neben Ärzten und Ärztinnen gibt es unter anderen auch Pharmazeutinnen und Pharmazeuten. „Es handelt sich also um ein komplettes Team, das in der Lage ist, sofort medizinische Hilfe in der Region und für die betroffenen Menschen zu leisten“, erklärt Kanashiro.
Viele Probleme ab der Grenze
Humanitäre Hilfe bedarf es derzeit vor allem in Mariupol. Die zerstörte südukrainische Hafenstadt wurde zum Symbol für die katastrophale humanitäre Lage. Die verbliebenen Einwohnerinnen und Einwohner, denen eine Flucht noch nicht möglich war, harren dort ohne Wasser, Strom und medizinische Versorgung aus.
Um zu gewährleisten, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie ankommen soll, baut die NGO seit Kriegsbeginn neue Versorgungswege auf. Daran beteiligt ist Franz Luef, der seit Kurzem in der Ukraine als Einsatzleiter die Hilfsaktivitäten koordiniert. Die Zusammenarbeit mit den großen Logistikzentren in Brüssel und Bordeaux funktioniere gut, die Probleme fangen aber ab der ukrainischen Grenze an, schildert Luef im Gespräch mit ORF.at. Das beginnt etwa damit, Transportunternehmen zu finden, die bereit sind, in das Land einzureisen.
Einsatzleiter: „Sehr schwere Bedingungen vor Ort“
Vor allem geht es aber darum, Versorgungswege aufzubauen und aufrechterhalten zu können. Wie schon Kanashiro meint auch Luef: „Die große Herausforderung für uns ist es, das richtige Material – medizinisch, aber auch nicht medizinisch – an den richtigen Ort zu bringen“, erklärt der Einsatzleiter, der die vergangenen Tage in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk und der slowakischen Stadt Michalovce an der Grenze zur Ukraine verbracht hat.
„Man darf auch nicht vergessen, dass die generellen Versorgungslinien von regionalen Spitälern aufgrund des Krieges teils unterbrochen sind und Vorräte teils zuneige gehen oder schon zuneige gegangen sind.“ Konkret braucht es medizinische Ausrüstung, Medikamente zur Erstversorgung von Schusswunden, aber auch solche zur Behandlung chronischer Erkrankungen bis hin zu Decken. In Versorgungszentren nahe der Grenze werden die Hilfsgüter zu kleinen Paketen verpackt.
Bombardements entlang der Hauptversorgungsrouten erschweren den Transport jedoch enorm. Straßen und Schienen sind teils zerstört. „Ganz besonders schlimm ist es im äußersten Osten, also an der Grenze zu Russland, von Charkiw beginnend bis runter über Mariupol und knapp vor Saporischschja“, beschreibt der Einsatzleiter die Lage.
„Unsere Leute vor Ort berichten von sehr, sehr schweren Bedingungen, um dort Hilfe zu leisten.“ Die Sorge vor einer russischen Großoffensive im Osten ist zuletzt stark gewachsen, Behörden appellieren an die Menschen, die Regionen im Osten zu verlassen. Dennoch gelang es zuletzt, auch Hilfsgüter in den Osten und Süden zu bringen sowie Patientinnen und Patienten aus den Kriegsgebieten zu holen und nach Lwiw im Westen zu transportieren.
Fokus auf Ostukraine
Auf der Unterstützung von medizinischem Personal und der Versorgung von Spitälern in der Ostukraine liege auch das Hauptaugenmerk, betont Luef. Neben der Bereitstellung von Hilfsgütern helfen Ärzte ohne Grenzen bei Trainings des hiesigen Personals. Das gehe von Schulungen zu Chirurgie und Kriegschirurgie über die Erstellung von Notfallplänen im Falle eines rasanten Anstiegs an Verwundeten bis hin zu Trainings für den Fall, dass Bio- oder Nuklearwaffen eingesetzt werden.
Doch auch Menschen, die im Westen der Ukraine Zuflucht gesucht haben, unterstützt die NGO. „Dort versuchen wir besonders vulnerable Gruppen wie ältere Menschen oder chronisch Erkrankte sowie Organisationen vor Ort zu unterstützen, damit jene intern Fluchtsuchenden aufgenommen und versorgt werden können“, sagt Luef, der sich von der Solidarität der ukrainischen Bevölkerung beeindruckt zeigt. Immerhin befinden sich in der Ukraine allein mehr als sechs Millionen Binnenflüchtlinge.
„Krankenhäuser im Krieg nicht verschont“
Tatsache ist, dass gerade auch Gesundheitseinrichtungen immer wieder zum Ziel von Angriffen werden. Seit Kriegsbeginn verzeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Dutzende Angriffe, dabei kamen bis Ende März mehr als 70 Menschen ums Leben. „Wir müssen darauf hinweisen, dass Zivileinrichtungen, dass Spitäler vom internationalen Kriegsrecht geschützt sind und kein Angriffsziel sein dürfen“, sagt Luef.
„Wir sehen nur leider wieder einmal, dass Krankenhäuser und Spitäler im Krieg nicht verschont werden“, sagt er weiter. Die Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten sei freilich schwierig, „wenn dieses internationale Recht nicht respektiert, sondern missbraucht wird“. Trotz der widrigen Umstände scheinen alle Akteure, von der Logistikerin bis zum behandelnden Arzt, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die so dringend benötigte humanitäre Hilfe auch weiterhin gewährleisten zu können.