Helfer mit Kisten in einem Freiwilligencenter in Mykolaiv
AP/Petros Giannakouris
„Keine Zeit für Angst“

Wie Hilfe im Ukraine-Krieg aussieht

Mit einem Krieg in Europa haben sie nicht gerechnet. Aber sie waren vorbereitet. ORF.at sprach mit einer Logistikerin und einem Einsatzleiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen darüber, wie Hilfe im Ukraine-Krieg aussieht, was die größten Herausforderungen sind und welche Rolle Angst spielt.

Es ist eines der insgesamt drei großen Logistikzentren von Ärzte ohne Grenzen (Medecins Sans Frontieres, MSF). In der 18.000 Quadratmeter großen Lagerhalle im Norden von Brüssel finden sich all jene Hilfsgüter, ohne die ein Einsatz im Krisengebiet nicht möglich wäre. Von Medikamenten über Zelte und Decken, Notfallnahrung bis hin zu Gaffa-Tapes. Auf gelben Zetteln stehen in schwarzen Lettern die Zielländer der fertig gepackten Kartons geschrieben: Afghanistan, Libanon, Jemen und – Ukraine.

Seit Beginn des Krieges wurden von hier aus laut MSF 71 Tonnen an Hilfsgütern in die Ukraine gebracht, 14 Lastwagenladungen. „Die vergangenen Wochen waren sehr intensiv. Wir arbeiten von Montag bis Sonntag durch. Wir haben eigene Taskforces eingerichtet und haben fast täglich Meetings mit allen Akteuren“, sagt Mina Kanashiro. Sie ist zuständig für die Koordination aller Artikel und arbeitet seit vielen Jahren für Ärzte ohne Grenzen. Mit einem Krieg in Europa habe sie nicht gerechnet.

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Lagerhalle der Ärzte ohne Grenzen
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Im 18.000 Quadratmeter großen Logistikzentrum in Brüssel türmen sich mittlerweile auch Pakete für die Ukraine
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Von A wie Afghanistan bis Z wie Zentralafrikanische Republik – Pakete aus Brüssel werden in die ganze Welt transportiert
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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All diese Notfallpakete werden in die Ukraine gebracht – an welche Adresse genau, soll nicht öffentlich werden
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Um die Kühlkette sensibler Medikamente nicht zu unterbrechen, gibt es „mobile Kühlschränke“
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Im Logistikzentrum werden Artikel wie diese noch extra in einem Kühlraum auf die richtige Temperatur gebracht
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Hier, der Kühlraum
Lagerhalle der Ärzte ohne Grenzen
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Neben medizinischen Produkten fehlt es in Krisengebieten oft am Nötigsten – zum Beispiel Essen. Deshalb findet sich im Lager auch „kompakte Notfallnahrung“.
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Tausende verschiedene Artikel werden im Logistikzentrum gelagert, verpackt und dann weitertransportiert
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Um mobile Ambulanzen errichten zu können, braucht es nicht zuletzt auch die passenden Zelte – hier schon fertigverpackt
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Anti-Pilzsalbe, Malariatabletten, Spritzen – auch das Material der Ärzte scheint keine Grenzen zu kennen
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Vom Gaffa-Tape bis zum Katheter findet man in den Paketen wohl alles, was für einen Notfalleinsatz gebraucht wird
Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Neben effizienter Logistik bedarf es freilich auch einer guten Zusammenarbeit unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

„Wir wissen, wie man mit Krieg umgeht“

„Wir (MSF, Anm.) haben Erfahrungen mit dem Krieg. Wir wissen, wie man damit umgeht und haben das nötige Fachwissen. Es gibt einige grundlegende Informationen, grundlegende Schlüsselelemente, die man in einem Kriegskontext braucht. In gewisser Weise sind wir also vorbereitet, wenn auch nicht speziell auf diesen Krieg“, so Kanashiro.

Was es bedeutet, in einem Krisen- oder gar Kriegsgebiet tätig zu sein, weiß auch sie. Wer in einem „instabilen Kontext“ arbeitet, wie sie es nennt, sei großen Risiken ausgesetzt. „Alles könnte passieren“, so Kanashiro. Diese Risiken wäge man zwar ab, aber „letztendlich folgst du also deiner Intuition, deinem Herzen, deinen Überzeugungen und deinen Werten“. Für Angst bleibt in Situationen wie diesen „keine Zeit“.

Lagerhalle der Ärzte ohne Grenzen
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Mina Kanashiro kümmert sich um die Koordinierung der Produkte im Logistikzentrum, war aber auch schon selbst in Krisengebieten tätig

Umstände ändern sich von Minute zu Minute

Doch egal, ob im Einsatz an Ort und Stelle oder in der Lagerhalle – mit Herausforderungen, wenn auch unterschiedlicher Art, ist man überall konfrontiert. Im Fall der Ukraine kämpfe man derzeit vor allem damit, sicherzustellen, dass alle richtigen Produkte zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Doch die Umstände würden sich „täglich, ja fast minütlich“, ändern, erzählt Kanashiro.

„Wir wissen nie, was in der nächsten Minute passieren wird. Nichts ist stabil. Manchmal hat man einen Plan, an einem bestimmten Punkt zu liefern, und dann muss plötzlich alles geändert werden, weil die Straße nicht mehr befahrbar ist.“ Dazu kämen globale Lieferkettenprobleme, die es schwierig machen würden, die Produkte in den benötigten Mengen innerhalb einer gewissen Zeit zu beschaffen.

Doch die Taskforce sei geübt darin, mit Unsicherheiten umzugehen, bestehe sie doch aus „Personen, die viel Erfahrung im Bereich der Notfallhilfe haben“, neben Ärzten und Ärztinnen gibt es unter anderen auch Pharmazeutinnen und Pharmazeuten. „Es handelt sich also um ein komplettes Team, das in der Lage ist, sofort medizinische Hilfe in der Region und für die betroffenen Menschen zu leisten“, erklärt Kanashiro.

Lager von Ärzte ohne Grenzen
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Hier werden die Hilfsgüter gelagert und verpackt – im Fall der Ukraine werden sie per Lkw in die betroffenen Städte und Dörfer transportiert

Viele Probleme ab der Grenze

Humanitäre Hilfe bedarf es derzeit vor allem in Mariupol. Die zerstörte südukrainische Hafenstadt wurde zum Symbol für die katastrophale humanitäre Lage. Die verbliebenen Einwohnerinnen und Einwohner, denen eine Flucht noch nicht möglich war, harren dort ohne Wasser, Strom und medizinische Versorgung aus.

Um zu gewährleisten, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie ankommen soll, baut die NGO seit Kriegsbeginn neue Versorgungswege auf. Daran beteiligt ist Franz Luef, der seit Kurzem in der Ukraine als Einsatzleiter die Hilfsaktivitäten koordiniert. Die Zusammenarbeit mit den großen Logistikzentren in Brüssel und Bordeaux funktioniere gut, die Probleme fangen aber ab der ukrainischen Grenze an, schildert Luef im Gespräch mit ORF.at. Das beginnt etwa damit, Transportunternehmen zu finden, die bereit sind, in das Land einzureisen.

Versorgungslager in der Ukraine
MSF/Sarah Dunst
Versorgungslager in der Ukraine

Einsatzleiter: „Sehr schwere Bedingungen vor Ort“

Vor allem geht es aber darum, Versorgungswege aufzubauen und aufrechterhalten zu können. Wie schon Kanashiro meint auch Luef: „Die große Herausforderung für uns ist es, das richtige Material – medizinisch, aber auch nicht medizinisch – an den richtigen Ort zu bringen“, erklärt der Einsatzleiter, der die vergangenen Tage in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk und der slowakischen Stadt Michalovce an der Grenze zur Ukraine verbracht hat.

Franz Luef
Philipp Horak
Franz Luef, Einsatzleiter bei Ärzte ohne Grenzen

„Man darf auch nicht vergessen, dass die generellen Versorgungslinien von regionalen Spitälern aufgrund des Krieges teils unterbrochen sind und Vorräte teils zuneige gehen oder schon zuneige gegangen sind.“ Konkret braucht es medizinische Ausrüstung, Medikamente zur Erstversorgung von Schusswunden, aber auch solche zur Behandlung chronischer Erkrankungen bis hin zu Decken. In Versorgungszentren nahe der Grenze werden die Hilfsgüter zu kleinen Paketen verpackt.

Bombardements entlang der Hauptversorgungsrouten erschweren den Transport jedoch enorm. Straßen und Schienen sind teils zerstört. „Ganz besonders schlimm ist es im äußersten Osten, also an der Grenze zu Russland, von Charkiw beginnend bis runter über Mariupol und knapp vor Saporischschja“, beschreibt der Einsatzleiter die Lage.

„Unsere Leute vor Ort berichten von sehr, sehr schweren Bedingungen, um dort Hilfe zu leisten.“ Die Sorge vor einer russischen Großoffensive im Osten ist zuletzt stark gewachsen, Behörden appellieren an die Menschen, die Regionen im Osten zu verlassen. Dennoch gelang es zuletzt, auch Hilfsgüter in den Osten und Süden zu bringen sowie Patientinnen und Patienten aus den Kriegsgebieten zu holen und nach Lwiw im Westen zu transportieren.

Medizinisch ausgerüsteter Zug von MSF in Lwiw
MSF
Ärzte ohne Grenzen brachte kürzlich erstmals neun Patienten, die bei Fluchtversuchen aus Mariupol verletzt worden waren, per Zug nach Lwiw

Fokus auf Ostukraine

Auf der Unterstützung von medizinischem Personal und der Versorgung von Spitälern in der Ostukraine liege auch das Hauptaugenmerk, betont Luef. Neben der Bereitstellung von Hilfsgütern helfen Ärzte ohne Grenzen bei Trainings des hiesigen Personals. Das gehe von Schulungen zu Chirurgie und Kriegschirurgie über die Erstellung von Notfallplänen im Falle eines rasanten Anstiegs an Verwundeten bis hin zu Trainings für den Fall, dass Bio- oder Nuklearwaffen eingesetzt werden.

Doch auch Menschen, die im Westen der Ukraine Zuflucht gesucht haben, unterstützt die NGO. „Dort versuchen wir besonders vulnerable Gruppen wie ältere Menschen oder chronisch Erkrankte sowie Organisationen vor Ort zu unterstützen, damit jene intern Fluchtsuchenden aufgenommen und versorgt werden können“, sagt Luef, der sich von der Solidarität der ukrainischen Bevölkerung beeindruckt zeigt. Immerhin befinden sich in der Ukraine allein mehr als sechs Millionen Binnenflüchtlinge.

„Krankenhäuser im Krieg nicht verschont“

Tatsache ist, dass gerade auch Gesundheitseinrichtungen immer wieder zum Ziel von Angriffen werden. Seit Kriegsbeginn verzeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Dutzende Angriffe, dabei kamen bis Ende März mehr als 70 Menschen ums Leben. „Wir müssen darauf hinweisen, dass Zivileinrichtungen, dass Spitäler vom internationalen Kriegsrecht geschützt sind und kein Angriffsziel sein dürfen“, sagt Luef.

„Wir sehen nur leider wieder einmal, dass Krankenhäuser und Spitäler im Krieg nicht verschont werden“, sagt er weiter. Die Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten sei freilich schwierig, „wenn dieses internationale Recht nicht respektiert, sondern missbraucht wird“. Trotz der widrigen Umstände scheinen alle Akteure, von der Logistikerin bis zum behandelnden Arzt, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die so dringend benötigte humanitäre Hilfe auch weiterhin gewährleisten zu können.