Pro-russischer Militärkonvoi
Reuters/Alexander Ermochenko
Nächste Phase im Krieg

„Wettlauf mit der Zeit“ für beide Seiten

Nach der Entscheidung Russlands, den Vorstoß nach Kiew aufzugeben, positionieren sich derzeit beide Kriegsparteien um. Während der Krieg vor allem im Osten und Süden weitergeht, hat für Russland wie die Ukraine ein „Wettlauf mit der Zeit“ begonnen, analysiert Oberst Berthold Sandtner gegenüber ORF.at – unter anderem um Waffenlieferungen, wie sie die NATO nun angekündigt hat. Und es gibt Hinweise, dass Russland davon ausgeht, dass der Krieg noch länger dauern wird.

Es gebe derzeit unterschiedliche Einschätzungen, wann Russland die „Bereitstellung“, sprich die Neuaufstellung der Armee, abgeschlossen haben wird und mit der angekündigten Offensive in der Ostukraine beginnt. Sandtner geht eher davon aus, dass Russland in sechs bis sieben Tagen, also rund um Ostern, seine Angriffe dort stark intensivieren wird. Es gebe aber auch Einschätzungen, die Richtung Mai gingen.

Dagegen sprechen aus Sicht des Bundesheerexperten aber mehrere Gründe: Je länger Russland zuwarte, desto weicher würde der Boden werden, was die Gefahr erhöht, mit Panzern und anderem schwerem Fahrzeug im Gelände steckenzubleiben. Je mehr Zeit vergeht, desto besser kann sich auch die ukrainische Armee umgruppieren – also Truppen aus Kiew und Umgebung nach Osten bringen, denn die Brücken über den Dnjepr seien noch intakt. Und mit jedem weiteren Tag könne der Westen der Ukraine auch mehr Waffen liefern.

Rekrutieren Tausender Freiwilliger

Michael Kofman, auf Russland spezialisierter US-Militärexperte, betonte zuletzt, die russische Armee habe zwar genügend Waffen, aber es sei mittlerweile knapp bei der Mannstärke – zumindest ohne Mobilisierung. Dazu bestätigte Sandtner, dass Russland derzeit „eher verschleiert“ Freiwillige rekrutiere und dabei auch relativ erfolgreich sei. Es sollen sich bereits Tausende, großteils ehemalige Soldaten gemeldet haben. In Russland werde das aber nicht als Teilmobilmachung dargestellt. Diese neuen Soldaten seien freilich nicht gleich fronttauglich. Sie müssten erst ausgerüstet und trainiert werden. Andererseits wisse man auch, „dass Russland nicht zimperlich ist, schlecht Ausgebildete an die Front zu schicken“.

Grafik zur militärischen Lage in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW/liveuamap/BBC

Kein schnelles Kriegsende

Dass Russland Freiwillige wirbt, lässt laut Sandtner aber den Schluss zu, dass Moskau nicht mehr davon ausgeht, die Ukraine in einem „Blitzkrieg“ besiegen zu können – auch nicht in der nächsten Phase des Krieges, die sich nach der Umgruppierung auf den Osten konzentrieren dürfte. Russisches Minimalziel des Krieges ist laut Sandtner die vollständige Eroberung der beiden Oblaste Donezk und Luhansk sowie ein „stabiler Korridor“ via Mariupol zur Krim.

Nach einer etwaigen erfolgreichen Eroberung dieser Gebiete brauche es viele Soldaten, um diese halten und kontrollieren zu können. Denn das Gros der Bevölkerung sei Russland gegenüber feindlich eingestellt.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte unterdessen am Mittwoch, das Bündnis rechne mit einem noch lange anhaltenden Krieg in der Ukraine. Man müsse sich bewusst darüber werden, dass der Krieg noch „viele Monate oder sogar Jahre“ andauern könne.

Neuaufstellung zwischen Kursk und Belgorod

Laut dem Bundesheerexperten Sandtner bringt Russland derzeit die aus der Umgebung von Kiew und Tschernihiw abgezogenen Truppen – teils direkt, teils über Belarus – in das Aufmarschgebiet in Russland nordöstlich der Ukraine, konkret: in das Gebiet zwischen Belgorod und Kursk.

Der US-Thinktank Institute of the Study of War (ISW) verwies zuletzt auf die nicht überprüfbare Vermutung ukrainischer Aufklärungsdienste, Moskau wolle Truppen, die an den mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Butscha beteiligt oder Zeugen waren, absichtlich im Osten an die Front stellen, damit diese dort getötet werden.

„Völlig logisch, dass diese Truppen eingesetzt werden“

Sandtner betonte hierzu lediglich, es sei „völlig logisch, dass diese Truppen eingesetzt werden“. Die Einheiten seien mittlerweile wohl bereits großteils im Großraum Kursk-Belgorod, wo die Neuaufstellung erfolge. Die Truppen müssen neu ausgerüstet werden. Bei starken Verlusten könnten Einheiten zusammengelegt werden. Russland brauche die Soldaten für die Offensive.

Ukrainische Truppe im Osten „abgenützt“

Umgekehrt hätte aber auch die Ukraine sehr wohl ein Mannstärke-Problem, widerspricht Sandtner der Einschätzung Kofmans, die Ukraine habe Mangel an Material, aber nicht an Soldaten. Nicht umsonst habe es bereits zwei Teilmobilisierungen gegeben. Gerade die Einheiten, die an der Kontaktlinie – der Waffenstillstandslinie nach dem Krieg 2014 – im Osten im Einsatz sind, seien bereits „sehr abgenützt“. Dabei handelt es sich um die kampferprobtesten Einheiten. Ihnen droht nun mit der bevorstehenden russischen Offensive die Einkesselung. Als Erstes dürfte Russland versuchen, Slowjansk zu erobern und so eine Verbindungslinie mit den Truppen der Separatisten südlich davon zu schaffen.

Und anders als Russland fehlt es für diese bevorstehenden Kämpfe der Ukraine vor allem an Großgerät: Kampf- und Schützenpanzer, bewaffnete Drohnen und Flugabwehrsysteme wie das S-300 „gehen der Ukraine wirklich ab“, so Sandtner. Die materielle Lage der Ukraine sei offenbar „nicht sehr günstig“. Schweres Gerät brauche es aber für eine „nachhaltige Abwehr“.

Logistisches Problem

Die Ukraine und der Westen hätten hier aber auch ein logistisches Problem. Denn Großgerät lasse sich „nicht einfach in einem Lieferwagen verstecken“. Damit aber drohten russische Luftangriffe auf Waffentransporte.

Laut dem Vizechef des US-Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS), Seth Jones, stellte das bisher kein ernsthaftes Problem dar. Die Ukraine habe eine Hunderte Kilometer lange Grenze mit den NATO-Staaten Polen, Slowakei und Rumänien, über die der Westen Waffen liefern könne. Die „nadelstichartigen“ russischen Raketenangriffe im Westen der Ukraine hätten den Nachschub nicht stoppen können, so Jones vor wenigen Tagen in einem Kommentar im „Time“-Magazin. Auch Jones betont aber, dass Moskau die Schläge auf westliche Nachschublinien wohl intensivieren wird.

Sandtner gibt zudem zu bedenken, dass etwa die nun von Prag offenbar bereitgestellten T72-Panzer nicht baugleich seien wie die ukrainischen. Mannschaften müssten erst eingeschult werden. Dazu verweist Sandtner darauf, dass bei jedem Panzer, der im Kampf zerstört wird, man auch davon ausgehen muss, dass die Besatzung getötet wurde. Auch von den Russen eroberte Panzer – laut „New York Times“ und Militäranalyse-Website Oryx vom Wochenende waren es mehr als 160 – sind wohl kaum eine Hilfe: Sie müssen ja erst repariert, bemannt und an den Einsatzort gebracht werden.

Generalmajor Hofbauer über die Strategie der russischen Armee

Der Militärstratege und Generalmajor Bruno Hofbauer vom Bundesheer spricht unter anderem über die Strategien der russischen Armee im Krieg gegen die Ukraine und über seine Einschätzung, wie lange dieser Krieg dauern wird.

Der CSIS-Experte Jones befürchtet, dass Russland weiter eskalieren wird: Durch noch stärkere Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder den Einsatz von Chemie- oder Nuklearwaffen. Er schließt selbst Angriffe auf ein NATO-Land wie Polen nicht aus. Das ist letztlich alles Spekulation.

Einig sind sich aber alle Fachleute, dass die Ukraine – insbesondere was Luftstreitkräfte und Marine betrifft – entscheidend geschwächt ist und generell dringend Waffennachschub braucht, um Russland weiter Widerstand leisten zu können. Nach der Umgruppierung wird Russland im Osten – dank der Verstärkungen – mit massierter Wucht angreifen. Auch die NATO hat das erkannt, und mehrere Mitgliedsstaaten haben sich nun erstmals zur Lieferung von schweren Waffen durchgerungen. Bleibt abzuwarten, ob die hier verlorene Zeit noch aufzuholen ist.