Die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson und ihre finnische Amtskollegin Sanna Marin
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Debatte in Schweden und Finnland

NATO-Beitritt als Schutzschild in Reichweite

Obwohl der russische Präsident Wladimir Putin seit Jahren gegen die Ausweitung des Militärbündnisses NATO auftritt, bewirkt sein Einmarsch in die Ukraine nun genau das Gegenteil: Finnland steht laut Medienberichten kurz vor einem Beitrittsansuchen, auch das einst neutrale Schweden hält eine Mitgliedschaft für „nicht ausgeschlossen“. Russland droht im Falle eines Beitritts mit militärischen Konsequenzen.

Bei einem Treffen der 30 Außenminister der Bündnisstaaten in Brüssel am 6. April stellte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Finnland und Schweden für den Fall einer Bitte um Aufnahme eine zügige positive Antwort in Aussicht. Man arbeite bereits seit vielen Jahren zusammen, und die beiden Länder erfüllten die Standards des Verteidigungsbündnisses. Schweden und Finnland seien die „engsten Partner“.

Sorgen, dass Russland die Zeit zwischen einer möglichen Bewerbung und der endgültigen Aufnahme für einen Angriff auf die Länder nutzen könnte, sollten nach Ansicht Stoltenbergs kein Argument gegen einen Beitritt sein. „Ich bin sicher, wir werden Wege finden, um ihre Bedenken bezüglich der Zeit zwischen einem möglichen Antrag und der endgültigen Ratifikation auszuräumen“, sagte er.

Finnland laut Bericht kurz vor Beitrittsansuchen

Informationen der finnischen Zeitung „Iltalehti“ zufolge steht die Absicht der Regierung unter Ministerpräsidentin Sanna Marin und Staatspräsident Sauli Niinistö zum NATO-Betritt in einem Annex zu dem am Donnerstag erwarteten Außen- und Sicherheitspolitischen Zusatzbericht des entsprechenden Parlamentsausschusses.

Die sozialdemokratische Premierministerin Marin sagte im März, dass die Regierung in ihrem Bericht keine Empfehlung für oder gegen den NATO-Beitritt aussprechen werde. Stattdessen solle das Parlament auf Grundlage des Berichts Vor- und Nachteile abwägen, sodass sich daraus im besten Fall ein nationaler Konsens ergeben werde. Zuletzt hatte sich auch die traditionell NATO-skeptische Zentrumspartei für eine mögliche Mitgliedschaft in dem Verteidigungsbündnis ausgesprochen.

Jens Stoltenberg  und  Finnlands Premierministerin Sanna Marin
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NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit der finnischen Premierministerin Sanna Marin im Oktober 2021

Dem Zeitungsbericht zufolge könnte das finnische Ansuchen in der ersten Mai-Hälfte oder sogar noch davor erfolgen. Voraussetzung ist allerdings, dass das Vorhaben im Parlament eine solide Mehrheit erhält. Niinistö rechnet mit einer parlamentarischen Mehrheit für einen baldigen Antrag seines Landes auf NATO-Mitgliedschaft. Marin sagte am Samstag mit Blick auf die Sicherheitslage, man müsse in diesem Frühjahr einen Entschluss fassen. Die Regierung will noch vor Ostern einen sicherheitspolitischen Bericht vorlegen.

Finnland will sich mit Schweden abstimmen

Staatspräsident Niinistö sieht keine Notwendigkeit eines Referendums oder einer offiziellen Meinungsumfrage mehr. Es sei bereits klar, dass die Bevölkerung mehrheitlich hinter einem Beitritt des Landes zu dem Verteidigungsbündnis stehe, sagte Niinistö im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksender Yle.

Bis Ende vergangenen Jahres habe er dazu eine andere Meinung gehabt, doch das habe sich inzwischen geändert, so der Staatschef des skandinavischen Landes. Niinistö betonte aber, es sei wichtig, dass sich Finnland in dieser Frage mit Schweden abstimme und die beiden Länder zu demselben Schluss kämen. Er habe sich dazu bereits mehrfach mit der schwedischen Premierministerin Magdalena Andersson beraten, weitere Gespräche stünden an.

Meinungswandel in der Bevölkerung

Sowohl in Finnland als auch in Schweden zeichnet sich Umfragen zufolge der Zuspruch der Mehrheit der Bevölkerung zu einem NATO-Beitritt ab. Gab im Jänner noch jeder dritte finnische Befragte in einer Yle-Umfrage an, für einen NATO-Beitritt seines Landes zu sein, war es Anfang März erstmals mehr als die Hälfte.

Ein historisches Ergebnis, wie der finnische Sender urteilte, das durchaus langfristige verteidigungspolitische Folgen haben könnte. „Bis vor Kurzem waren es nur 24 bis 28 Prozent. Wenige Wochen später haben wir eine Mehrheit von 53 Prozent, das ist absolut verblüffend“, sagte auch der außenpolitische Berater der finnischen Oppositionspartei Nationale Sammlungspartei, Henri Vanhanen, gegenüber der Deutschen Welle. Auch der Anteil jener Schwedinnen und Schweden, die einem NATO-Beitritt zustimmen, stieg von 32 Prozent im Jahr 2017 auf aktuell 41 Prozent.

Grafik zum NATO-Beitritt von Finnland und Schweden
Grafik: ORF.at; Quelle: Taloustutkimus/YLE; Novus

Schweden: Beitritt nicht ausgeschlossen

„Ich schließe einen Beitritt zur NATO keineswegs aus“, sagte die schwedische Premierministerin in einem Ende März ausgestrahlten Interview mit dem Sender SVT. Am 8. März hatte Andersson zuletzt eine Kontroverse mit der Äußerung ausgelöst, eine Bewerbung Schwedens um Aufnahme in das Militärbündnis könne sich „destabilisierend“ auf die Situation in Nordeuropa auswirken. Die weiteren Entwicklungen in der Ukraine und der Meinungswechsel in der Bevölkerung scheinen ihre Haltung jedoch geändert zu haben.

In Schweden wird erwartet, dass die NATO-Frage den Wahlkampf im Sommer bestimmen wird, da im September ein neues Parlament gewählt wird. Oppositionsführer Ulf Kristersson hat bereits angekündigt, im Falle eines Wahlsieges einen Antrag auf Mitgliedschaft in dem Bündnis stellen zu wollen.

Schwedische Soldaten und Soldatinnen bei einer NATO-Übung
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1.500 schwedische Soldatinnen und Soldaten beteiligen sich an der NATO-Militärübung „Cold Response 22“

Im schwedischen Parlament zeichnet sich eine Mehrheit für einen möglichen NATO-Beitritt des Landes ab. Der Parteichef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten, Jimmie Akesson, sagte in einem Interview mit „Svenska Dagbladet“, er werde seiner Partei empfehlen, ihren Widerstand gegen die NATO aufzugeben, falls Finnland beitritt. In diesem Fall hätten die NATO-Befürworter im Reichstag die Mehrheit.

Finnische und schwedische Konservative für Beitritt

Petteri Orpo, Vorsitzender der finnischen Nationalen Sammlungspartei, und der schwedische Oppositionsführer Kristersson werden laut der Plattform Euractiv gemeinsam eine Arbeitsgruppe leiten, die sich für den Beitritt einsetzen wird. Auch Politiker aus den NATO-Mitgliedsländern Norwegen und Dänemark haben bereits angekündigt, die Initiative zu unterstützen. „Bitte, liebes Finnland, führe uns zur NATO“, positionierte sich auch der schwedische Boulevard Anfang April in der Debatte.

„Unser Ziel ist es, dass Finnland und Schweden so bald wie möglich einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft stellen. Idealerweise bereits im Zusammenhang mit dem Madrider Gipfel Ende Juni. In Finnland hoffen immer mehr Menschen auf einen zügigen und entschlossenen NATO-Prozess. Wir unsererseits sehen diesen Weg auch für Schweden vor“, schrieb Orpo auf der Website seiner Partei. Bis spätestens zur finnischen Parlamentswahl in einem Jahr wünschen sich die Konservativen der beiden Länder eine Mitgliedschaft.

Finnische Soldaten drehen während des Militärmanövers „Cold Response 22“ ein Geschütz
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Bei der „Cold Response“-Übung sollten Finnland und Schweden die Rolle des „Feindes“ bei einem Überfall darstellen

Bruch mit alten Traditionen

Obwohl Schweden und Finnland bereits in der Vergangenheit eng mit der NATO kooperierten und an gemeinsamen Militärübungen teilnahmen, würde eine Mitgliedschaft einen großen Bruch mit der bisherigen Neutralitätstradition bedeuten, vor allem für die Sozialdemokraten, deren Strategie bisher von Dialog mit Russland und Entspannungspolitik geprägt war.

Laut Anna Wieslander, Vorsitzende des Institute for Security and Development Policy in Stockholm, ist eine parlamentarische Mehrheit für einen Beitritt schwer zu erreichen. „Die Parteien nehmen in dieser Frage sehr gegensätzliche Positionen ein“, so Wieslander gegenüber der Deutschen Welle. Zwar würden sich die rechtsgerichteten Parteien für eine NATO-Mitgliedschaft aussprechen, die Sozialdemokraten, Grünen und die rechtspopulistischen Schwedendemokraten seien jedoch dagegen.

Russland droht im Falle eines Beitritts

Wladimir Dschabarow vom russischen Oberhaus sagte kürzlich laut der Nachrichtenagentur RIA, dass ein NATO-Beitritt Finnlands ein „strategischer Fehler“ wäre. Finnland habe enge Beziehungen zu Russland entwickelt, aber eine NATO-Mitgliedschaft würde bedeuten, „dass es zu einem Ziel wird“.

„Ich glaube, es wäre eine schreckliche Tragödie für das gesamte finnische Volk“, sagte Dschabarow. Es sei jedoch unwahrscheinlich, dass „die Finnen selbst eine Karte für die Zerstörung ihres Landes unterschreiben werden“, schrieb er in einem Kommentar. Am 12. März hatte das russische Außenministerium laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax erklärt, dass ein NATO-Beitritt der beiden Länder „ernste militärische und politische Konsequenzen“ haben werde.