Der norwegische Starautor Karl Ove Knausgard
picturedesk.com/dpa/Horst Galuschka
Buchrezension

Mit Knausgard in die Apokalypse

Karl Ove Knausgard ist ins Romanfach zurückgekehrt: „Der Morgenstern“ ist das erste fiktive Werk des norwegischen Starautors seit vielen Jahren. Verhandelt wird das Verhältnis der Menschheit zu Gott und der Welt – und die Apokalypse. Einen Roman im herkömmlichen Sinn sollte man sich allerdings nicht erwarten, denn Knausgard bleibt seinem sehr speziellen Stil auch hier ganz und gar treu.

Bekannt ist Knausgard in erster Linie für seine autofiktionalen Werke, und da vor allem für das sechsbändige Mammutwerk „Min Kamp“, das auf Deutsch verständlicherweise unter anderen Titeln, angefangen mit „Sterben“, erschien. Mit dieser Nabelschau und seinem ausufernden, intuitiven Schreibstil gelangte er zu literarischem Weltruhm.

Mit „Der Morgenstern“ legt er einen scheinbar konventionellen Roman, gar einen Genreroman vor. Allerdings: Konventionell ist hier gar nichts. Knausgard behält auch im Roman den wuchernden, kontemplativ-detailverliebten Stil der autobiografischen Bücher bei und pfeift weitgehend auf Formalitäten wie Stringenz und Personenführung.

Seltsames geschieht

Schon das vorangestellte Zitat, eine Bibelstelle aus der Offenbarung, verrät: Hier geht es um die Apokalypse. „In jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber nicht finden; sie werden sterben wollen, aber der Tod wird vor ihnen fliehen.“ (Offb 9,6) Das Zitat ist Programm. Seltsames geschieht während zweier Tage im spätsommerlichen Norwegen, und mit Krieg oder einer Pandemie hat es nichts zu tun.

Knausgard versammelt in „Der Morgenstern“ gleich neun verschiedene Ich-Erzählerinnen und -Erzähler, und auch mit dem Umfang geizt er nicht: Die deutschsprachige Ausgabe bringt es auf 896 Seiten, bei der englischsprachigen sollen es 666 sein – was durchaus Sinn ergäbe, denn Tod und Teufel spielen hier eine große Rolle. Schon in „Alles hat seine Zeit“ (2004), einem Roman über Engel, bewies Knausgard seine Bibelfestigkeit, und auch in „Der Morgenstern“ finden sich nicht weniger als 17 Bibelzitate.

Vertrautes aus dem Knausgard-Universum

Zunächst läuft die Handlung geruhsam und ganz weltlich an, und wer das Knausgard-Universum kennt, findet viel Vertrautes: Uniprofessor Arne muss miterleben, wie seine Frau in einer Psychose versinkt und sehr seltsame Dinge mit Katzen tut. Pfarrerin Kathrine hadert mit Gott und ihrer trostlosen Ehe. Eigenbrötler Egil kümmert sich widerwillig um seinen Sohn und schreibt einen Essay. Journalist Jostein ist einem Ritualmord auf der Spur, während seine Frau, die Pflegerin Turid, eine Nachtschicht der anderen Art in einer psychiatrischen Anstalt schiebt.

Buchcover von „Der Morgenstern“ von Karl Ove Knausgard
ORF.at

Buchhinweis

Karl Ove Knausgard: Der Morgenstern. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, 896 Seiten, 28 Euro.

Den alltäglichen Handlungen seiner Figuren räumt Knausgard im Roman fast so viel Platz ein wie in seinen autofiktionalen Texten: So dürfen gemächlich und über ganze Absätze hinweg Teller und Besteck abgewaschen, Essen und Getränke im Supermarkt eingekauft, nach Hause getragen und zubereitet, unzählige Tassen Kaffee getrunken und sehr viele Zigaretten (die in der deutschen Übersetzung oft zu „Fluppen“ werden) geraucht werden. Auch ein gelegentlicher Gang zur Toilette wird nicht ausgespart.

Gerade durch diese ruhigen Schilderungen des Alltagslebens ganz gewöhnlicher Menschen erzielt Knausgard den bekannten „hypnotischen“ Effekt, wie der „New Yorker“ den Sog bezeichnet, mit dem seine „Min Kamp“-Bücher und die „Jahreszeiten“-Reihe viele Leserinnen und Leser in ihren Bann ziehen.

Zudringliche Marienkäfer

Neu ist in „Der Morgenstern“ die drohende Apokalypse – oder was immer es ist, das der neue Stern ankündigt. Sie ist der Kitt, der die Geschichten zusammenhält. Kleinere und größere Störungen mischen sich in den ruhigen Fluss des Stadt- und Landlebens rund um die Stadt Bergen: Krebse krabbeln in Scharen an Land, Doppelgänger tauchen auf, Vögel werden dämonisch und Marienkäfer zudringlich. Menschen, die eigentlich tot sein sollten, leben weiter, und an drei jugendlichen Satanisten wird ein grauenhaftes Verbrechen verübt.

Das deutlichste, für alle sichtbare Zeichen ist jedoch der titelgebende Stern, der unversehens am Himmel auftaucht und für den die Wissenschaft anscheinend keine Erklärung hat – was im Roman niemanden groß aufregt. „Ein Stern. Ein Megastern. Gab es ihn? War er real? Oder bildete ich mir auch das nur ein?“, sinniert eine Protagonistin, nur um auf derselben Seite zu befinden: „Ein Megastern. Und es gab ihn wirklich.“ Das Phänomen wird bestaunt und kommentiert, aber in „Der Morgenstern“ findet sich kaum ein Hinweis auf den medialen Widerhall, den ein solches Ereignis doch eigentlich nach sich ziehen müsste.

Das Gute oder das Böse?

Das verwundert weniger, als man denken würde, denn Knausgards Figuren kreisen ganz um sich selbst und ihre jeweilige kleine Welt. Sie alle haben ihre eigene Stimme, und sie alle hören sich mehr oder weniger wie Knausgard an. Die Familien sind dysfunktional, Mütter und Väter versagen oder sind abwesend, sie fahren betrunken Auto, lügen, saufen, betrügen, stehlen Psychopharmaka und bemitleiden sich selbst.

Der norwegische Starautor Karl Ove Knausgard
APA/AFP/Daniel Roland
Unheimliche Zeichen: Der norwegische Schriftsteller Knausgard

Die unheimlichen Zeichen, die sich im Laufe der Erzählung verdichten, weisen auf das Auftauchen von etwas Bösem hin. Der Morgenstern selbst, so erklärt Knausgard durch seine Figur Egil, kann beides bedeuten, das Gute oder das Böse. Jesus Christus wird in der Bibel mit dem Licht des Morgensterns in Zusammenhang gebracht, unter anderem in der Offenbarung, aber auch ein anderer kommt infrage: Schließlich bedeutet Luzifer „Lichtträger“.

Ein Hauch von Stephen King durchzieht das Buch, für echten Horror reicht es in „Der Morgenstern“ aber doch nicht. Zum Ende hin bekommt die Bedrohung noch einen rationalen Namen: „Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht an die Klimakrise glauben, nicht wirklich, nicht daran, dass sie in meiner Lebensspanne eintreffen würde.“ Schließlich wird das Buch noch einmal richtig philosophisch.

Viele Plotlinien

Streckenweise wünschte man, der Verlag hätte Knausgard zu ein paar Kürzungen geraten (und womöglich hat er das sogar schon getan). Im Lauf der Lektüre kommt irgendwann die Frage auf, wie und wann der Autor seine vielen Plotlinien eigentlich zu einem Ende führen will. Der Eindruck, der Verlag habe seinen Starautor völlig von der Leine gelassen, verfestigt sich spätestens, wenn noch auf Seite 637 neue Figuren eingeführt werden.

Das mag auf eine Fortsetzung hinweisen, die Hoffnung, dann alle losen Fäden aufgerollt zu bekommen, ist aber nur ein kleiner Trost. Auch stilistisch ist „Der Morgenstern“ kein großes Meisterwerk, und so bleibt neben einigen gelungenen unheimlichen Szenen und vielen Gedanken über Tod und Jenseits vor allem der „Knausgard-Effekt“ übrig, der seine Fans in „Der Morgenstern“ sicher gut unterhält.