EU-Anstecker auf gelb-blauer Schleife
Reuters/Yves Herman
EU-Position im Ukraine-Krieg

„Die große Einheit ist vorbei“

Auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine hat die EU mit einer seltenen Einigkeit reagiert. Inzwischen wird das sechste Sanktionspaket verhandelt. Es gab eine rasche Einigung, welche Rechte ukrainische Flüchtlinge in der EU haben, und es wurde humanitäre Hilfe geleistet. Das bedeutet aber nicht, dass alle Konflikte bereinigt sind, viel mehr sind auch neue Bruchlinien entstanden. „Die große Einheit ist vorbei“, stellt der EU-Experte Gustav Gressel fest.

Es gibt Bewegung zwischen Allianzen mehrerer Staaten, aber auch in der traditionellen Achse Deutschland und Frankreich. Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) wie auch Sophie Pornschlegel vom European Policy Centre (EPC) sehen im ORF.at-Interview als entscheidend für die weitere Entwicklung an, ob aus der französischen Präsidentschaftswahl Amtsinhaber Emmanuel Macron oder die rechtspopulistische Marine Le Pen als Sieger hervorgeht. Ein Macron-Sieg sei nicht ganz sicher, so die Politologin Pornschlegel.

Je tiefer die Sanktionen gehen, desto schwieriger die Entscheidungen. Vor allem das Energieembargo hängt derzeit in der Luft. Schon bei der ersten Runde an Sanktionen habe es Druck auf Ungarn, Deutschland und Österreich gegeben, so Gressel. Einem Öl-, vor allem aber Gasembargo treten diese Staaten aber nun vehement entgegen. Die größte Kritik gibt es gegenüber Deutschland, auch wenn kleinere Länder wie Österreich ebenfalls auf der Bremse stehen. Pornschlegel: „Wenn sich Deutschland nicht bewegt, gibt es keine Einigung.“ Auch sie führt das schnelle erste geeinte Auftreten der EU auf den Krisenmoment zurück, der nun zu Ende sei.

Deutscher Kanzler Olaf Scholz
APA/AFP/John Macdougall
Der deutsche Kanzler Olaf Scholz will derzeit nichts von einem Öl- oder Gasembargo wissen

Gressel erwartet, dass sich die Sonderrolle Deutschlands auf die EU auswirken werde: „Frankreich ist gut, Koalitionen gegen Deutschland zu schmieden.“ Da befinde man sich bereits in einer Frühphase. Die Niederlande, aber auch die nordischen Staaten und das Baltikum, bisher aufseiten von Deutschland, zeigen sich gesprächsbereit. Aber das sei eine Frage von Monaten und Jahren, so der Politologe.

Koalitionen gegen Deutschland, Österreich und Ungarn

Eigentlich müssen EU-Sanktionen einstimmig beschlossen werden. Doch schon im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim 2014 durch Russland wurde ein möglicher Ausweg aus der Vetomöglichkeit einzelner EU-Staaten entwickelt – über von einzelnen Staaten verhängte Sanktionen. Einige Länder wie Polen und baltische Staaten sind mit dem Kappen von Energielieferungen aus Russland bereits vorgeprescht. Eine breite Front unilateraler Sanktionen von EU-Staaten gegen Russland in dieser Frage hält Gressel aber für unwahrscheinlich. Eigentlich widerspricht dieser Schritt dem EU-Recht, der allerdings von der Kommission nicht geahndet werde.

Aber wenn der Großteil der EU-Länder Energie sanktioniert, dann hätten Staaten wie Deutschland und Österreich, die weiter am billigeren russischen Gas festhielten, einen Wettbewerbsvorteil. Dann müsste man Strafzölle verhängen, was aufgrund des Binnenmarkts nicht möglich sei, analysiert Gressel: „Es müssen andere Koalitionen geschlossen werden gegen Ungarn, Deutschland, Österreich und der Druck erhöht werden. Aber da vergeht viel Zeit, in der der Krieg stattfindet und Russland sich vorbereiten kann.“

Alte Ressentiments kochen wieder auf

Pornschlegel beobachtet ein Auftreten alter Ressentiments auch aus südeuropäischen Ländern gegenüber Deutschland. In der Euro-Krise habe Deutschland diesen Ländern vorgehalten, dass sie sparen müssten, weil sie in Bezug auf ihre Staatsschulden sich nicht gut vorbereitet hätten. Jetzt heiße es gegenüber Berlin, dass es nun kein Energieembargo wolle, weil es Deutschland nicht geschafft habe, die Abhängigkeit von russischer Energie zu reduzieren.

Protest anlässlich des Ukraine-Kriegs in Brüssel am 22. März
AP/Geert Vanden Wijngaert
Bei der Frage eines Öl- und Gasembargos gegen Russland ist die EU gespalten

Abseits unilateraler Sanktionen wird auch immer wieder die Möglichkeit einer Abstimmung nach qualifizierter Mehrheit ins Spiel gebracht, die in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik möglich ist, wenn „strategische Interessen der Union“ betroffen sind. Ob das auch im Fall von Sanktionen anwendbar ist, sei „rechtlich schwierig“, meint ein EU-Beamter gegenüber dem Nachrichtenportal Euractiv, da es „davon abhängt, unter welches Sanktionssystem und die damit verbundenen Kriterien“ das fallen würde. Weitere Energiesanktionen würden demzufolge wahrscheinlich auf Ebene der Staats- und Regierungschefs entschieden werden.

Bruch innerhalb der Visegrad-Staaten

Nicht nur gegen ein Öl- und Gasembargo, sondern weit prorussischer tritt Ungarn auf. Das führte auch zu Rissen in einer vor allem mit der Flüchtlingskrise stark gewordenen Allianz der Visegrad-Staaten bestehend aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei. Zu einem Bruch sei es etwa zwischen Polen und Ungarn gekommen, so Pornschlegel. Beide Staaten seien in Bezug auf Rechtsstaatsverstöße gegenüber Brüssel geeint gewesen, nun gebe es diametrale Positionen gegenüber Russland.

Kurz nach der Wiederwahl des ungarischen Premiers Viktor Orban setzte die EU den ersten Schritt des Rechtsstaatsmechanismus in Gang, der zu einer Kürzung von EU-Geldern führen kann. In Ungarn sei es für die EU-Kommission leichter, Rechtsstaatsverstöße und Missbrauch von EU-Fördergeldern nachzuweisen als in Polen, wo es um die Unabhängigkeit der Justiz und Minderheitenrechte gehe, so Pornschlegel.

„EU darf nicht beide Augen zudrücken“

Die Politologin warnt davor, im Sinne der Einheit der EU autoritäre Methoden von Mitgliedern der Europäischen Union zu ignorieren. Die systematischen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in mehreren Mitgliedsstaaten seien nicht plötzlich mit dem Ukraine-Krieg verschwunden: „Die EU darf nicht beide Augen zudrücken und muss weiter Druck aufbauen und Konsequenzen ziehen.“ Aufgrund dieser systematischen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit gebe es zusätzlich das Risiko einer weiteren Destabilisierung der EU, so die Expertin.

Beistandsklausel

Die im Vertrag über die Europäische Union festgeschriebene Klausel sieht im Fall eines „bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats“ Hilfe und Unterstützung vor. Die EU spielt im Verhältnis zu den Mitgliedsstaaten eine untergeordnete Rolle.

Einige autokratische Regierungen würden die aktuelle geopolitische Lage nützen, um ihre eigenen Anliegen voranzutreiben. Polen als Aufnahmeland der meisten ukrainischen Flüchtlinge nütze die Situation derzeit in seiner Positionierung gegenüber der EU geschickt aus, analysiert Pornschlegel.

„Verteidigungsmoment der EU ist vorbei“

Angesichts dieser geopolitischen Entwicklungen sieht Pornschlegel eine Positionsänderung der EU Richtung Sicherheit und Verteidigung. Bisher sei die EU nicht als Verteidigungsunion gesehen worden, nun werde die Beistandsklausel in Brüssel diskutiert – komplementär zur NATO. Gressel hingegen erwartet eine weitere Stärkung der transatlantischen Achse: „Der Verteidigungsmoment der EU ist vorbei.“ Es fehle das Vertrauen. „Deutschland als Krisenanker ist abgestürzt und rudert der Lage hinterher.“ Es gehe viel mehr in Richtung bilaterale militärische Kooperation in Richtung USA und Großbritannien, erwartet Gressel: „Die Verteidigungsunion ist tot.“