S-300 Raketenabwehrsystem
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Waffenlieferungen

Ukraine will nicht mehr vertröstet werden

Der Raketenangriff auf den Bahnhof der Stadt Kramatorsk in der Ostukraine hat am Freitag Forderungen der Ukraine nach weiteren Waffenlieferungen neuen Druck verliehen. Präsident Wolodomyr Selenskyj pochte auf rasche Hilfe und kritisierte ein Vertrösten durch den Westen. Russland werde fehlende Gegenmaßnahmen als „Erlaubnis zum Vormarsch“ sehen. In die Kritik geriet vor allem Deutschland.

Bewegung gab es hingegen seitens der Slowakei, sie verkündete am Freitag die Lieferung eines Abwehrraketensystem S-300 in die Ukraine. Ministerpräsident Eduard Heger gab die Schenkung während einer Reise nach Kiew bekannt, die er am Freitag gemeinsam mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unternahm. Das noch zu Sowjetzeiten entwickelte russische Flugabwehrraketensystem S-300 zerstört mit präziser Lenktechnik gegnerische Flugzeuge oder Raketen.

Der Schritt kam überraschend, weil die Regierung in Bratislava bisher stets erklärt hatte, das Raketensystem sei für ihre eigene Verteidigung unverzichtbar. Heger hatte bisher immer bestritten, dass sie ohne dauerhaften entsprechenden Ersatz die S-300 in die Ukraine schicken könnte. Zugleich versicherte Heger, der Schritt bedeute nicht, dass die Slowakei Teil des bewaffneten Konflikts geworden sei. In der Slowakei entbrannte über die Lieferung ein innenpolitischer Streit. Die beiden sozialdemokratischen Oppositionsparteien Smer und Hlas warfen der Regierung vor, die Sicherheit des eigenen Landes zu gefährden.

Bahnhof in Kramatorsk nach dem Angriff
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Der Angriff auf den Bahnhof schockiert

Selenskyj: „Sie sagen uns, dass wir warten müssen“

Zuvor hatte Selenskyj das Warten auf große Rüstungsgüter aus dem Westen beklagt. Sein Land müsse immer noch um Ausrüstung bitten und höre als Antwort stets, dass es auf Kampfjets, Raketenabwehr- und Schiffsabwehrwaffen warten müsse, sagte Selenskyj am Freitag bei einer Videoansprache vor dem finnischen Parlament in Helsinki.

„Sie sagen uns, dass wir warten müssen in der Situation, in der wir wegen der russischen Angriffe täglich Hunderte von Menschen verlieren, in der Dutzende unserer Städte zerstört worden sind.“ Finnland sei dagegen schnell dabei gewesen, seinem Land Verteidigungsausrüstung bereitzustellen. Wenn Länder für ihre Freiheit kämpften, bräuchten sie Hilfe, betonte Selenskyj. Kleinere Länder verstünden das besser als größere.

EU-Solidaritätsbesuch im Ukraine-Krieg

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat am Samstag in Kiew den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen.

Am Freitagabend übte er dann explizit Kritik an Deutschland, kritisierte gegenüber „Bild“ einen zu zögerlichen Kurs: „Deutschland hat uns nicht mit Waffen unterstützt. Deutschland hat offen darüber gesprochen, dass wir kein Mitglied der NATO sein werden. Aber wenn wir ehrlich bleiben: Die Rhetorik von Deutschland hat sich verändert. Deutschland ist konservativ und kalt – aber der Zug hat sich bewegt.“

Zeitfenster für Ukraine

Eine russische Offensive in der Ostukraine wird derzeit erwartet – fraglich ist aber, wann diese starten könnte. Derzeit positionieren sich beide Kriegsparteien neu. Für die Ukraine ergibt sich damit auch ein Zeitfenster, in dem rasche Waffenlieferungen auf dem Westen die Verhältnisse zugunsten der Ukraine beeinflussen könnten.

Selenskyj hatte schon vor dem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen betont, dass es jetzt ein neues schmerzhaftes Sanktionspaket gegen Russland sowie Waffenlieferungen aus dem Westen brauche.

Sollte es dieses nicht geben, werde Russland das als „Erlaubnis zum Vormarsch“ sehen. Und sein Außenminister Dmytro Kuleba sagte am Vortag als Gast beim NATO-Außenministertreffen: „Entweder Sie helfen uns jetzt, und ich spreche von Tagen, nicht von Wochen, oder Ihre Hilfe wird zu spät kommen.“ Dann würden viele Menschen sterben, viele Zivilisten ihre Häuser verlieren und viele weitere Städte und Dörfer zerstört.

Dutzende Tote bei Beschuss von Bahnhof

Der Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk hat diesen Worten neue Dringlichkeit verliehen. Die Raketenattacke auf den Bahnhof mit flüchtenden Menschen forderte mindestens 50 Menschenleben, unter den Opfern befinden sich fünf Kinder. Rund 100 Verletzte wurden gemeldet. Die Ukraine, westliche Politikerinnen und Politiker sowie Fachleute sehen Russland in der Verantwortung, doch prorussische Separatisten und Russland wiesen der Ukraine die Schuld zu.

Das russische Verteidigungsministerium sprach von einer „Provokation“ und sagte, man verwende den Raketentyp Totschka-U nicht. Doch Fachleute aus dem Westen wiesen diese Behauptung als falsch zurück. Zudem hatten bereits am Vortag Investigativreporter berichtet, dass die in Belarus stationierten russischen Truppen mehrere Totschka-U erhalten hätten. Weiters seien die Raketen zuletzt bei einer gemeinsamen Übung von Russland und Belarus verwendet worden.

Die Raketen mit einer Reichweite von bis zu 120 Kilometern gelten als weniger zielgenau als die Iskander, die Russland häufig eingesetzt hat. Folge seien hohe Schäden in besiedelten Gebieten, sagte der westliche Offizielle. Totschka-U können verbotene Streumunition transportieren – das sei in Kramatorsk der Fall gewesen, sagen die Ukrainer.

„Verabscheuenswürdig“

Der Angriff von Kramatorsk geschah am selben Tag, an dem von der Leyen als erste westliche Spitzenpolitikerin und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell als Zeichen der Unterstützung mit einem Zug nach Kiew reisten. Als „verabscheuungswürdig“ verurteilte von der Leyen die Attacke. Borrell twitterte: „Dies ist ein weiterer Versuch, Fluchtrouten zu schließen für diejenigen, die diesem ungerechten Krieg entfliehen wollen, und menschliches Leid herbeizuführen.“

Ursula von der Leyen
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Von der Leyen in Butscha

Von der Leyen besuchte auch den Kiewer Vorort Butscha, wo sich zuletzt Massaker ereignet hatten: „Die ganze Welt trägt Trauer, nach allem, was hier passiert ist“, so von der Leyen. Gerade erst hat die EU ein umfangreiches Paket mit neuen Sanktionen gegen Russland beschlossen. Erstmals wurde auch ein Energieembargo beschlossen. Mit einer Übergangszeit von vier Monaten soll keine russische Kohle mehr in die EU importiert werden.

Von der Leyen macht der Ukraine zudem Mut beim EU-Beitrittsprozess. Man habe die ukrainische Anfrage auf EU-Mitgliedschaft laut und deutlich gehört, betonte die EU-Kommissionspräsidentin. Zugleich sprach von der Leyen von einer „ersten positiven Antwort“, als sie Selenskyj einen Fragebogen überreichte, der die Grundlage für die Gespräche über den Beitritt sein soll. Selenskyi sagte, er würde in einer Woche mit Antworten zurückkommen. Man werde die Ukraine intensiv unterstützen, so von der Leyen.

Deutschland bei Panzern zurückhaltend

Borrell zeigt sich zuversichtlich, dass die EU-Staaten seinem Vorschlag folgen, der Ukraine weitere 500 Millionen Euro zur Unterstützung der Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, insgesamt wären es dann 1,5 Milliarden Euro. Doch die Ukraine fordert auch schweres Gerät. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, schlug die Lieferung eines „Marder“-Panzers pro Woche an die Ukraine vor, hier zeigte sich der deutsche Kanzler Olaf Scholz zurückhaltend.

Man wolle Waffen liefern, die hilfreich seien und gut eingesetzt werden könnten. Er verwies etwa auf Panzerabwehr- und Luftabwehrwaffen und Munition. Auch der britische Premier Boris Johnson sagte, man werde vor allem Defensivwaffen zur Verfügung stellen. Er kündigte die Lieferung von Waffen im Umfang von 100 Millionen Pfund (120 Mio. Euro) an. Es handle sich um Starstreak-Flugabwehrraketen und 800 Panzerabwehrraketen liefern.

Nehammer in Kiew

Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ist am Freitagabend zu einem „Solidaritätsbesuch“ in die Ukraine aufgebrochen. In Kiew wird er Selenskyj sowie Schmyhal und Bürgermeister Witali Klitschko treffen. Zudem wird er Butscha besuchen. Die Rückkehr erfolgt am Sonntag. Ziel des Besuchs sei es, „die Ukraine weiterhin bestmöglich humanitär und politisch zu unterstützen“, hieß es im Vorfeld der Mission aus Nehammers Büro.

Österreich hat bisher unter anderem 10.000 Helme und 9.000 Schutzwesten für den zivilen Einsatz geliefert. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) rief zudem gemeinsam mit den Außenministerinnen und -ministern von Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg und Schweiz zu einem sofortigen Ende der Kampfhandlungen auf.