Weiters habe Nehammer in seinem Gespräch betont, dass „die Sanktionen gegen Russland fortgesetzt und jedenfalls weiter verschärft werden, solange Menschen in der Ukraine sterben“, so das Bundeskanzleramt. Nehammer habe Putin gegenüber auch die Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Städten „in aller Deutlichkeit“ angesprochen, ebenso wie die „Notwendigkeit einer internationalen Untersuchung dieser“. Die Begegnung fand in Putins Residenz in Nowo-Ogarjowo bei Moskau statt, berichtete die staatliche russische Agentur TASS.
Nehammer hatte bereits am Sonntag versichert, er werde Putin gegenüber „nicht moralisch neutral“ sein. „Reden heißt nicht, seine Position aufzugeben.“ Am Wochenende war Nehammer in der Ukraine gewesen, wo er unter anderen Präsident Wolodymyr Selenskyj traf. Nach seiner Rückkehr kündigte Nehammer Sonntagnachmittag vor der Presse an, auch Aggressor Putin zu treffen.
Ukrainischer Botschafter: „Schauen wir einmal“
Der ukrainische Botschafter in Österreich, Wassyl Chymynez, äußerte sich im Vorfeld des Treffens zurückhaltend. Er hoffe auf Resultate, derzeit sei Putin aber sehr stark auf die russische Offensive in der Ostukraine fokussiert. Chymynez sagte, es sei sehr wichtig gewesen, dass der Kanzler selbst in der Ukraine alles gesehen habe, die Schrecken, die Kriegsverbrechen der russischen Armee.
Wenn er in Moskau beim Gespräch mit Putin auch „Argumente findet, dass der Krieg gegen die Ukraine auch für Russland einen hohen Preis hat“, und wenn aus diesem Gespräch ein Ergebnis kommen könnte, etwa humanitäre Korridore zum Beispiel für Mariupol, wäre das natürlich positiv. Die Frage sei jedoch, zu welchen Kompromissen Putin bereit sei: „Schauen wir einmal, mit welchen Ergebnissen der Bundeskanzler zurückkommt.“
EU und Berlin im Vorfeld informiert
Die Initiative dazu sei von ihm ausgegangen, sagte Nehammer auf Nachfrage, und zwar schon während die Reise in die Ukraine geplant wurde. Die Reise nach Moskau habe er mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel abgesprochen, auch Selenskyj, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und den deutschen Kanzler Olaf Scholz habe er informiert.
Unterschiedliche Reaktionen der EU-Außenminister
Die EU-Außenministerinnen und -minister beraten über weitere Sanktionen für Russland. Auf Kanzler Nehammers (ÖVP) Besuch des russischen Präsidenten in Russland gibt es unterschiedliche Reaktionen bei dem Treffen.
Ein Sprecher des deutschen Kanzlers sagte am Montag, Scholz begrüße das Treffen Nehammers mit Putin. Man unterstütze alle diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine. Für die Ukraine sei der Besuch nicht überraschend gekommen, er sei schon länger vorbereitet gewesen, berichtete ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz im Ö1-Mittagsjournal. Auch Präsident Selenskyj sei offensichtlich im Vorfeld informiert gewesen.
Selmayr: Gespanntes Warten auf Ergebnis
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sei über die geplante Reise Nehammers telefonisch informiert worden, sagte der EU-Kommissionsvertreter in Österreich, Martin Selmayr, am Montag. „Wir sind sicher, dass der österreichische Bundeskanzler die Vor- und Nachteile dieser Reise gut abgewogen hat“, sagte Selmayr. Nun warte man gespannt auf das Ergebnis der Reise.
„Dass man dazwischen miteinander spricht, auch per Telefon, wie das einige Staats- und Regierungschefs tun, oder ob man das persönlich macht, das ist eine Entscheidung, die jeder selbst treffen muss, und wir warten mit Spannung darauf, was da heute Nachmittag herauskommen wird“, so Selmayr.
„Das, worauf es ankommt, ist, dass die gemeinsame Position der Europäischen Union, die in Versailles und beim Europäischen Rat festgelegt worden ist, klar wiedergegeben wird“, sagte Selmayr, nämlich, dass man „die völkerrechtswidrige Aggression Russlands in der Ukraine“ klar verurteile.
Auch aus Brüssel hieß es am Montag, dass man über die Reise informiert wurde und man „im Prinzip“ jede Bemühung um Frieden in der Ukraine als „sinnvoll“ erachte, wie eine Sprecherin der EU-Kommission sagte. Zu den Auswirkungen einer solchen Reise wollte sie sich nicht äußern. Bei dem Treffen der EU-Spitzen mit Selenskyj in Kiew habe es allerdings keine Ansuchen gegeben, dass die EU mit dem Kreml verhandeln solle.
Nehammer spricht von „Risikomission“
Nehammer reiste laut APA über die Türkei nach Russland. Es ist der erste persönliche Besuch eines EU-Regierungschefs in Moskau seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Der Kanzler betonte, er werde Putin gegenüber russische Kriegsverbrechen in der Ukraine ansprechen. Die Reise nach Moskau sei „eine Risikomission“, räumte Nehammer ein, aber es habe sich die Möglichkeit einer „Gesprächsbrücke“ ergeben. „Persönliche Diplomatie“ sei gefragt, es gehe um Dialogmöglichkeiten zwischen dem ukrainischen Präsidenten und Putin, einen Waffenstillstand und humanitäre Korridore, sagte Nehammer.
Kanzler Nehammer reist zu Putin
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wird am Montag den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau zu einem Gespräch treffen. Das kündigte Nehammer am Sonntag an. Nach eigenen Angaben will der Kanzler damit einen Dialog zwischen Russland und der Ukraine fördern.
Er habe nicht die Erwartungshaltung, dass große Wunder geschehen, gestand Nehammer auf Nachfrage zu. Aber, so der Kanzler, „‚am besten gar nichts tun‘ ist nicht mein Zugang“, er wolle als „Brückenbauer“ auftreten. Es gehe darum, „alles zu tun, dass es aufhört“.
Schallenberg: „Keine verlorene Stimme“
Hinter den Kanzler stellte sich am Montag Außenminister Schallenberg: „Jede Stimme, die Putin verdeutlicht, wie die Realität außerhalb der Mauern des Kremls wirklich aussieht, ist keine verlorene Stimme“, so Schallenberg vor einem Treffen mit seinen EU-Amtskolleginnen und -Amtskollegen in Luxemburg. Das Treffen sei mit den „wesentlichen Partnern“ abgesprochen worden.
„Keine Möglichkeit ungenützt lassen“
Das Treffen von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) mit Russlands Präsident Wladimir Putin sieht Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) als eine Gelegenheit, Putin zu verdeutlichen, „wie die Realität außerhalb des Kremls wirklich aussieht“. Man dürfe keine Möglichkeit ungenutzt lassen, „die humanitäre Hölle in der Ukraine zu beenden“, so Schallenberg.
Die Entscheidung für die Reise sei nach dem Besuch Nehammers bei Selenskyj und Kontakten mit Scholz, Erdogan sowie der EU-Spitze gefallen, sagte Schallenberg. Unruhe unter den 27 EU-Staaten aufgrund Nehammers Besuchs bei Putin sieht Schallenberg nicht. Österreich stehe „ganz klar“ aufseiten des Völkerrechts, aufseiten der Europäischen Union.
Putin hat „Krieg moralisch de facto verloren“
„Wir müssen damit rechnen, dass die Brutalität des Krieges in der Ukraine noch zunimmt, wir haben den starken Eindruck, dass Putin gerade die gesamte militärische Macht in den Osten wirft“, sagte Schallenberg weiter. Bei dem Besuch Nehammers gehe es darum, „dass wir keine Möglichkeit ungenützt lassen wollen, jede Chance ergreifen müssen, um die humanitäre Hölle in der Ukraine zu beenden“.

„Die Diplomatie hat nie geendet“, sagte Schallenberg mit Verweis auf Telefonate von EU-Staats- und -Regierungschefs mit Putin. Aber es mache einen Unterschied, wenn man jemandem „von Angesicht zu Angesicht“ sage, „wie die Realität sich wirklich darstellt, dass dieser Präsident diesen Krieg de facto moralisch verloren hat, dass er sein Land in die Isolation führt“. Auch gebe es eine „klare völkerrechtliche Verantwortung“, so Schallenberg. „Die Mühlen der internationalen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit mahlen langsam, aber sie mahlen“, fügte er hinzu.
Kogler: „Könnte Versuch wert sein“
Zurückhaltend gab sich der Koalitionspartner. Vorausgesetzt, die Reise sei mit der EU abgestimmt, „könnte es einen Versuch wert sein“, so Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) in einer schriftlichen Stellungnahme. „Klipp und klar ist: Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine muss sofort gestoppt, Kriegsverbrechen vollumfänglich aufgeklärt und humanitäre Korridore verlässlich geschaffen werden.“
Kritik kam von der außenpolitischen Sprecherin der Grünen, Eva Ernst-Dziedzic: „Nein, ich kann einen Besuch bei Putin nicht gutheißen. Das hat mit Diplomatie nichts zu tun. Das ist auch kein akkordierter Fahrplan für Verhandlungen. Putin wird das für seine Propaganda nutzen“, twittere sie. Die Grünen dürften von Nehammers Reise aus den Medien erfahren haben.
Skepsis bei SPÖ und FPÖ
Skeptisch gab sich auch die SPÖ. „Dialog zu führen und mit allen im Gespräch zu sein ist wichtig, aber genauso wichtig ist auch, ein klar definiertes Ziel für dieses Gespräch mit Putin zu haben und innerhalb der EU gut abgestimmt zu sein“, sagte SPÖ-Europasprecher und -Vizeklubchef Jörg Leichtfried. „Ich hoffe, dass diese Abstimmung mit den EU-Partnern auch erfolgt ist. Der gemeinsame europäische Weg darf jedenfalls nicht verlassen werden, und dem Kanzler ist hoffentlich bewusst, dass das Risiko auch für den außenpolitischen Ruf Österreichs hoch ist“, warnte Leichtfried. „Am Ende des Tages zählt, welches Ergebnis bei diesem Gespräch herauskommt.“
Die Strategie der Regierung seit Kriegsbeginn sei weder nachhaltig noch durchdacht, kritisierte FPÖ-Chef Herbert Kickl, dessen Freiheitliche als traditionell russlandfreundlich gelten. „Erst die Sanktions-Einpeitscherei, dann das überfallsartige Ramponieren der Neutralität, dann die mit der Neutralität in Widerspruch stehenden Solidaritätsbesuche bei Selenskyj und Klitschko – und jetzt geht’s plötzlich nach Moskau“, so Kickl.
Es dränge sich der Verdacht auf, „dass nicht das ehrliche Bemühen um ein Ende des Krieges und um die Interessen der Österreicher in dieser Krise im Mittelpunkt steht, sondern der innenpolitisch motivierte, persönliche Rettungsplan des Herrn Nehammer“, vermutete Kickl.
NEOS: Österreich darf europäischen Weg nicht verlassen
Nehammers Besuch dürfe nicht dazu führen, dass Österreich den gemeinsamen europäischen Weg verlasse, betonte NEOS-Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger. „Putin ist ganz klar der Aggressor in diesem Krieg. In dieser Frage kann es keine Neutralität geben“, so Meinl-Reisinger. Insgesamt bestehe die Sorge, dass das Treffen Putin letztlich mehr nutzt als der Ukraine. „Schließlich kam es schon vor, dass sich Österreichs Politiker vor den russischen Propagandakarren spannen ließen“, sagte die NEOS-Vorsitzende.
Kein Statement von Van der Bellen
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat sich bisher nicht zur Reise des Kanzlers geäußert. In der Präsidentschaftskanzlei wollte man Nehammers Besuch vorerst nicht kommentieren.
Experte: Unglücklicher Zeitpunkt
Auf einen Brückenbauer habe in der EU keiner gewartet, die Osteuropäer kritisierten diesen Schritt bereits scharf, sagte der an der Uni Innsbruck tätige Politologe Gerhard Mangott in der ZIB2 am Sonntag. Putin habe die Macht über die Bilder dieses Besuches und werde diese zu nutzen wissen.
Politologe Mangott über Nehammer in Moskau
Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott erläutert unter anderem, welchen Effekt das Gespräch zwischen ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer und Russlands Präsident Wladimir Putin haben kann.
Der österreichische Kanzler habe nicht genug Gewicht in Europa, um etwas zu bewegen. Das wisse man auch in Moskau. Das von Nehammer genannte Ziel eines Waffenstillstands werde von der Ukraine von Beginn an gefordert. Es gebe keinen Grund, warum Putin das auf Vermittlung Nehammers machen sollte. Auch der Zeitpunkt dieser Reise sei unglücklich angesichts dessen, dass Russland gerade einen Großangriff in der Ostukraine vorbereite.
Kanzler „hat nicht die Macht über diese Bilder“
„In Moskau will keiner über einen Waffenstillstand reden oder auch nur denken“, so Mangott. Gespräche über die Schaffung von humanitären Korridoren sollten auch besser zwischen Russland und der Ukraine geführt werden, dazu brauche es keine Vermittlung durch Österreich.
„Es ist schwer nachvollziehbar, was sich der Kanzler von dieser Reise erwarte. Er hat nicht die Macht über die Bilder.“ Diese werde das russische Fernsehen zeigen und für Propaganda nutzen. Nehammer werde Putin Bilder verschaffen, die sagen: „Ich bin nicht isoliert, es gibt Länder im Westen, die mit uns kooperieren.“ Der französische Präsident Macron und der deutsche Kanzler Scholz würden mit Putin telefonieren, aber sie würden ihm nie diese Bilder verschaffen, kritisierte Mangott. Es sei auch unverständlich, dass Nehammer zwei Tage nach seinen Solidaritätsbekundungen in der Ukraine nach Moskau reise. „Das passt in der Kommunikation von vorne bis hinten nicht zusammen.“
Laut der deutschen „Bild“-Zeitung soll Nehammers Reise auch in der Ukraine auf Kritik stoßen. „Was für eine Selbstüberschätzung des österreichischen Kanzlers, dass er ernsthaft glaubt, eine Reise zum jetzigen Zeitpunkt hätte irgendeinen Sinn, nachdem Putin gezeigt hat, was für ein brutaler Kriegsverbrecher er ist“, zitierte das Blatt einen ukrainischen Diplomaten.