Zerstörte Wohnhäuser in Mariupol
Reuters
Mariupol

Ukraine prüft Hinweise auf C-Waffen-Einsatz

Die Ukraine prüft unbestätigte Informationen über einen möglichen Einsatz von Chemiewaffen im Kampf um ihre von russischen Truppen eingekesselte Hafenstadt Mariupol. Zuvor war von britischer und US-Seite von Berichten die Rede, wonach Russland in der umkämpften Hafenstadt bereits chemische Kampfstoffe verwendet haben könnte.

„Nach vorläufigen Angaben gibt es die Annahme, dass es wohl Phosphorkampfmittel waren“, sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Vormittag im ukrainischen Fernsehen. Endgültige Schlussfolgerungen könne es erst später geben. Welche Kampfmittel genau zum Einsatz gekommen sein sollen, sagte Maljar nicht. Das Risiko eines russischen Chemiewaffeneinsatzes sei jedoch groß.

Der mögliche Einsatz von Chemiewaffen sorgt seit Tagen für Schlagzeilen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte erst am Montag vor einem möglichen Einsatz der weltweit geächteten Waffen. Die britische Außenministerin Liz Truss hatte zu Wochenbeginn gesagt, Großbritannien arbeite mit seinen Partnern zusammen, um die Einzelheiten von Berichten zu überprüfen, denen zufolge russische Streitkräfte möglicherweise chemische Kampfstoffe bei einem Angriff auf Mariupol eingesetzt haben.

Mariupol: Berichte über Chemiewaffeneinsatz

Die ukrainische Stadt Mariupol könnte kurz vor dem Fall stehen. Außerdem mehren sich die Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen, doch bestätigen lässt sich das noch nicht.

Donezk-Separatisten bestreiten Vorwurf

Russland hatte zuvor der Ukraine vorgeworfen, den Einsatz von Chemiewaffen vorzubereiten. Dass die USA von einem möglichen russischen Einsatz solcher Waffen sprächen, sei nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver, hatte die russische Führung im März gesagt.

Die prorussischen Separatisten in der ostukrainischen Region Donezk, die sich gemeinsam mit russischen Truppen um die endgültige Einnahme Mariupols bemühen, bestritten einen Einsatz von Chemiewaffen. Das meldete die russische Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf Eduard Bassurin, einen Kommandeur der Separatisten. Die Möglichkeit eines Chemiewaffeneinatzes schloss Bassurin einem Agenturbericht zufolge zuvor allerdings nicht aus. Die Separatisten könnten sich „an chemische Truppen wenden, die einen Weg finden werden, die Maulwürfe in ihren Löchern auszuräuchern“, zitierte ihn die russische Nachrichtenagentur RIA am Montag.

„Gibt einige Dinge jenseits des Erlaubten“

Falls Russland tatsächlich Chemiewaffen eingesetzt hat, dann sind der britischen Regierung zufolge für eine Reaktion darauf alle Optionen auf dem Tisch. „Es gibt einige Dinge, die jenseits des Erlaubten liegen“, sagte der für die Streitkräfte zuständige Staatssekretär James Heappey dem Sender Sky News. Ein Einsatz chemischer Waffen würde eine Reaktion des Westens hervorrufen.

Bisher habe der britische Militärgeheimdienst keine Bestätigung für Informationen über einen C-Waffen-Einsatz. Auf die Frage von LBC Radio, ob Heappey bei einer Reaktion auf eine bewiesene Anwendung solcher Kampfstoffe einen Einsatz britischer bzw. NATO-Soldaten auf ukrainischem Boden ausschließen könne, antwortete er: „Nein, alle Optionen sind auf dem Tisch.“ Der BBC sagte Heappey zudem, der russische Präsident Wladimir Putin solle sich darüber im Klaren sein, dass der Einsatz von Chemiewaffen schlicht nicht akzeptabel sei. „Und er sollte nicht erwarten, dass der Westen tatenlos zusieht, wenn sie eingesetzt werden.“

Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, sagte am Montagabend, auch Washington habe unbestätigte Informationen über einen Chemiewaffenangriff in der strategisch wichtigen Stadt. „Wenn diese Informationen wahr sind, sind sie sehr besorgniserregend“, sagte er. Er verwies auf „Bedenken“ des US-Militärs, dass Russland „verschiedene Mittel“, „insbesondere Tränengas gemischt mit chemischen Kampfstoffen, in der Ukraine einsetzen könnte“.

Mariupol von Tausenden Soldaten belagert

Im eingekesselten Mariupol werden die Aussichten der ukrainischen Verteidiger indes immer schlechter. Der Hafen der seit Wochen umkämpften Stadt soll unter russischer Kontrolle sein. Streitkräfte der selbst ernannten „Volksrepublik“ Donezk hätten die Kontrolle übernommen, schrieben die russischen Agenturen RIA und Interfax am Montag unter Berufung auf den Donezker Separatistenführer Denis Puschilin.

Der ukrainische Präsident Selenskyj forderte mehr Waffenlieferungen des Westens, damit die strategisch wichtige Stadt gehalten werden kann. „Leider bekommen wir nicht so viele, wie wir brauchen, um die Blockade von Mariupol aufzuheben“, sagte er in der Nacht auf Dienstag in einer Fernsehansprache. Nach Medienberichten droht den ukrainischen Soldaten und Milizen die Munition auszugehen.

Selenskyjs Angaben zufolge wird die Stadt von etwa 10.000 russisch geführten Soldaten belagert. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, berichtete von heftigen nächtlichen Kämpfen in Mariupol. „Die auf dem Territorium des Iljitsch-Werks eingeschlossenen Reste der ukrainischen Streitkräfte haben einen erfolglosen Versuch gemacht, aus der Stadt auszubrechen“, sagte Konaschenkow.

Bürgermeister: Über 10.000 Zivilisten tot

Mariupol wird seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar von der russischen Armee belagert. Inzwischen ist die einst 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Stadt weitgehend zerstört, die humanitäre Lage katastrophal. Wie zuvor schon Selenskyj sprach zuletzt auch der Bürgermeister der Stadt, Wadym Bojtschenko, von mehr als 10.000 toten Zivilisten.

Die Stadt habe einige der schwersten Angriffe und ziviles Leid in diesem Krieg erlebt, aber die Land-, See- und Luftangriffe der russischen Streitkräfte, die um die Einnahme der Stadt kämpfen, haben die Informationen über das Geschehen in der Stadt zunehmend eingeschränkt, wie Bojtschenko in einem Telefongespräch mit der Nachrichtenagentur AP sagte. Den russischen Streitkräften warf der Bürgermeister zudem vor, humanitäre Konvois zu blockieren, um die Folgen der sechswöchigen Belagerung zu verbergen.