Die Schuhe einer Diplomatin und eines Diplomaten
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Politiker auf Besuch

Diplomatie auf lauten Sohlen

Gespräche auf höchster Ebene, Verhandlungen hinter verschlossenen Türen: Diplomatie ist in vielen Fällen Chefsache. Insbesondere in Krisenzeiten gilt der Austausch zwischen Staats- und Regierungschefs als notwendig – ganz nach dem Motto: Alle Gesprächskanäle müssen offen bleiben. Doch eigentlich ist die Welt der klassischen Diplomatie eine stille.

Als Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) vergangene Woche zuerst in die Ukraine und dann nach Russland reiste, um Präsident Wladimir Putin mit dem Schrecken des Angriffskrieges zu konfrontieren, betrat er die Vorderbühne der Krisendiplomatie. Positionen austauschen, verhandeln und versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden. Angesichts des Krieges, so Nehammer, sollte man nichts unversucht lassen. Sein 75-minütiger Auftritt bei Putin sorgte für Rätselraten – gleichzeitig war dem Kanzler die internationale Aufmerksamkeit sicher.

Dass sich Staats- und Regierungschefs in Diplomatie üben, ist nicht neu. Staatsbesuche, internationale Gipfel und Krisengespräche gehören zum Job von Spitzenpolitikern und -politikerinnen. Zu Beginn des Ukraine-Krieges pendelte etwa Israels Premierminister Naftali Bennett zwischen Kiew und Moskau, um zu vermitteln. Noch vor der russischen Invasion hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mehrmals versucht, eine Eskalation zu verhindern. Nun übt sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Vermittlerrolle.

Lieber selbst erledigen

Wenn die höchsten Ebenen eines Staates diplomatische Anstrengungen unternehmen, wird schnell der Vorwurf laut, diese seien innenpolitisch getrieben. Der US-Politikwissenschaftler Tizoc Chavez beschäftigt sich schon länger mit der „personal diplomacy“, wie er die Diplomatie zwischen Regierungs- und Staatschefs bezeichnet. „In Krisen neigen Politiker besonders dazu, das Heft selbst in die Hand nehmen“, sagt der Forscher zu ORF.at. Die Gründe dafür seien simpel: schnellere Entscheidungen, mehr Kontrolle und Aufmerksamkeit – sowohl für das Thema als auch für den Akteur.

„Die Öffentlichkeit erwartet sich, dass Regierungschefs aktiv werden, und diese wollen sich natürlich nicht nachsagen lassen, dass sie ihre Pflichten nicht erfüllen“, sagt der Forscher, der die diplomatische Tätigkeit aus einer US-Perspektive beobachtet. Das ist insofern wichtig zu betonen, weil der US-Präsident als „diplomat in chief“ („Chefdiplomat“) in der Weltpolitik anders wahrgenommen wird als andere Regierungs- und Staatschefs, denen weniger Macht zugeschrieben wird. In der persönlichen Diplomatie gehe es auch, präzisiert Chavez, um das symbolische Kapital, das jemand mitbringt.

Die Tatsache, dass viele Politiker auf dem Gebiet, das sie bewandern, keine Experten sind, werde über Berater ausgeglichen. „Wir stellen uns die persönliche Diplomatie oft als eine sehr intime Angelegenheit vor. Es sind aber viele andere Personen beteiligt, die die Gesprächspunkte festlegen, die sich um die Kommunikation kümmern oder die Politiker über den Gesprächspartner, über die aktuelle Lage und die Geschichte eines Landes informieren müssen“, so Chavez. Auf der Vorderbühne stehe der Politiker, auf der Hinterbühne werke der Diplomat.

Ein Team, das auch mal widerspricht

Einer dieser Diplomaten ist Wolfgang Petritsch. Der gebürtige Kärntner und frühere Berater von Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ) war nicht nur Botschafter, sondern Ende der 1990er Jahre Chefverhandler der EU im Kosovo-Konflikt. In der Welt der Diplomatie, so sagt er gegenüber ORF.at, zähle, ob Treffen und Gespräche auch nachhaltig sind. Wurde zwischen den handelnden Personen eine Vertrauensbasis geschaffen? Konnte eine Vereinbarung erzielt werden? Und: Ist ein breiter Prozess möglich, in dem es weniger um ein Entweder-Oder geht als vielmehr um gemeinsam definierte Zwischenschritte?

Vertragsunterzeichnung nach den Kosovo-Friedensgesprächen 1999
APA/AFP/Jack Guez
Petritsch gilt als einer der renommiertesten Diplomaten Österreichs (Bild aus 1999)

Als Diplomat führe man mit vielen Personen und Interessengruppen informelle Gespräche, um Vertrauen für weitere Treffen zu gewinnen. Entscheidend sei in erster Linie die Vorbereitung, betont er. „Wer weiß, wer warum welche Positionen vertritt und wie man sich gegenüber den Gesprächspartnern verhalten muss, wird als Verhandler eher respektiert werden als jemand, der sich in der Materie noch zurechtfinden muss“, sagt der Ex-Botschafter. Besonders hilfreich seien deshalb Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die auch einmal konträre Meinungen vertreten.

„Ich hatte ständig Mitarbeiter um mich, die mir widersprachen und auf mich einredeten, das und jenes nicht so zu argumentieren, wie ich es eigentlich geplant hatte“, sagt Petritsch. Durch solche internen Debatten werde die eigene Sichtweise geschärft. Auch die Expertise von ausländischen Kollegen und Fachleuten habe er immer eingeholt – so auch vor Beginn der (schließlich gescheiterten) Verhandlungen um die Kosovo-Frage in Rambouillet und Paris. Im Vorfeld habe man versucht, jeden noch so kleinen Interpretationsspielraum ausfindig zu machen, um auf die Positionen der Konfliktparteien besser eingehen zu können.

Vieraugengespräche wichtig, aber: Vorsicht

Ein früherer außenpolitischer Berater im Außenressort äußert sich gegenüber ORF.at ähnlich. „Es ist irrsinnig viel Recherche dabei, man muss das Umfeld verstehen, jeden Winkel des Raumes kennen“, betont er. Das Ziel müsse sein, so früh und so differenziert wie möglich zu recherchieren. Gespräche oder Verhandlungen könnten zwar immer anders verlaufen als erwartet, weil zum Beispiel Emotionen nicht unter Kontrolle gehalten werden können. Aber mit einer „peniblen Vorbereitung“ könne auf Unvorhergesehenes viel schneller reagiert werden.

Das Schlimmste, was ein unerfahrener Diplomat oder Politiker machen kann, sei, überstürzt in ein Vieraugengespräch zu gehen. „Es hat schon gute Gründe, warum Diplomaten im Hintergrund arbeiten“, betont Ex-Botschafter Petritsch. Durch Diskretion und ein persönliches Umfeld schaffe man Vertrauen. Für das Vieraugengespräch müsse man jedoch „mit allen Wassern gewaschen sein“. Er habe nach Verhandlungen, die hinter verschlossenen Türen stattfanden, stets seine engen Mitarbeiter informiert. „Es ist in Ordnung, wenn Inhalte nicht an die Öffentlichkeit dringen. Aber Fortschritte müssen jedenfalls dokumentiert werden.“

Spielplatz vor einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol, Ukraine
Reuters/Alexander Ermochenko
Eine russische und eine ukrainische Delegation verhandeln bereits in Istanbul – eine Lösung ist allerdings noch nicht in Sicht

Bundeskanzler Nehammer wählte in der vergangenen Woche zwei unterschiedliche Ansätze: Auf der Reise nach Kiew wurde der Kanzler zusätzlich zum Beraterstab von gut 20 Journalisten begleitet. Das Treffen in Moskau fand hingegen im kleinen Kreis statt. Mit Putin sprach Nehammer unter vier Augen. Nur zwei Dolmetscher, die sich in einem Nebenraum befanden, konnten mithören, worüber sich die Politiker konkret austauschten.

Fotos und Protokolle des Treffens gibt es keine. Die Inhalte des Gesprächs kennt die Öffentlichkeit deshalb lediglich aus den Erzählungen der Beteiligten – und dabei rückt das Narrativ des Kanzlers in den Vordergrund. In einer ersten Stellungnahme hatte Nehammer betont, dass die Aussichten düster seien, da Putin einer „Kriegslogik“ folge. Wenige Tage später ergänzte er, dass die Gasversorgung „gesichert“ sei. Der russische Präsident habe die Gasfrage von sich aus angesprochen.

Ein stilles Geschäft

Für den Schweizer Diplomaten Paul Widmer ist die Entscheidung, ein Vieraugengespräch abzuhalten, die richtige gewesen. Doch allein die Ankündigung des Putin-Treffens könne sich auf die Verhandlungen in Istanbul zwischen der Ukraine und Russland auswirken. Diplomatie, so sagt er im Gespräch mit ORF.at, sei ein „stilles Geschäft, vieles beruht auf Vertraulichkeit. Für wichtige Verhandlungen sind Öffentlichkeit und Indiskretionen nicht gerade förderlich“, sagt er.

Buchhinweise

  • Tizoc Chavez: The Diplomatic Presidency: American Foreign Policy from FDR to George H. W. Bush. University Press of Kansas
  • Wolfgang Petritsch, Robert Pichler: Kosovo-Kosova. Der lange Weg zum Frieden. Wieser-Verlag
  • Paul Widmer: Diplomatie. Ein Handbuch. NZZ Libro
  • Corneliu Bjola, Markus Kornprobst: Understanding International Diplomacy. Theory, Practice and Ethics. Routledge

In der Vergangenheit habe man sich allerdings an eine „Megafondiplomatie“ gewöhnt, die mit öffentlichen Stellungnahmen und Aussendungen ihre Ziele erreichen will. Hier zähle Lautstärke, nicht Vertraulichkeit, sagt Widmer, der selbst vier Jahrzehnte lang Diplomat war und mehrere Bücher über die Arbeit auf dem internationalen Parkett schrieb. Zu dieser Art der Diplomatie neigen Politiker und Politikerinnen stärker als ausgebildete Diplomatinnen und Diplomaten.

Dieser Ansicht schließt sich Markus Kornprobst von der Diplomatischen Akademie Wien an. „Während sich Diplomaten an bestimmte Regeln und Strukturen halten, hat die Spitze der Exekutive in vielen Fällen einen anderen Fokus, der auch innenpolitisch orientiert sein kann“, sagt er zu ORF.at. Das muss aber nicht gleich bedeuteten, dass sich Politiker nicht für die Diplomatie eignen. „Man darf gleichzeitig auch nicht vergessen, dass Diplomaten im Auftrag des Staates oder der Regierung handeln – wohltemperiert und in äußerster Diskretion.“

„Land in der Größe Österreichs“

Dass sich Politiker und Politikerinnen die Diplomatiearbeit überhaupt zutrauen, sei nach Widmer aber auf ein viel zu hohes Selbstvertrauen zurückzuführen. „Die Spitze der Regierung oder eines Staates glaubt, sie hätte die besondere Gabe, andere Staats- und Regierungschefs von sich zu überzeugen“, sagt er. Die Geschichte zeige: Nur selten seien in persönlichen Treffen Weichen gestellt worden – und selbst bei den wenigen Fällen habe es davor auf einer diplomatischen Ebene schon lange Gespräche gegeben.

Doch wie soll man sich gegenüber einem Regierungs- bzw. Staatschef überhaupt verhalten? „Schon Metternich hat gesagt, dass man jeden Superlativ vermeiden soll“, sagt Widmer. Man müsse sich gemäßigt ausdrücken, denn mit einer sprachlichen Übertreibung könne man sich Lösungen verbauen. Sein österreichischer Kollege Petritsch betont, es komme auf die Situation an: „Bei den Verhandlungen um die Kosovo-Frage habe ich lange auf einen russischen Verhandler eingeredet. Der hat nur noch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.“

Dem früheren Berater im Außenministerium sei einmal im Zuge einer Verhandlung geraten worden, er solle nicht „kleines Land Österreich“ sagen, sondern „ein Land in der Größe Österreichs“. Das sei für Außenstehende vielleicht eine kleine Wortspielerei, in Gesprächen würden aber gerade diese Details zu einer anderen Haltung führen.