Frau entfernt gebrochene Fensterscheiben in ihrer Wohnung in Irpin
AP/Cara Anna
Flüchtlinge

Riskante Rückkehr in die Ukraine

Der Rückzug der russischen Truppen aus der westlichen Ukraine bewegt Hunderttausende zur Rückkehr nach Hause, vor allem in die Hauptstadtregion, auch wenn die Kämpfe im Osten des Landes zunehmend heftiger werden. Während auf Rückkehrer in die stark getroffenen Vororte von Kiew ein Bild der Zerstörung wartet, unternimmt die Hauptstadt einen Versuch Richtung Normalität.

25.000 bis 30.000 Ukrainer kämen derzeit täglich zurück, meldete ein Sprecher des ukrainischen Grenzschutzes am Dienstag. Insgesamt seien bisher rund 870.000 Kriegsflüchtlinge heimgekommen. Inzwischen seien unter den Rückkehrern auch mehr Frauen, Kinder und ältere Menschen. Noch vor einer Woche meldete das Innenministerium in Kiew rund eine halbe Million Rückkehrer.

„Sie sagen, dass sie sehen, dass die Situation sicherer ist, vor allem in den westlichen Regionen, und sie können nicht länger im Ausland bleiben“, sagte der Sprecher des Innenministeriums. Sie seien bereit, in der Ukraine zu bleiben – trotz offizieller Warnungen, dass es jederzeit Raketenangriffe geben könne.

Menschen auf einer Straße in Kiew
AP/Rodrigo Abd
Kiew blieb von großen Zerstörungen verschont. Mit offenen Cafes und Supermärkten wird ein Schritt Richtung Normalität versucht

„Kulturelles Leben wiederherstellen“

Etwa die Hälfte der vor dem Krieg etwa drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Hauptstadt hat Kiew seit Kriegsbeginn verlassen. Einige kehrten zurück. Nach Angaben der Polizei seien vergangene Woche etwa sechsmal so viele Autos unterwegs gewesen wie noch Ende März, berichtete die „Washington Post“. Cafes, Restaurants und Geschäfte sind geöffnet.

Viele Restaurants versorgten in den vergangenen Wochen Krankenhäuser und Soldaten mit Mahlzeiten, viele sind nun auch für Kundschaft wieder geöffnet. Es fand auch wieder eine Theatervorstellung statt – aufgrund der nächtlichen Ausgangssperre als Matinee. Kulturminister Olexandr Tkatschenko will „das kulturelle Leben unserer Hauptstadt langsam wiederherstellen“.

Minen und Plünderungen

Unter anderen Vorzeichen steht die Rückkehr in die stark getroffenen Vororte der Hauptstadt. Nicht nur in Butscha wurden Massengräber und deutliche Hinweise auf zahlreiche Kriegsverbrechen gefunden. Zudem besteht die Gefahr von Minen, die von den russischen Truppen in Kiew, vor allem aber in den Vororten hinterlassen wurden. Laut Polizei wurden bisher mehr als 10.000 davon entschärft.

Rückkehr nach Irpin nach Truppenabzug

Einige Bewohner und Bewohnerinnen von Irpin sind nach der Rückeroberung ihrer Heimatstadt durch die ukrainischen Streitkräfte zurückgekehrt und versuchen nun, mit teils notdürftigen Mitteln die Schäden an ihren Häusern und Wohnungen zu beheben. Die nordwestlich von Kiew gelegene Stadt war seit Kriegsbeginn schwer umkämpft, etliche Gebäude liegen nach den Kampfhandlungen in Trümmern.

Aus vielen Orten wurden Plünderungen aus öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Wohnungen gemeldet. Mitgenommen wurde alles – von Kleidung über Schmuck bis zu elektronischen Geräten und Waschmaschinen, berichteten Bewohner. Persönliche Gegenstände seien häufig zerstört worden.

Der „Guardian“ sammelte in den vergangenen Wochen Beweise, die darauf hinweisen, dass Plünderungen Teil des systematischen Verhaltens der russischen Truppen seien. „Diejenigen, die so kämpfen, sind keine reguläre Armee, sondern Pöbel“, kritisierte der liberale russische Politologe Wladimir Pastuchow im „Guardian“. In der russischen Armee sei das eine „Form der zusätzlichen Motivation des Personals“.

Rückkehr in zerstörtes Irpin

In dem Vorort Irpin etwa, der teilweise von russischen Truppen kontrolliert wurde, ist von offenen Cafes und Geschäften keine Rede. An vielen Häusern sind Schäden zu sehen, in den Straßen gibt es zerstörte Panzer und Autos. Noch vor fünf Wochen flüchteten aus dem früher rund 47.000 Einwohner zählenden Ort die Menschen unter Beschuss und über eine improvisierte Brücke. Die Betonbrücke war von ukrainischen Truppen zerstört worden, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen.

Beschädigte Autos nahe Irpin
AP/CTK/Maca Vojtech Darvik
Die Straße von Irpin Richtung Kiew ist von auf der Flucht zurückgelassenen Autos gesäumt

In den vergangenen Tagen gab es Autoschlangen: Viele versuchten, über die behelfsmäßige Brücke, die Irpin mit Kiew verbindet, in ihren Heimatort zurückzukehren. Einige begannen mit dem Wiederaufbau und der Reparatur der Schäden in ihren Häusern und Wohnungen. „Ich glaube, dass es ein paar Jahre lang nicht repariert werden kann“, sagte ein Bewohner der Stadt, der nach Irpin zurückgekehrt ist, über die zerstörten Häuser.

Rückkehr für die Verteidigung

Schon in den ersten Kriegswochen kehrten Zehntausende in die Ukraine zurück, während Millionen flüchteten – allerdings aus anderen Gründen. Diese Rückkehrer wollten sich vor allem am Kampf gegen die russischen Truppen beteiligen und die Ukraine verteidigen – Männer wie Frauen. Andere kamen zurück, um sich um hilfsbedürftige Familienmitglieder zu kümmern. Allein bis Mitte März verzeichnete der polnische Grenzschutz über 194.000 Menschen, die wieder in die Ukraine einreisten.

Der Großteil der Flüchtlinge, die noch im Ausland sind, dürfte nach Einschätzungen von NGOs kürzlich gegenüber ORF.at auf eine Rückkehr hoffen. Die Hoffnung, in die Ukraine zurückkehren zu können, sei groß. Die Männer, die aufgrund der Verpflichtung zu kämpfen meist in der Ukraine geblieben sind, seien ein wesentlicher Faktor, was den Wunsch nach Rückkehr betrifft, sagte auch Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im ORF.at-Interview.