Familie zwischen zerstörten Militärfahrzeugen in Bucha
AP/Felipe Dana
Was ist erlaubt?

Die Regeln des Krieges

Beschuss auf Krankenhäuser und Kindergärten, mutmaßlicher Einsatz chemischer Waffen, Massentötung von Zivilisten und Zivilistinnen – je länger der Ukraine-Krieg dauert, umso lauter wird der Vorwurf, dass Russland Kriegsverbrechen begehe. Doch ab welchem Punkt handelt es sich nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich gesehen um Kriegsverbrechen? Welche Regeln gelten eigentlich im Krieg? Was ist erlaubt? Was verboten? Und was passiert, wenn sich Kriegsparteien nicht daran halten?

Schon bei Cicero war zu lesen: „Unter Waffen schweigen Gesetze.“ Mehr als 2.000 Jahre und viele verheerende Kriege der Menschheitsgeschichte später kam es zwischen dem Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts zur Unterzeichnung zahlreicher Verträge und Abkommen zum Kriegsvölkerrecht. Durch diese wollte die internationale Gemeinschaft einerseits das Recht zum Krieg, andererseits das Recht im Krieg selbst geregelt wissen.

So legt etwa die Charta der Vereinten Nationen (UNO) ein allgemeines Gewaltverbot fest. Laut dieser sind Kriege als Akt der Gewalt völkerrechtswidrig. Eigentlich. Denn nach wie vor gibt es, wenn auch wenige, Ausnahmen. Beispielsweise ist im Falle eines bewaffneten Angriffs die Selbstverteidigung nach wie vor erlaubt. Militärische Interventionen können aber etwa auch durch ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates legitimiert werden.

Massengrab ich Bucha
AP/Rodrigo Abd
Selbst wenn Städte zu Schlachtfeldern werden, wie hier in Butscha, müsste das Völkerrecht eingehalten werden

Humanitäres Völkerrecht regelt Krieg

Kommt es zu einem bewaffneten Konflikt, sind Kriegshandlungen in weiterer Folge auch nur dann zulässig, wenn sie den humanitären völkerrechtlichen Vereinbarungen entsprechen – den Kern bilden hierbei die Genfer und Haager Abkommen.

Die Völkerrechtsexpertin Astrid Reisinger Coracini sagt gegenüber ORF.at: Mit den Haager und Genfer Abkommen hätten sich Staaten zur Einhaltung von Mindeststandards in bewaffneten Konflikten verpflichtet. Ohne diese Regeln könnten weder Staaten noch Einzelpersonen für Verletzungen des humanitären Völkerrechts (HVR) beziehungsweise für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden.

Während die Genfer Abkommen vor allem den Schutz von Zivilpersonen sicherstellen sollen, legen die Haager Abkommen den Schutz von Soldaten sowie Soldatinnen fest und regeln hierbei Aspekte wie Mittel und Methoden der Kriegsführung. Also nicht nur was und wer, sondern auch wo und wie angegriffen werden darf, ist international reglementiert.

Wer hat die Befugnis zu kämpfen?

Doch wie sieht ein dem Recht entsprechender Krieg aus? Zuallererst bedeutet das, dass ein internationaler bewaffneter Konflikt personell nur zwischen Angehörigen der Streitkräfte geführt werden soll. Diese Kombattanten werden von dem jeweiligen Staat beauftragt. Im Falle der Ukraine wurden etwa alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren dazu aufgerufen, die Armee im Kampf gegen Russland zu unterstützen.

Wer keine Befugnis hat, darf sich an den Kampfhandlungen nur in wenigen Ausnahmefällen aktiv beteiligen. Die Angehörigen der Streitkräfte müssen zudem leicht zu erkennen sein, etwa durch das Tragen einer Uniform.

Zerstörte Militärfahrzeuge in Bucha
AP/Felipe Dana
Kombattanten müssen durch ihre Uniform leicht von Zivilpersonen zu unterscheiden sein

Angriffe nur auf militärische Ziele

Angriffe müssen sich strikt auf militärische Ziele beschränken. Dazu zählen Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Verwendung oder ihres Zweckes zu militärischen Handlungen beitragen und deren Zerstörung einen eindeutigen Vorteil darstellt. Ein klassisches Beispiel hierfür wäre ein Munitionslager.

Als militärisches Ziel gelten ebenso Kombattanten – und Zivilpersonen –, sofern sie unmittelbar, also etwa mit einer Waffe, an den Kampfhandlungen teilnehmen.

Schutz der Zivilbevölkerung höchste Priorität

Ansonsten gilt: Kriegshandlungen gegen die Zivilbevölkerung sind streng verboten. Zivilistinnen und Zivilisten müssen vor allen von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren besonders geschützt werden. Reisinger Coracini sagt dazu: „Das humanitäre Völkerrecht verbietet zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten und auf zivile Objekte. Solche Angriffe sind aber nicht nur verboten, sie sind auch als Kriegsverbrechen strafbar.“

Das zu garantieren, obliegt nicht zuletzt dem militärischen Anführer. Er muss dementsprechend hohe Vorsichtsmaßnahmen treffen, um die Verluste, vor allem aber auch mögliche Kollateralschäden, auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Konkret bedeutet das: „Das humanitäre Völkerrecht nimmt Zivilpersonen als Kollateralschaden in Kauf, solange dieser (Schaden, Anm.) nicht in einem groben Missverhältnis zum erwarteten militärischen Vorteil des Angriffs steht“, so Reisinger Coracini.

Fahrzeug des Roten Kreuzes in Irpin
Reuters/ICRC
Zeichen wie das Rote Kreuz sollen vor Angriffen schützen

Unter Schutz stehen zudem auch Kulturgüter wie Denkmäler, archäologische Stätten, aber auch Kunstwerke und Bücher. Hierfür gibt es wie auch bei Sanitätseinrichtungen eigene Schutzzeichen, die den Kämpfern vermitteln, dass sie nicht angreifen dürfen. Unter Schutz stehen zudem Anlagen und Einrichtungen, die „gefährliche Kräfte“ enthalten, also etwa Staudämme und Kernkraftwerke. Auch sie haben eigene Schutzzeichen.

Wo und wie nicht gekämpft werden darf

Kampfhandlungen dürfen zudem nicht in Sanitätszonen sowie in eigens vereinbarten Sicherheitszonen stattfinden, da diese Bereiche ausdrücklich vom Kriegsgebiet ausgenommen sind. Was die Kampfführung betrifft gibt es ebenso genaue Vorgaben: So sind „unterschiedslose“ Angriffe, also Angriffe, die sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel richten, ebenso verboten wie jene Waffen, die sowohl militärische als auch zivile Objekte unterschiedslos treffen könnten.

Ex-Kriegsreporterin über Kriegsverbrechen

Es seien „eindeutig Angriffe gegen die Zivilbevölkerung“ in der Ukraine dokumentiert worden, so die Autorin und langjährige Kriegsreporterin Petra Ramsauer. Im Interview spricht sie unter anderem über die Auswirkungen von Putins Rhetorik und die notwendige Traumatherapie für Betroffene.

Zu den untersagten Kampfmitteln gehören unter anderem biologische und chemische Waffen, Sprengfallen, Brandwaffen sowie Streumunition. Was Atombomben betrifft so haben 56 Staaten den Atomwaffenverbotsvertrag ratifiziert, der den Einsatz von Kernwaffen verbietet. Als Abschreckung vor dem Einsatz dient hier sonst die Parole „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter.“

Die abschließende Regel betrifft die Rechte von Kriegsgefangenen. Kommt es bei Kriegshandlungen zu Gefangennahmen von Gegnern, ist sicherzustellen, dass diese unter humanen Bedingungen untergebracht und nach dem Ende aktiver Feindseligkeiten ohne Verzug freigelassen werden.

Teile einer Tochka-U-Rakete in Kramatorsk
AP/Andriy Andriyenko
Bei jedem Angriff muss sichergestellt werden, dass die Zivilbevölkerung so gut wie möglich geschützt wird

Militär vs. Menschlichkeit

Alle diese Regeln sollen eine Balance zwischen militärischen Erfordernissen einerseits und Minderung menschlichen Leids andererseits garantieren. Nicht zuletzt, um sicherzustellen, dass nach dem Krieg ein friedliches Zusammenleben möglich ist.

„Viele Regeln des humanitären Völkerrechts werden in vielen Kriegen eingehalten“, sagt Völkerrechtsexpertin Reisinger Coracini. Dabei gilt grundsätzlich: Je höher der Ausbildungsgrad der kämpfenden Truppe, desto größer das Wissen um das humanitäre Völkerrecht. Die Regeln bekanntzumachen sei Aufgabe des Staates und erfolge vor allem im Rahmen der militärischen Ausbildung.

Dokumentation von Kriegsverbrechen

Um Kriegsverbrechen nachweisen zu können, müssen genaue Untersuchungen durchgeführt werden. Während Russland etwa die Gräueltaten von Butscha leugnet, haben die EU, den Haag und die Ukraine Ermittlungen eingeleitet. Zahlreiche Freiwillige helfen außerdem und dokumentieren die Lage für NGOs.

Kriegsverbrechen in der Ukraine?

Klar ist: Wer gegen die Regeln verstößt, begeht Kriegsverbrechen. Im Fall von vermeintlichen Kollateralschäden sei nicht immer ganz einfach zu ermitteln, ob der Angriff ein Kriegsverbrechen darstelle. „Anders, und wohl eindeutiger, ist die Lage bei Zivilisten zu beurteilen, die mit an Rücken gefesselten Händen durch einen Kopfschuss getötet werden, wie dies in Butscha in größerem Ausmaß geschehen sein soll. Oder, wenn es sich um Vergewaltigungen und andere Sexualstraftaten, Folter oder etwa die Misshandlung von Gefangenen handelt.“

Hier könne, sofern die Informationen zutreffen, von schweren Verletzungen gegen das HVR und von Kriegsverbrechen ausgegangen werden, stellt Reisinger Coracini fest. Eine Untersuchung sei jedenfalls erforderlich, „um die Stichhaltigkeit der Beweise und der Vorwürfe zu prüfen“.

Die vier Verbrechen

Die vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts, die am IStGH neben Kriegsverbrechen geahndet werden, sind Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression.

IStGH für strafrechtliche Verfolgung zuständig

Und: Dadurch, dass die Ukraine die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) anerkennt, könnten Angehörige der russischen Armee verfolgt werden, so Reisinger Coracini, die hier von einer „glücklichen Fügung“ spricht.

Da der IStGH allerdings nur für die strafrechtliche Verfolgung von Personen zuständig sei, gehe es in diesem Forum nicht um Russland. „Es geht aber auch nicht nur um Putin. Kriegsverbrechen werden nicht nur von einem Staatsoberhaupt begangen.“

Realistischerweise sei eine vollständige strafrechtliche Aufarbeitung eines bewaffneten Konfliktes gewöhnlich ohnehin erst mit Bereitschaft des betroffenen Staates möglich – oftmals erst nach einem Regimewechsel. Und im Fall der Ukraine und Russlands dürfte das wohl noch eine Zeit lang dauern.