Eine Frau vor einer zerstörten Geburtenklinik in Mariupol
AP/Evgeniy Maloletka
Bericht veröffentlicht

OSZE listet russische Verbrechen auf

Ein am Mittwoch in Wien präsentierter Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sieht „deutliche Anzeichen“ für Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht durch russische Streitkräfte. Auch wenn es kein Urteil darüber gibt, ob es zu Kriegsverbrechen gekommen sei, heißt es, dass es weniger Tote in der Zivilbevölkerung gegeben hätte, wäre Moskau seinen Verpflichtungen nachgekommen.

„Hätte Russland seine Verpflichtungen in Bezug auf Zielwahl, Proportionalität und Vorwarnungen beim Angriff sowie bei besonders geschützten Objekten wie Krankenhäusern eingehalten, hätte es deutlich weniger getötete und verletzte Zivilisten gegeben“, schrieb die vom Grazer Völkerrechtler Wolfgang Benedek geleitete Expertengruppe. Er wurde mit seinem Schweizer Kollegen Marco Sassoli und der tschechischen Menschenrechtsexpertin Veronika Bilkova von der OSZE beauftragt, die Situation der Menschenrechte in der Ukraine seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar zu untersuchen.

Die drei Fachleute fällten kein abschließendes Urteil darüber, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden. Sie stellten jedoch fest, dass gewisse Muster russischer Gewalttaten „wahrscheinlich die Kriterien erfüllen“. Dazu zählten gezielte Tötungen und Entführungen von Zivilisten, darunter auch Journalisten und Beamte. Laut gängiger Definition gelten breit angelegte oder systematische Angriffe gegen Zivilpersonen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Über 50 Angriffe auf medizinische Einrichtungen

Laut dem US-Gesandten bei der OSZE, Michael Carpenter, gibt es weiters Beweise für weitläufige und systematische Angriffe auf medizinische Einrichtungen in der Ukraine, bisher habe man über 50 gezählt. Es handle sich um eindeutige Verstöße gegen internationales Recht.

Zerstörte Geburtenklinik in Mariupol
AP/Evgeniy Maloletka
Die OSZE dokumentierte auch Angriffe auf Objekte wie Krankenhäuser wie etwa den Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol

In Bezug auf Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und das internationale Menschenrecht hätten sowohl Russland als auch die Ukraine ihre Verpflichtungen einzuhalten, so die Experten. Verstöße habe es auf beiden Seiten gegeben, betonten sie. „Die Verstöße durch die Russische Föderation sind jedoch viel schwerwiegender und größer“, heißt es im Bericht.

Auch Kritik an Verhalten Kiews

Abgesehen von den „deutlichen Anzeichen“ für russische Verstöße ist im knapp 100-seitigen Bericht auch die Rede von Verstößen und Problemen auf ukrainischer Seite, insbesondere im Umgang mit Kriegsgefangenen. Im Zusammenhang mit einem Video, das Schüsse auf gefangene russische Soldaten zeigen soll, schrieben die Autoren von einem konkreten Verdacht auf ein Kriegsverbrechen, das von ukrainischen Behörden untersucht werden sollte.

Die Experten, die aus Sicherheitsgründen die jeweiligen Schauplätze nicht besuchen konnten, kritisierten ebenso Ankündigungen Kiews, russische Kriegsgefangene für ihre bloße Teilnahme an Kampfhandlungen strafrechtlich zu verfolgen. Bemängelt wurde zudem die öffentliche Vorführung gefangener Soldaten. Begrüßt wurde unterdessen, dass ein hochrangiger Berater des ukrainischen Präsidenten öffentlich unterstrichen habe, dass Kriegsgefangene in der Ukraine unabhängig von russischen Völkerrechtsverletzungen völkerrechtskonform zu behandeln seien.

Russland lehnte Zusammenarbeit ab

Russland hatte den Fachleuten zuvor eine substanzielle Zusammenarbeit bei den Recherchen verweigert. Die Nominierung einer Verbindungsperson, die bei der Beantwortung von Fragen helfen könnte, würde keinen Mehrwert bieten, schrieb der russische Vertreter bei der OSZE in Wien, Alexander Lukaschewitsch, am 21. März in einem Brief an Benedek. Inhaltlich verwies Lukaschewitsch lediglich auf offizielle russische Presseerklärungen sowie auf ukrainische Videos, in denen laut seiner Darstellung Hass gegen Russen geschürt würde.

„Der Bericht dokumentiert eindringlich das enorme Ausmaß der Grausamkeit der russischen Regierung“, sagte Carpenter. Die gesammelten Informationen müssten nationalen und internationalen Gerichten zur Verfügung gestellt werden, forderte er. In der Nacht auf Mittwoch hatte US-Präsident Joe Biden von „Völkermord“ in der Ukraine gesprochen. Das wies Moskau als inakzeptabel zurück, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Die Situation werde dadurch verzerrt.

IStGH-Chefermittler in Butscha

Im Rahmen der Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine besuchte unterdessen der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Kharim Khan, Butscha. Vor Reportern in dem Kiewer Vorort bezeichnete Khan die gesamte Ukraine am Mittwoch als „Tatort“: „Wir sind hier, weil wir Grund zur Annahme haben, dass Verbrechen begangen werden, die in den Zuständigkeitsbereich des Gerichts fallen“, sagte er.

Es sei wichtig, „den Nebel des Krieges zu durchdringen, um auf die Wahrheit zu stoßen“, sagte der Brite weiter. Erforderlich seien „unabhängige und unvoreingenommene Untersuchungen“. Deshalb sei ein Forensikerteam des IStGH in Butscha, „damit wir wirklich sicherstellen können, dass wir die Wahrheit von Fiktion trennen“. Anfang April waren in Butscha nach dem Abzug russischer Truppen die Leichen Hunderter Zivilisten entdeckt worden. Die ukrainischen Behörden sprechen von Morden durch das russische Militär, Moskau weist die Vorwürfe zurück.