Aktionskünstler Hermann Nitsch in Hinterzarten
APA/dpa/Patrick Seeger
Nitsch tot

„Sein Werk wird weiterleben“

Mit Hermann Nitsch ist am Montag einer der bedeutendsten und prägendsten Künstler Österreichs verstorben. Der Mitbegründer des Wiener Aktionismus polarisierte mit seinen Werken wie kein anderer. Stimmen aus der Politik würdigten am Dienstag sein Schaffen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen: „Sein Werk wird weiterleben.“

Mit ausdrucksstarken Bildern und aufsehenerregenden Aktionen habe er die heimische Kunstwelt neu definiert, so der Bundespräsident in einer Aussendung. Mit dem Tod des gebürtigen Wieners sei die heimische Kunstwelt „um eine ihrer auch international bedeutendsten Persönlichkeiten ärmer. Konsequent hat Hermann Nitsch über Jahrzehnte hinweg an seinem kultischen Stil gearbeitet, seine Werke und sein Wirken haben niemanden kaltgelassen“, so Van der Bellen weiter.

Nitsch war einer der bekanntesten Gegenwartskünstler Österreichs. Am 29. August 1938 geboren, besuchte er die Grafische Lehr- und Versuchsanstalt. Nitsch entwickelte eine eigenständige Kunstpraxis, das Orgien-Mysterien-Theater, bei dem er Text, Musik, Malerei und Performance gesamthaft verknüpfte. Mit Schüttbildern und archaischen Ritualen unter Verwendung von Tierblut und -kadavern polarisierte er wie nur wenige. Und doch stieg er damit vom Provokateur zum Großkünstler auf – mehr dazu in noe.ORF.at.

„Enorme Willens- und Schaffenskraft“

„Mit dem Tod von Hermann Nitsch verliert Österreich einen großartigen Universalkünstler, der die Kunstszene über sechs Jahrzehnte lang nachhaltig geprägt hat wie kein anderer“, ließ Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) verlauten. „Die Nachricht des Todes von Hermann Nitsch macht mich sehr betroffen“, kondolierte auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) auf Twitter: „Mit ihm haben wir einen einzigartigen österreichischen Künstler verloren.“

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hielt fest: „Er hat mit enormer Willens- und Schaffenskraft sowie großartigem Eigensinn tief in die menschliche Existenz geschaut und Irritierendes und Verstörendes zutage gefördert und dabei doch fröhlich und sinnlich das Leben zelebriert.“ Für Grünen-Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer hat Nitsch mit seinen Orgien-Mysterien-Spielen „die Grenzen des Kunstschaffens neu definiert“. Als „Personifikation der österreichischen Aktionskunst“ bezeichnete Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) den Toten – mehr dazu in oe1.ORF.at.

Fotostrecke mit 6 Bildern

Hermann Nitsch vor dem Schloss Prinzendorf
picturedesk.com/dpa/David Visnjic
Das 1971 gekaufte Schloss Prinzendorf war für Nitsch Wohnort und Wirkungsstätte
Das von Hermann Nitsch gestaltete Bühnenbild der „Walküre“
APA/Festspiele Bayreuth/Enrico Nawrath
Schüttaktion für „Die Walküre“ bei den Bayreuther Festspielen 2021
Hermann Nitsch während einer Blut-Performance in Frankfurter Kunsthalle Schirn
APA/dpa/Boris Roessler
Nitsch während einer Blut-Performance in der Frankfurter Kunsthalle Schirn (2001)
Nachschub-Lieferung von Frisch-Blut  für Hermann Nitschs Theater
APA/Günter Artinger
Das Orgien-Mysterien-Theater 1989 in Prinzendorf bezeichnete Nitsch immer wieder als einen Höhepunkt seines Schaffens
Hermann Nitsch in der Nitsch Foundation in Wien
APA/Harald Schneider
Nitsch im Oktober 2009 bei einer Aktion mit Lebensmitteln und Blut in der Nitsch Foundation in Wien
Hermann Nitsch Museum in Mistelbach
APA/Wolfgang Huber-Lang
In Mistelbach gibt es seit 2007 ein Nitsch-Museum. Es wurde laut Geschäftsführer Christoph Mayer eröffnet, „um dem Werk von Hermann Nitsch eine dauerhafte Plattform zu geben“.

Er sei „eine schillernde, zuweilen auch polarisierende und umstrittene, aber immer spannende Künstlerpersönlichkeit von weltweiter Bedeutung“ gewesen, sagte Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Ihr Vorgänger Erwin Pröll (ÖVP) zeigte sich betroffen: „Sein Name und Werk bleiben über seinen Tod hinaus ein Teil der Kunstgeschichte.“ Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) bedauerte Nitschs Tod als „großen Verlust für die heimische und internationale Kunstszene“.

Für ÖVP-Kultursprecherin Maria Großbauer war Nitsch „ein Künstler von internationalem Format“. Die Kultursprecherin der Grünen, Eva Blimlinger, würdigte ihn als „Gesamtkünstler zwischen Aktionismus, Ritus, Mysterium und Literatur“. SPÖ-Kultursprecherin Gabriele Heinisch-Hosek nannte ihn einen „radikalen Avantgardisten“. Und NEOS-Kultursprecherin Julia Seidl bezeichnete Nitsch als einen „Künstler, der sich von nichts und niemandem abbringen ließ“.

Nachkriegsösterreich „den Spiegel vorgehalten“

Auch die Kulturszene würdigte am Dienstag das Werk von Nitsch. So sagte Albertina-Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder, dass dessen „beispielloser Einfluss“ weit über die Grenzen des Landes hinausreiche. In der Albertina befindet sich die nach Eigenaussage weltweit bedeutendste und umfangreichste Sammlung von Nitsch-Werken. „Vom offiziellen Österreich viel zu lange geschmäht, hat er schließlich mit großer Befriedigung sein eigenes Museum in Niederösterreich erhalten.“

Belvedere-Generaldirektorin Stella Rollig äußerte sich ähnlich und sprach von Nitsch als einer „Zentralfigur der Kunstwelt“. Er habe das österreichische Kunstgeschehen „mit archaischer Mystik bereichert und den ritualisierten Exzess zur Kunst gemacht“. Mumok-Direktorin Karola Kraus betonte, dass Nitschs „scharfsinniger Geist“ fehlen werde. Seine Arbeit habe der „geschichtsverdrängenden und von einem konservativen Katholizismus geprägten österreichischen Nachkriegsgesellschaft unverhohlen den Spiegel“ vorgehalten.

„Auch wenn Nitschs Kunst viele Grenzen überschritt, war er als Mensch von tiefstem Humanismus und Weisheit geprägt. Sein radikales Werk wurde Vorbild für Generationen von Künstlerinnen und Künstlern“, schreibt die Direktorin des Jüdischen Museums Wien (JMW), Danielle Spera. Nitsch war „ein Künstler mit so vielen verschiedenen Talenten wie wenige andere“, und diese Talente habe er auf das Bestmögliche genützt, so Spera, die in ihrem Nachruf zudem auf ihre „lange und sehr innige Freundschaft“ mit Nitsch und seiner Frau Rita verweist.

Brus: „Schwer in Worten auszudrücken“

Künstler und Nitsch-Wegbegleiter Günter Brus sagte, dass er „ziemlich fertig“ sei, „obwohl vorbereitet auf sein Hinsterben“. „Genau betrachtet war ja der Hermann derjenige, der von uns (den Wiener Aktionisten, Anm.) am längsten verfolgt worden ist, das war bei mir kürzer, aber auch heftiger“, sagte der Maler. Der Kontakt zu Nitsch sei immer eng gewesen, aber nicht mehr so heftig in den vergangenen Jahren, so Brus. „Der Tod ist ja eine Menschheitsfrage“, räsonierte Brus anlässlich des Ablebens seines Freundes, „aber es muss eben sein. Es ist schwer mit Worten auszudrücken, was man fühlt, wenn jemand so gut und innig wie der Hermann war.“

„Sie hat mich doch sehr geliebt“

Nitschs Kindheit war von den Wirren des Weltkrieges geprägt. Der Vater starb, die Mutter zog ihren Sohn alleine auf. „Ich habe in diesem Alter schon wirklich Todesangst gehabt und begriffen, was es heißt zu sterben“, schrieb Nitsch einst in einem Katalogtext. „Meine Mutter hat schon sehr darunter gelitten. Sie hat die ganzen Skandale mitgemacht, wie ich in den Zeitungen verhöhnt und verspottet worden bin“, sagte Nitsch zum „Kurier“. Irgendwann habe sie gemerkt, dass sich seine Kunst durchsetzen wird. „Sie hat mich doch sehr geliebt und wäre enttäuscht gewesen, wenn ich meiner Kunst abgeschworen hätte.“

Aktionskünstler Hermann Nitsch 1995
AP/Ronald Zak
Zu den bekanntesten Werken von Nitsch zählt das intensive Orgien-Mysterien-Theater

Dass er mit seiner Kunst provoziert, sei nicht beabsichtigt gewesen, betonte Nitsch mehrmals, er wollte lediglich Intensiveres erschaffen. So sind es die eindrücklichen Bilder aus Nitschs Gesamtkunstwerk des Orgien-Mysterien-Theaters, die wohl am stärksten in Erinnerung bleiben werden. Menschen wühlen mit den Händen in warmen Tierkadavern und holen Gedärme hervor. Musik dröhnt.

Ein mit verbundenen Augen an ein Kreuz gebundener Mensch wird kübelweise mit Tierblut überschüttet. Die Idee zum Orgien-Mysterien-Theater entstand Mitte der 1950er Jahre. Basierend auf den griechischen Tragödien und beeinflusst von Expressionisten wie Georg Trakl, den frühen französischen Symbolisten und den Surrealisten, wollte der Künstler damit eine Art Urdrama der Welt auf die Beine stellen, das alle Konflikte der Menschheit verinnerlicht und abbildet.

Schloss Prinzendorf: Heimat und Ort zahlreicher Aktionen

In den frühen 1960er Jahren gründete er zusammen mit Günther Brus, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler die Bewegung des Wiener Aktionismus, der sich mit seinen Tabus ignorierenden Materialschlachten als Kontrapunkt zur vorherrschenden harmlosen Wohlfühlkunst verstand. Die Folgen waren ebenso radikal wie die Aktionen. Es dauerte nicht lange, und Nitsch ebenso wie seine Mitstreiter sahen sich mit harscher Kritik, Anfeindungen und gar Inhaftierungen konfrontiert. 1968 emigrierte der als Skandalkünstler Geltende deshalb nach München.

Herman Nitsch, Christian Ludwig Atterseeund Arnulf Rainer
APA/Fesl
Nitsch mit Christian Ludwig Attersee (M.) und Arnulf Rainer (r.)

Während er in seiner Heimat noch beschimpft wurde, stellten sich zu dieser Zeit im Ausland erste große Erfolge ein. So nahm Nitsch 1972 an der documenta in Kassel teil, stellte in New York und London aus und verfolgte unbeirrt weiter seine Vision eines Gesamtkunstwerks. In greifbare Nähe rückte dessen Realisierung dann mit dem Erwerb von Schloss Prinzendorf in Niederösterreich Anfang der 1970er Jahre. Es wurde zum Austragungsort zahlreicher Aktionen des Orgien-Mysterien-Theater – Prinzendorf wird auch die letzte Ruhestätte des Künstlers, denn im Schlossgarten soll Nitsch seinem Wunsch gemäß beigesetzt werden.

TV-Hinweis

Der ORF ändert sein Programm und zeigt am Dienstag um 22.35 Uhr in ORF2 „Das Universum des Hermann Nitsch“.

Sein Ideal des Sechstagespiels verwirklichte Nitsch, der in den letzten Lebensjahren immer stärker seine Musik der Schreichöre und Lärmorchester in den Vordergrund rückte, erstmals 1998 in Schloss Prinzendorf als Höhepunkt seines Schaffens. Die Veranstaltung führte zu einem enormen Medientrubel und sorgte für viel Erregung. Die letzte Realisierung der ersten beiden Tage seines im Vorjahr coronavirusbedingt verschobenen Sechstagespiels am 30. und 31. Juli wird Nitsch nun nicht mehr erleben.

„Wie ein Gewürz bei einer guten Speise“

Proteste von Kritikern und Tierschützern wie Ende der 90er Jahre sind dabei nicht mehr zu erwarten, hat sich doch längst der Erfolg auch in Nitschs Heimat eingestellt. Das Burgtheater adelte den Künstler 2005, indem es ihm seine Räume für eine achtstündige Aktion anbot. Der Österreichische Kunstpreis für bildende Kunst (1984) und der Große Österreichische Staatspreis für bildende Kunst (2005) sind nur zwei der vielen Auszeichnungen, die Nitsch erhielt. Preise waren ihm allerdings nicht wichtig, wie er in mehreren Interviews immer anklingen ließ. So sei ihm etwa der Staatspreis „wurscht“ gewesen.

Aktionskünstler Hermann Nitsch 1995
APA/Kelly Bitz
Vor der französischen Botschaft protestierte Nitsch 1995 gegen französische Atomtests im Pazifik

Die mutmaßlich größten Auszeichnungen für den Künstler waren und sind hingegen die beiden Museen in Mistelbach und Neapel, die Nitsch bereits zu Lebzeiten gewidmet wurden. Michael Karrer, künstlerischer Leiter des Nitsch-Muesums, ließ in einer Stellungnahme wissen: „Es ist im Sinne des Künstlers, dass sein Werk in die nächsten Generationen getragen wird, und das nitsch museum wird diese Aufgabe mit großem Engagement und entsprechender Verantwortung für Hermann Nitsch erfüllen.“

Umstritten und verehrt: Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch

Kunst war für Nitsch eine religionsähnliche Tätigkeit. Für seine theatralischen Malaktionen musste er sogar ins Gefängnis. Die Orgien-Mysterien-Theater zählen zu seinem Lebenswerk.

International erklomm Nitsch im Vorjahr den Wagner-Thron in Bayreuth, als er eine halbszenische „Walküre“ mit einer gigantischen Malaktion in ein Farbereignis verwandelte. Dass es dabei von Teilen des Publikums auch Unmutsäußerungen gab, irritierte den längst zum unangreifbaren Kunststar aufgestiegenen Nitsch nicht. „Ich habe mein ganzes Leben lang Buhs bekommen. Ich wäre traurig gewesen, wäre das nicht der Fall gewesen. Dann hätte ich wirklich gemerkt, dass ich alt geworden bin“, unterstrich der Gesamtkünstler im Vorjahr: „Das ist wie ein Gewürz bei einer guten Speise.“