Javier Milei wird von seinen Anhängern umjubelt
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Argentiniens Trump

„La Peluca“ Javier Milei mischt Politszene auf

Seit Jahrzehnten schlittert Argentinien von einer Wirtschaftskrise in die nächste. Von der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den traditionellen Parteien profitiert „La Peluca“ Javier Milei. Der libertäre Ökonom möchte die Zentralbank abschaffen, das Tragen von Waffen liberalisieren und Abtreibungen verbieten – und könnte mit seinen radikalen Forderungen bei der Präsidentschaftswahl 2023 eine politische Zeitenwende einläuten.

„La Peluca“, die Perücke, wird Javier Milei in Argentinien wegen seiner – laut eigenen Angaben bewusst unfrisierten – Haare genannt. Und nicht nur wegen der Frisur fällt auch außerhalb Lateinamerikas häufig der Vergleich mit dem ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Seit seinem Einzug in das argentinische Parlament im Dezember vergangenen Jahres vergeht kaum ein Tag, an dem der libertäre Ökonom nicht durch provokative Aussagen, die er vor allem gegen die politische Elite und Vertreter der Linken richtet, in den Schlagzeilen landet.

„Die gemeinsame Linie ist unser Kampf gegen den Kommunismus, gegen den Sozialismus“, verweist auch Milei selbst auf Gemeinsamkeiten mit Trump oder Brasiliens rechtspopulistischem Präsidenten Jair Bolsonaro. Die argentinische Regierung bezeichnete er im „Le Monde“-Interview einst als „politische Kaste“, bestehend aus „nutzlosen, parasitären Politikern“ die „nie gearbeitet haben“. Der Staat und der Internationale Währungsfonds (IWF) würden den Argentiniern durch Inflation ihr Geld stehlen und sie durch „asoziale“ Sozialleistungen abhängig und wirtschaftlich unkreativ machen.

Javier Milei hält eine Rede
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Anarchokapitalist Javier Milei bei einer seiner öffentlichen Vorlesungen über Wirtschaft, die von Massen besucht werden

Milei: Staat ist eine kriminelle Organisation

Stattdessen plädiert der Anhänger der österreichischen Schule der Ökonomie, in der individuelle Entscheidungen und individuelles Handeln im Vordergrund stehen, für freie Liebe, gleichgeschlechtliche Ehe und unbegrenzte Einwanderung. Sich selbst bezeichnet er als Anarchokapitalist, die Klimakrise als „sozialistische Lüge“. Der Staat solle sich nicht in das Privatleben der Menschen einmischen, so das Kernargument. Bevor er Steuern erhöhe oder einführe, würde er sich „eher einen Arm abhacken“, so Milei 2020.

Bereits vor seinem Einzug in das argentinische Parlament gab Milei an, sein Gehalt nicht annehmen, sondern verlosen zu wollen. Für eine dieser öffentlichkeitswirksamen Verlosungen im Vormonat meldeten sich fast fünf Prozent der Gesamtbevölkerung Argentiniens an. „Aus meiner philosophischen Sicht ist der Staat eine kriminelle Organisation, die sich durch Steuern finanziert, die den Menschen gewaltsam abgenommen wurden“, so Milei. „Wir geben das Geld zurück, das die politische Kaste gestohlen hat.“

Kandidatur bei Präsidentschaftswahl 2023

Aussagen wie diese scheinen in Argentiniens Bevölkerung einen Nerv zu treffen – wie sich vergangenes Jahr zeigte, als Mileis libertäres Parteienbündnis La Libertad Avanza („Die Freiheit schreitet voran“) bei den Parlamentswahlen in Buenos Aires in der ersten Runde überraschend 13 und schließlich 17 Prozent der Stimmen erhielt. Da die Libertären mittlerweile in Umfragen weiter aufgeholt haben, hat Milei angekündigt, 2023 als Präsident kandidieren zu wollen.

Bisher galt der Peronismus, seit er in den 1940er Jahren unter General Juan Peron eingeführt wurde, als dominante politische Strömung in Argentinien, die sich weder eindeutig links noch eindeutig rechts verorten lässt. Auch die Kirchner-Familie, die seit Jahrzehnten immer wieder hohe politische Ämter besetzt und aktuell die argentinische Vizepräsidentin stellt, entstammt der peronistischen Tradition.

Aktuell gilt das 45-Millionen-Einwohner-Land als stark polarisiert zwischen dem peronistischen amtierenden Präsidenten Alberto Fernandez und seinem konservativen Vorgänger Mauricio Macri. Da keiner von beiden es bisher geschafft hat, die wirtschaftliche Situation Argentiniens zu bessern, könnte der rechtslibertäre Milei langfristig eine politische Zeitenwende einläuten, prognostiziert das „Handelsblatt“.

Vor allem bei Jüngeren erfolgreich

Am erfolgreichsten ist Milei, der erst mit 50 Jahren seinen ersten politischen Job im Parlament bekleidete, mit seinem schrillen Auftreten und Leitsprüchen wie „Libertad, carajo!“ („Freiheit, verdammt noch mal!“) allerdings eindeutig bei den jüngeren Wählerinnen und Wählern.

Ein argentinischer Buchhändler berichtete der „Washington Post“, dass sich Schüler im Alter von elf Jahren Bücher des Wirtschaftswissenschaftlers Friedrich Hayek kaufen würden, nachdem Milei diese im Fernsehen empfohlen hatte. Und auch argentinische Influencer verbreiten Mileis Aussagen in den sozialen Netzwerken.

„Bis vor fünf oder sechs Jahren dachten wir, dass junge Leute standardmäßig Kirchneristen sind“, so Maria Esperanza Casullo, Politikwissenschaftlerin an der Nationalen Universität von Rio Negro, gegenüber „Americas Quarterly“. Milei habe jedoch die Kluft zwischen links und rechts durchbrochen und insbesondere jene jungen Menschen von peronistischen Parteien weggelockt, die mit Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen hätten und nicht mehr daran glauben würden, dass der Staat ihnen helfen könne.

Hyperinflation und Arbeitslosigkeit drücken Wirtschaft

Argentinien kämpft seit Jahrzehnten mit Staatspleiten und steigender Armut. Knapp 40 Prozent aller Menschen in Argentinien gelten als armutsgefährdet. Für junge Unternehmerinnen und Unternehmer gestaltet sich zudem die Arbeit in der Privatwirtschaft durch zahlreiche Richtlinien und strenge Vorgaben schwierig. Von 100 Argentiniern im erwerbsfähigen Alter waren 2020 laut „Foco Economico“ nur 18 Prozent in einem formellen Arbeitsverhältnis in der Privatwirtschaft beschäftigt – der Rest war entweder von der Sozialhilfe abhängig, arbeitete in der Schattenwirtschaft oder im öffentlichen Sektor.

Letzterer ist zunächst unter dem ehemaligen General Peron in den 1940er Jahren, später unter den Regierungen der Kirchners überproportional stark gewachsen: Laut der Stiftung Fundacion Mediterranea hat sich die Zahl der Beamten in Argentinien in den letzten 20 Jahren vervielfacht. Auch aktuelle OECD-Daten belegen die Größe des argentinischen öffentlichen Sektors, in dem 17 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigt sind – verglichen mit zwölf Prozent in Brasilien und Mexiko. Die Steuereinnahmen machen fast 30 Prozent des gesamten BIP aus.

Javier Milei hält eine Rede
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Im September 2021 erhielt Mileis Partei bei den Vorwahlen in Buenos Aires 13 Prozent der Stimmen und belegte damit den dritten Platz

Analysten: Einzug in Stichwahl nicht ausgeschlossen

„Milei artikuliert die Wut der Menschen besser als jeder andere“, sagte Lucas Romero, Direktor der Beratungsfirma Synopsis in Buenos Aires, im Gespräch mit der „Washington Post“. „Sein Geschwätz gegen die politische Führung hilft ihm, Unterstützung aufzubauen, die auf den schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen des letzten Jahrzehnts beruht.“

Obwohl unklar ist, ob die Begeisterung für Milei bis Herbst 2023 andauern wird, halten Expertinnen und Experten es im Falle einer Zersplitterung der Peronisten für möglich, dass er es in die Präsidentschaftsstichwahl schaffen könnte. Der vom politischen Establishment lange als Witzfigur abgetane Milei liegt in ersten Umfragen vorne und hat den Vorteil, dass er von Wählerinnen und Wählern aus dem gesamten Spektrum unterstützt wird – auch von jenen mit geringem Einkommen, die traditionell eher den Peronisten zugeordnet werden.

„Ich gehöre zu denen, die glauben, dass Mileis Chancen real sind“, sagte die Politikwissenschaftlerin Ana Iparraguirre gegenüber der „Washington Post“. Am meisten beunruhige sie allerdings nicht sein möglicher Erfolg bei der Wahl, sondern dass seine antidemokratischen Reden langfristige Narben hinterlassen könnten, „die schwerwiegender sind als die Frage, wer gewinnt.“