Russischer Panzer
Reuters/Alexander Ermochenko
Russische Großoffensive

Wetter spielt mehr als Nebenrolle

In der Ostukraine hat die russische Armee ihre Großoffensive begonnen. Die Rede ist nun von einer „zweiten Phase“ des Krieges mit Angriffen über die gesamte Frontlinie in der Region Donbas – laut ukrainischen Angaben über 480 Kilometer. Bei allem Aufwand an Logistik und Truppenstärke hegen Militärexperten Zweifel an einem Erfolg der Großoffensive. Eine unberechenbare Rolle dabei spielt das Wetter.

Die russischen Truppen hatten bereits im Winter Probleme mit dem Wetter gehabt, als Temperaturen im zweistelligen Minusbereich das Tempo ihres Vormarschs gestoppt hatten. Aktuell im Frühling sind es Regen und aufgeweichte Böden, die zu einem entscheidenden – und nicht beinflussbaren – Faktor wurden.

Bei ihrer Offensive auf die ukrainische Hauptstadt Kiew seien die russischen Verbände hauptsächlich auf bzw. entlang zweier Straßen vorgerückt, sagte der Militärwissenschaftler Jack Watling vom britischen Royal United Services Institute (RUSI). Abseits dieser Straßen hätten sie wegen sumpfiger Böden und dichter Wälder Probleme gehabt, mit schwerem Gerät voranzukommen. Leichtere, sich schneller bewegende Infanterieeinheiten seien inzwischen schon in Reichweite der ukrainischen Artillerie geraten.

Aufgeweichtes Gelände bremst Panzer

Im Donbas sind die landschaftlichen Gegebenheiten zwar andere, Regen und aufgeweichte Böden könnten die russischen Angreifer dennoch bremsen, wie ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz am Dienstag aus der ostukrainischen Stadt Charkiw berichtete. Heftiger russischer Artilleriebeschuss entlang der Frontlinie diene dazu, das Feld für den eigenen Vormarsch aufzubereiten.

Wehrschütz (ORF) über Lage in Donbas

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz gibt ein Statement über die Schlacht um den Donbas und die derzeitige Lage in der ukrainischen Stadt Charkiw.

Das Wetter begünstige allerdings derzeit die ukrainischen Verteidiger, da aufgeweichte Straßen und aufgeweichtes freies Gelände es der russischen Panzertruppe schwermachten, wie geplant vorzurücken, was den ukrainischen Verbänden immer wieder die Gelegenheit zu Gegenangriffen biete.

Kein rasches Manövrieren im Gefecht

Ähnlich hatte die Lage zuletzt Michael Clarke, zwischen 2007 und 2015 Direktor des RUSI und aktuell am Londoner King’s College, analysiert. Bei einem Angriff über weites, offenes Gelände könnten die russischen Truppen Probleme bekommen, schweres Gerät wie Panzer und Artillerie rasch zu manövrieren, sagte er in einer Analyse für Sky News.

Russische Panzer
Reuters/Alexander Ermochenko
Abseits der Straßen tun sich Panzer mit schnellen Manövern schwer

Die ukrainische Seite habe inzwischen Zeit gehabt, sich auf den Angriff vorzubereiten. Die Temperaturen waren in den letzten beiden Wochen deutlich gestiegen, es regnete, für die nächsten Tagen sind für die Ostukraine Regen und Temperaturen teils über 20 Grad prognostiziert.

Spekulationen über den 9. Mai

RUSI-Militärexperte Watling erwartet in der Ostukraine ein direktes Aufeinandertreffen russischer und ukrainischer Verbände, wie er am Donnerstag gegenüber der BBC sagte, mit entsprechend heftigen Gefechten. Das britische Institut befasst sich mit Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit.

Russischer Panzer im Schnee
APA/AFP/Sergey Bobok
Bis März hatte strenger Frost den russischen Vormarsch gebremst

Mehrfach war in den letzten Wochen spekuliert worden, dass Russland bzw. sein Präsident Wladimir Putin am 9. Mai den militärischen Sieg im Donbas, der wichtigen ukrainischen Industrieregion, verkünden wolle, am Tag des Sieges der damaligen Sowjetunion über Nazi-Deutschland, dem wichtigsten russischen Feiertag samt jährlich stattfindender riesiger Militärparade in Moskau. Ist dieses Ziel bzw. Datum realistisch?

Weitere Mobilmachung anstatt Sieg verkünden?

„Machbar“ sei das, so die Einschätzung des britischen Militärwissenschaftlers im BBC Radio 4, aber „weit weg von sicher.“ Die ukrainischen Einheiten seien inzwischen erschöpft, die Gefechte dürften heftig werden, die ukrainische Seite riskierte viele Opfer. Allerdings heißt es immer wieder, dass die Moral der russischen Truppen schlecht sei, da die „Militäroperation“, wie der Krieg von Moskau offiziell genannt wird, nicht so verlaufe wie erhofft. Auch für sie könnte die Offensive ein letzter Versuch sein, bevor sie sich neu aufstellen müssten.

Grafik zur russischen Offensive im Osten der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW/dpa

Watling hält es durchaus für möglich, dass Russland, statt einen Sieg in der Ostukraine zu verkünden, eine weitere Mobilisierung ankündigt. Als Russlands strategisches Ziel gilt die Errichtung eines Landkorridors zwischen dem Donbas und der bereits 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Die „Schlacht vom Donbas“ habe nun begonnen, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Stabschef Andrij Jermak sprach von einer „zweiten Phase des Krieges“, die mit dem russischen Großangriff entlang der Hunderte Kilometer langen Front begonnen habe.