Personen stehen vor Windrad
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Erneuerbare Energien

Belgische Stadt zeigt Weg aus der Krise

In Brüssel wird derzeit intensiv über die Frage beraten, wie sich Europa aus der Abhängigkeit von Russlands Energie befreien kann. Ein Blick auf das 70 Kilometer entfernte Städtchen Eeklo könnte Antworten liefern – gilt es doch als Pionier, was die Selbstversorgung mit erneuerbaren Energien betrifft. 130 Prozent des benötigten Stroms werden hier mittlerweile lokal produziert. Wie das ohne großes Budget gelang, welche Rolle die Bürger und Bürgerinnen dabei spielen und warum das Modell überall anwendbar ist, erzählen die Verantwortlichen im Gespräch mit ORF.at.

Auf den ersten Blick wirkt Eeklo wie ein typisches Städtchen in Flandern, dem „flachen Land“ im Norden Belgiens. Weite grüne Wiesen bis zum Horizont, Ackerflächen, Felder. Am Rande jene Eichenbaumwälder, denen die 20.000-Seelen-Gemeinde ihren Namen verdankt. Auf den zweiten Blick zeigen sich zwischen den Bäumen weiße Windräder, deren Rotorblätter sich stetig in den Lüften drehen, während auf den Dächern der Stadt petrolfarbene Solarpaneele die Sonne widerspiegeln.

„Es ist uns gelungen, ein einzigartiges Energiemodell zu entwickeln“, sagt Bob D’Haeseleer. Der ehemalige grüne Vizebürgermeister zählt zu den treibenden Kräften hinter der Energiewende Eeklos. Viel spricht er im Laufe des Tages über „Energiedemokratien“, darüber, dass Energie wieder zu einem lokalen Produkt werden müsse. So wie das in den Zehntausenden Jahren vor der industriellen Revolution der Fall gewesen sei.

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Windrad im Wald
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Erneuerbare Energien wie Windkraft spielen eine zentrale Rolle im Kampf gegen die Klimakrise
Menschen stehen vor Windradtür
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Das wissen auch Jan De Pauw und Bob D’Haeseleer. Ihre Vision: Energie soll wieder zum lokalen Produkt werden. In diesem Fall: Windenergie.
Windrad
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Doch wie funktioniert Windenergie überhaupt? Die Strömungsenergie des Windes wird über die Rotorblätter zunächst in mechanische Rotationsenergie umgewandelt.
Personen gehen Leiter rauf
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Durch die Umdrehungen wird ein Generator im Inneren der Windanlage angetrieben, der die Bewegungsenergie in elektrische Energie umwandelt
Personen nähern sich Windrad
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Dabei gilt: Je höher der Turm und je größer die Rotorblätter, desto mehr Strom kann erzeugt werden

Erneuerbare als „Energie der Freiheit“

Denn erst als Kohle und Erdöl ins Bild traten, sei Energie zu einem globalen Gut geworden. Und brachte die Menschheit damit in jene verworrene Situation, in der sie sich heute wiederfindet. In der Energie als geopolitische Waffe eingesetzt wird, gefährliche Abhängigkeiten schafft, den Planeten zerstört, in der Bürger und Bürgerinnen ihre Strom- und Gasrechnungen nicht mehr bezahlen können.

Simone Tagliapietra, Ökonom bei dem Brüsseler Thinktank Bruegel und Koryphäe im Bereich der Energiepolitik, sagt gegenüber ORF.at: „Es ist nun allen klar, dass erneuerbare Energie für einen abhängigen Kontinent wie Europa die Energie der Freiheit darstellt. Denn diese Energie können wir im eigenen Land produzieren.“

Zwei Männer vor Windrad
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Der ehemalige Vizebürgermeister D’Haeseleer (links) und der Energiewendebeauftragte von Eeklo De Pauw (rechts)

Windanlagen in der Hand der Bevölkerung

Energie im eigenen Land zu produzieren – das ist es auch, was in Eeklo bereits vor mehr als 20 Jahren geschah, als hier die ersten Windräder aufgestellt wurden. Das Besondere daran: Sie alle befinden sich in den Händen von Bürgerinnen und Bürgern. Möglich gemacht wird das durch eine Kooperative namens Ecopower, ein Zusammenschluss von Leuten, die ihre eigene Energie produzieren und so von großen Energiekonzernen unabhängig werden wollten.

Jan De Pauw, Projektingenieur und für die Durchführung der Energiewende in Eeklo beauftragt, erzählt stolz von ebenjenen Anfängen: „Bei einer Informationsveranstaltung haben sie (Ecopower, Anm.) zu uns gesagt: ‚Das ist nicht unsere Windturbine. Das wird eure sein.‘ Jeder konnte sich der Kooperative anschließen und die Elektrizität für sein Zuhause nutzen. Das war eine großartige Idee. Daher bin ich beigetreten. Meine Mitgliedsnummer ist 300. Mit mehr als 60.000 Mitgliedern ist Ecopower heute eine der größten Genossenschaften in Europa.“

Warnschild mit Schrift „Ecopower“
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Eeklo ging seinen eigenen Weg und errichtete vor mehr als 20 Jahren die ersten genossenschaftlichen Windkraftanlagen

Bis zu 40 Prozent niedrigere Strompreise

Anders als bei kommerziellen Windkraftprojekten geht der Profit der Windkraftanlagen nicht an große Energieanbieter, sondern direkt an die Bürgerinnen und Bürger, die in die Windanlage investierten. Pro Anlage seien das rund 250.000 Euro im Jahr. Über deren Verwendung können die Miteigentümer selbst bestimmen. Doch was geschieht mit dem Geld?

Infozettel an der Wand
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Die Bürgerinnen und Bürger am Projekt teilhaben lassen und gut informieren, so lautet die Devise. Der Titel des Infoplakats: „Auf dem Weg zu einem klimafreundlichen Eeklo: Was wird für 40 Prozent erneuerbare Energieerzeugung benötigt?“

„Zunächst einmal senken die Eigentümer ihre Energierechnung, die angesichts der Preise auf dem Markt derzeit sehr hoch ist. Alle Mitglieder der Genossenschaft haben eine Energierechnung, die 30 bis 40 Prozent niedriger ist als die des kommerziellen Marktes“, erklärt De Pauw. Zudem gebe es eine kleine Dividende für alle Beteiligten.

Sozialer Mehrwert durch lokale Projekte

Im Durchschnitt seien rund 3.000 Haushalte an einer Windturbine beteiligt. Neben der direkten Partizipation der Bürgerinnen und Bürger ginge es vor allem aber um den sozialen Mehrwert für die Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde. So würden mit dem Gewinn auch lokale Projekte in der Kleinstadt finanziert – „mit großer Wirkung auf die Gemeinschaft“, wie De Pauw betont. Auch für D’Haeseleer bilden diese Projekte die Basis dafür, dass die Energiewende in Eeklo starken Rückenwind aus der Bevölkerung erhalte.

Gerade zu Beginn sei das so noch nicht der Fall gewesen. Es habe einen großen Aufwand und noch mehr Aufklärungsarbeit erfordert, um die Bürger und Bürgerinnen von den Windkraftwerken zu überzeugen. Die Gemeinde habe Informationsveranstaltungen organisiert, etwa Ausflüge zu anderen Windanlagen. „So konnten die Menschen selbst sehen, wie laut ein Windrad ist oder was der tatsächliche Effekt des Schattens ist“, erzählt D’Haeseleer.

Auch wurde eine eigene Anlaufstelle geschaffen. Mit De Pauw gibt es seither eine direkte Ansprechperson für Energiefragen. Zuerst habe er gezögert, doch dann habe seine Frau ihn dazu gedrängt, den Job anzunehmen, und „man sollte immer auf seine Frau hören“, sagt De Pauw und lacht. Noch jetzt sehe er bei seinen Spaziergängen das Potential der vielen freien Flächen in der Gemeinde. Eine neue Windanlage hier, neue Solarpaneele dort.

Mann präsentiert Daten
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De Pauw tüftelt schon an den nächsten Energieprojekten. Viel Zeit, um die Klimaziele zu erreichen, bliebe nicht mehr, daher will er mit der „Verwirklichung guter Ideen“ helfen.

„Keine einzige“ Klage, „keine einzige“ Beschwerde

All diese Schritte hätten dazu geführt, dass es im Genehmigungsverfahren „keine einzige“ Beschwerde und „keine einzige“ Klage aus der Bevölkerung gegeben habe. Und das trotz der Tatsache, dass die Windräder nur fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt errichtet wurden, erzählt D’Haeseleer. Mittlerweile gibt es in der Kleinstadt 20 Windanlagen, ein Teil davon immer noch in der Hand von Kooperativen. Und bis heute: Kein einziger Einwand aus der Bevölkerung.

„Es geht darum, den Leuten zu zeigen, welche Vorteile sie von lokaler Energie haben. Wenn sie ein Stück dieser Windturbinen besitzen, sind sie nicht vom Schatten und den Geräuschen genervt. Im Gegenteil. Sie sehen die Registrierkasse, sie sehen das Geld, das hereinkommt“, meint D’Haeseleer.

Experte: Weg Eeklos vielversprechend

Auch der Energieexperte Tagliapietra hält den Weg Eeklos für vielversprechend, biete er doch eine gute Lösung des sonst so stark vorherrschenden „Not in my Backyard“-Problems (NIMBY). Ein Phänomen, das besagt, dass ein Großteil der Bevölkerung den Ausbau erneuerbarer Energien zwar begrüße, aber nicht in ihrem Hinterhof (Backyard, Englisch), also nicht in ihrer unmittelbaren Umgebung.

Wenn man mit den Betroffenen in eine Diskussion trete, ihnen erkläre, was der Nutzen sei und wie sie davon profitieren, wenn die Gemeinde für die Infrastrukturprojekte entschädigt werde, etwa mit dem Bau neuer öffentlicher Sportplätze und Schulen, wenn man sie zum Teil der Projekte mache, könne die Zustimmung zu Erneuerbaren trotz NIMBY deutlich erhöht werden.

Tunnel
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So sieht ein Windrad von innen aus – die Leiter führt auf über 100 Meter bis zur Spitze des Turms. Alle zwei Monate muss die Anlage gewartet werden.

Solaranlagen auf allen öffentlichen Gebäuden

Die starke Verbindung der Zivilbevölkerung habe in Eeklo zudem zu einem weiteren, für die Verantwortlichen überraschenden Effekt geführt: Drei Jahre, nachdem die ersten Windräder aufgestellt wurden, habe sich der Energiekonsum der involvierten Personen halbiert. „Sie sind sich stärker bewusst geworden, woher die Energie kommt, und haben daher ihre Häuser besser isoliert sowie Solarpaneele auf ihren Dächern angebracht“, erklärt D’Haeseleer.

Ein Beispiel, dem laut De Pauw auch die Stadt selbst folgt: „Eeklo hat einen Vertrag aufgesetzt, der vorsieht, dass auf allen öffentlichen Gebäuden Solaranlagen angebracht werden.“ Die Rahmenbedingungen seien die gleichen wie schon bei den Windenergieprojekten.

Wieder gehe es darum, die Bürger und Bürgerinnen aktiv miteinzubeziehen. Diese könnten entweder in die Solarpaneele investieren oder ihre Dächer zur Verfügung stellen. Da Eeklo mit einer hohen Armutsquote zu kämpfen hat, sei es der Stadt ein besonderes Anliegen, durch verschiedene Optionen auch Haushalten mit niedrigem Einkommen die Möglichkeit zu bieten, an der Energiewende teilzuhaben.

Solaranlage
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Wer ein Dach hat, kann es für Solarpaneele zur Verfügung stellen, wer nicht, kann in Solaranlagen auf anderen Dächern investieren – so soll die Energiewende für alle zugänglich werden

Fluktuationen als Problem

Natürlich sei Eeklo aber noch am nationalen Energienetz angeschlossen. „Alles andere wäre dumm. Weil einmal weht der Wind nicht in Eeklo, aber die Sonne scheint in Brüssel“, so D’Haeseleer.

Genau hier lässt sich auch das Argument vieler Kritiker und Kritikerinnen von erneuerbaren Energien finden. Man könne nicht nur auf Wind, Sonne und Wasserkraft setzen, da die Fluktuationen so hoch seien und es dadurch zu Netzengpässen komme, so der Tenor.

Im Prinzip sei das richtig, meint Tagliapietra: „Wenn wir mehr und mehr erneuerbare Energien haben wollen, müssen wir mit immer stärkeren Schwankungen in den Systemen fertig werden. Und das können wir nur tun, wenn wir Speicherlösungen entwickeln.“ Der Experte nennt hierbei etwa die Speicherung mit Hilfe von Wasserstoff oder Batterien.

Windrad von unten
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Wind- und Sonnenenergie in Zukunft nicht nur auszubauen, sondern auch gut zu speichern, stellt einen Schlüsselfaktor für das Gelingen der Energiewende dar

Wie aus den Fängen Russlands entkommen?

Derzeit kämpft Eeklo aber noch mit anderen Problemen. Während sich die kommerziellen Betreiber der Windkraftanlagen nicht an die Bedingungen der Gemeinde hielten, sei man auch immer noch von Gas abhängig. Zumindest Letzteres soll sich aber bald ändern. Bereits jetzt würden einige Wohnblöcke mit der Abwärme des öffentlichen Schwimmbads sowie einer Großbäckerei geheizt werden.

In Zukunft soll die Müllverbrennungsanlage im Norden der Stadt jene Energie liefern, die benötigt wird, um alle Haushalte in Eeklo heizen zu können. Aufgrund der historisch niedrigen Gaspreise sei ein solches Projekt bisher nicht rentabel gewesen, „aber jetzt hat sich die Welt verändert“, sagt De Pauw im Hinblick auf den Ukraine-Krieg und die hohen Energiepreise.

Auch der Rest Europas sucht händeringend nach Lösungen für die hohen Energiepreise und für ein Ende der Abhängigkeit von Russland. Dafür müsse man in einem ersten Schritt auf die Diversifizierung der Energiequellen setzen, etwa mit Hilfe von Flüssiggas, meint Tagliapietra. Statt eines gänzlichen Energieembargos, wie es von einigen Ländern gefordert wird, könnte man die Einfuhren aus Russland hoch besteuern. Möglich sei eine Wende auf alle Fälle: „Wir können unser Energiesystem weg von Russland strukturieren und diese Gelegenheit nutzen, um den grünen Wandel zu beschleunigen“, sagt Tagliapietre. „Wir müssen nur den Mut dazu aufbringen.“

Gebäudekomplex vor Windrad
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30 Prozent der Wärme der Müllverbrennungsanlage wird derzeit zur Stromerzeugung verwendet – in Zukunft sollen die restlichen 70 Prozent für das Heizen aller Haushalte in Eeklo genutzt werden

Vorzeigestadt, noch, ohne Nachahmer

Doch kann ein Modell, das für eine 20.000-Einwohner-Stadt entwickelt wurde, überhaupt auf andere Städte übertragen werden? D’Haeseleer zeigt sich überzeugt, dass Eeklos Energiemodell beliebig skaliert werden könne, schließlich hätten gerade größere Städte mehr Ressourcen zur Verfügung – nicht zuletzt auch finanzielle. Von Bürgerbeteiligungen und dem sozialen Mehrwert könnten auch kommerzielle Energiekonzerne profitieren, schließlich sei es dadurch leichter möglich, die Unterstützung der Bevölkerung für die Genehmigung neuer Anlagen zu erhalten.

Andere Gemeinden, vor allem im Osten von Flandern, würden sich bereits für das Energiemodell Eeklos interessieren. Warum dennoch so wenige dem Vorzeigestädtchen folgen? „Ich glaube, sie haben Angst, den gleichen Weg zu gehen, weil es eine Menge Arbeit ist. Es ist einfacher, die Energieversorgung dem kommerziellen Markt zu überlassen, als eine Vision in die Tat umzusetzen“, meint De Pauw.

Dabei sei ein Ausbau erneuerbarer Energien im Land dringend notwendig. De Pauws Berechnungen zufolge würde es neben Windkraftanlagen in der Nordsee rund 1.000 Anlagen im Land selbst brauchen, um die Klimaziele der EU zu erreichen.

Abstrakte Zahnrad-Statue
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Schöne neue Welt? Weg von fossilen Energien wie Kohle, hin zu erneuerbaren – die Pläne von Brüssel sind ehrgeizig.

40 Prozent Erneuerbare in EU bis 2030 „realistisch“

Die Klimaziele der EU sind Experten und Expertinnen zufolge hoch gesteckt. So sieht etwa das „Fit for 55“-Programm 40 Prozent erneuerbare Energien bis 2030 vor. Ein Ziel, das Tagliapietra jedoch als realistisch einstuft – vorausgesetzt, die bürokratischen Prozesse werden vereinfacht.

„Kurzfristig ist es für Europa am effizientesten, so viele Solarenergie- und Windenergieprojekte wie möglich zu verwirklichen. Europa und die Regierungen müssen sich wirklich darauf fokussieren, die Projekte in Gang zu bringen.“ Vor allem Offshore-Windparks, die im Küstenvorfeld der Meere errichtet werden, seien „äußerst vielversprechend“. Doch: „Wir müssen schneller werden.“

„Eeklo zeigt, dass es möglich ist“

Auch der Klimaplan, den Eeklo mit seinen Energieprojekten verfolgt, ist ambitioniert. Bis 2030 wolle man so 65 Prozent CO2 einsparen. Dennoch gehe es um mehr als das, meint De Pauw: Es gehe um Autonomie und Demokratie.

„Jede Gemeinde hat ihre eigenen erneuerbaren Energiequellen. Jede Gemeinde hat genug Sonne, Wind, Biomasse, Wasser, um unabhängig zu werden. Und wenn das auf demokratische Weise passiert, wie wir es mit den Genossenschaften tun, ist das ein doppelter Gewinn, weil alles in den Händen der Bürgerinnen und Bürger bleibt.“ Eeklo zeige, dass es möglich ist. Auch D’Haeseleer meint: „Die Geschichte meiner kleinen Stadt sollte nicht einmalig sein.“