Rauch über Stahlwerk in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Ukraine

Kiew und USA sehen Mariupol nicht verloren

Seit mehr als sieben Wochen dauern die Kämpfe um Mariupol an, ein Großteil der Stadt liegt inzwischen in Trümmern. Am Donnerstag hat Russland schließlich ihre Einnahme verkündet – mit Ausnahme des Stahlwerks Asow-Stahl, in dem sich noch ukrainische Soldaten und Zivilpersonen verschanzt haben. Sie gingen bisher nicht auf russische Forderungen ein, die Waffen niederzulegen. Weder Kiew noch die USA wollten die Stadt schon für verloren erklären – doch die Lage bleibt in jeder Hinsicht angespannt.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte den Truppen am Donnerstag zum „erfolgreichen Abschluss der Kämpfe zur Befreiung von Mariupol“ gratuliert, gleichzeitig aber mitgeteilt, dass das riesige Asow-Stahlwerk nicht gestürmt werden soll. Er ordnete an, das Werk und die dazugehörigen Bunkeranlagen weiter zu belagern – so engmaschig, dass „keine Fliege mehr heraus kann“. In diesem haben sich die letzten Verteidiger der Stadt verschanzt, allerdings unter schwindenden Ressourcen.

Russland habe begriffen, dass man das Stahlwerk nicht mit Gewalt einnehmen könne, sagte am Donnerstag Olexij Arestowytsch, ein enger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die USA meldeten gleich grundsätzliche Zweifel an der russischen Eroberung der strategisch wichtigen Hafenstadt an. US-Präsident Joe Biden sagte, es gebe „noch keine Beweise dafür, dass Mariupol vollständig gefallen ist“.

Satellitenbild von Explosionskrater im Stahlwerk in Mariupol
AP/Planet Labs
Luftbild des Stahlwerks Asow-Stahl – am Dach zu sehen sind auch Einschläge

Das US-Außenministerium teilte zudem am Abend mit, dass die ukrainischen Truppen nach seiner Auffassung offenbar weiter Teile der Stadt halten würden. Die von Putin und dessen Verteidigungsminister Sergej Schoigu vorgetragene „Show für die Medien“ dürfte einfach ein weiterer Fall von russischer Desinformation sein, so der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price. Auch Selenskyj hielt die Stadt noch nicht für komplett verloren – er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Lage höchst kritisch ist.

„Entscheidende Tage“

„Die Situation ist schwierig, die Situation ist schlecht“, sagte Selenskyj am Donnerstag in Kiew zu Journalisten örtlichen Medien zufolge. „Dort gibt es über 400 Verwundete in dieser Zitadelle. Das sind nur die Soldaten.“ Es gebe ebenfalls verletzte Zivilpersonen. Kiew habe Moskau bereits mehrere Varianten vorgeschlagen, darunter einen Austausch von „Verwundeten gegen Verwundete“.

„Vor uns liegen entscheidende Tage, die entscheidende Schlacht um unseren Staat, um unser Land, um den ukrainischen Donbas“, sagte Selenskyj und forderte weitere Waffen und anderweitige Unterstützung. Von den verschanzten Truppen hieß es zuletzt, die Lage sei kritisch und Russland in der Überzahl. Die Onlineausgabe der deutschen „Zeit“ nahm am Donnerstag Kontakt mit dem verschanzten Kommandeur Serhij Wolyna auf, der zuletzt mit einem Videoappell für schnelle Hilfe für Aufsehen gesorgt hatte.

Viele Menschen eingeschlossen

Russland verkündet den Fall der strategisch wichtigen ukrainischen Hafenstadt Mariupol. Viele ukrainische Kämpfer und Zivilisten sind aber noch in einem Stahlwerk der Stadt eingeschlossen.

Gegenüber der „Zeit“ berichtete er von anhaltend kritischen Bedingungen. Es sei „schwer zu sagen“, wie lange die Vorräte noch reichen würden. Es bleibe aber „nicht mehr viel Zeit“. Die Lebensbedingungen beschrieb er als „schrecklich“: „Keine Lebensmittel, keine Munition, keine medizinische Versorgung“, gleichzeitig stünden sie „unter ständigem Beschuss und Bombardierung“. Die Moral sei „hoch“, aber die Situation schwierig.

Kaum Möglichkeiten für Flucht

Auch Fluchtkorridore kommen weiterhin kaum zustande, am Donnerstag konnte laut Kiew keiner organisiert werden. „Seitens der Russen läuft alles schwierig, chaotisch, langsam und natürlich unehrlich“, schrieb Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk am Donnerstag auf Telegram.

Einsatzkräfte suchen Verstorbene in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Spezialeinheiten für den Abtransport von Opfern

Hoffnung gebe nur die Tatsache, dass am Vortag vier Busse aus Mariupol nach Berdjansk fahren konnten. Drei der Busse seien im Regierungsgebiet angelangt. Der Verbleib eines Busses sei unbekannt. Medienberichten zufolge kamen knapp 80 Menschen in Saporischschja an. Nach Angaben der prorussischen Donezker Separatisten hatten am Vortag etwa 130 Menschen eine von der russischen Militärführung ausgerufene Feuerpause zur Flucht genutzt.

Ukrainischen Angaben zufolge sollen noch mehr als 100.000 Menschen in Mariupol ausharren. Die Separatisten sprechen von mehr als doppelt so vielen Einwohnern. Vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar lebten laut offiziellen Angaben 440.000 Menschen in der Stadt.

Erweiterung von Massengrab gemeldet

Die Ukraine rechnet mit Zehntausenden Todesopfern in der Hafenstadt. Am Donnerstag meldete der Satellitenbilddienst Maxar, dass Massengräber nahe der Stadt erweitert wurden. Ein Feld sei in den vergangenen Wochen vergrößert worden und enthalte nun mehr als 200 neue Gräber, teilt das US-Unternehmen mit.

Ein Vergleich von Bildern von Mitte März bis Mitte April deute darauf hin, dass die Vergrößerung zwischen dem 23. und 26. März begonnen habe. Das Massengrab liege in der Nähe eines existierenden Friedhofes in der Ortschaft Manhush 20 Kilometer westlich von Mariupol.

Russland: Gespräche gehen weiter

Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine gehen russischen Angaben zufolge weiter. Russland warte noch immer auf eine Antwort auf seine jüngsten Vorschläge in Zusammenhang mit den Beratungen, sagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Man sei verwundert über die Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, er habe die jüngsten Vorschläge nicht gesehen.

Selenskyj sagte am Mittwoch, er habe von einem Dokument, das die russische Führung an die Ukraine geschickt habe, weder etwas gesehen noch etwas gehört. Gegenüber dem „Standard“ (Onlineausgabe) sagte er, die Ukraine werde Moskau nicht als Verhandlungsort akzeptieren.