Szene aus „Vinyam“
Crossing Europe
Festival Crossing Europe

Unheimliches aus dem belgischen Filmwald

Am Mittwoch beginnt die 19. Crossing-Europe-Ausgabe in Linz. Dieses Jahr steht das europäische Filmfestival unter neuer Leitung und mit einem Schwerpunkt, der der gefühlten und tatsächlichen Verunsicherung der Gegenwart Rechnung trägt. Die Werkschau ist dem belgischen Horror-Grenzgänger Fabrice du Welz gewidmet.

In den Händen dieses Regisseurs ist ab dem ersten Bild alles anders als gewohnt. In „Alleluja“ liegt zu Beginn ein nackter Körper auf einer Bahre, wird von zunächst anonymen Händen gewaschen. Es ist die Leiche eines Mannes, dessen Körperteile die Kamera fast zärtlich ansieht. Dass in „Alleluja“ nicht, wie in konventionellen Krimis und Horrorfilmen so oft, eine weibliche Nackte, sondern ein männlicher Toter am Beginn des Films steht, verunsichert und reizt zugleich.

Welz’ Film „Alleluja“ aus dem Jahr 2014 handelt von der Leichenwäscherin Gloria (gespielt von Almodovar-Star Lola Duenas), die sich bei einem One-Night-Stand mit einem Heiratsschwindler leidenschaftlich verliebt und ihm Komplizenschaft anbietet. Seine potenziellen Bräute überleben Glorias Eifersucht allerdings nicht. Inspiriert vom mehrfach verfilmten Fall der „Lonely Hearts Killers“ schildert Welz eine obsessive Liebe mit verstörender Empathie und in Bildern, die in ihrer Farbigkeit und Körnigkeit streckenweise an große Vorbilder der italienischen Giallo-Tradition erinnern.

Szene aus „Alleluia“
Crossing Europe
Der Heiratsschwindler Michel (Laurent Lucas) ist in „Alleluja“ von der Leidenschaft seiner Liebsten entsetzt

„Alleluja“ ist Teil der diesjährigen Personale bei Crossing Europe in Linz, das am Mittwochabend eröffnet. Es ist die erste Festivalausgabe unter dem neuen Leitungsduo Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler, die im Herbst von der scheidenden Christine Dollhofer übernommen haben. Ein drastischer Umbau ist bei dieser 19. Festivalausgabe nicht erfolgt: „Neue Akzente“ hätten die beiden im Programm gesetzt, so Gebetsroither gegenüber ORF.at. In anderen Positionen sind beide bereits seit vielen Jahren beim Festival beschäftigt.

Fortführung unter neuer Leitung

„Das bedeutet, dass wir vielleicht schon lange ein paar Punkte hatten, wo wir gerne vielleicht etwas minimal verändert hätten, und das konnten wir halt jetzt umsetzen“, so Riedler. „Es fühlt sich also an wie eine Fortführung, und es wäre ja auch nicht sinnvoll, ein so gut funktionierendes Festival komplett umzudrehen.“ Erneut präsentiert also das Filmprogramm in Linz sechs Tage lang Lebenswelten aus ganz Europa, in 148 Spiel- und Dokumentarfilmen aus 34 Ländern, von Highlights der Festivalsaison über innovatives Autorenkino bis zu regionalem Filmschaffen.

Katharina Riedler und Sabine Gebetsroithe
Violetta Wakolbinger
Sabine Gebetsroiter und Katharina Riedler

Geplant war das Festival in diesem Jahr als „CoV-Konsolidierungsausgabe“, bei der das neue Duo sicherstellen wollte, dass das Festival weiterhin auf solide Sponsoren und Partnerschaften bauen kann, und das ist auch gelungen. Doch dann wurde doch wieder vieles anders: „Die Tagespolitik hat uns bei der Planung der diesjährigen Festivalausgabe kalt erwischt, die Pandemie hatten wir auf der Rechnung, Krieg in Europa nicht“, so die Intendantinnen.

Zwar waren nach dem Ausbruch des Krieges keine wesentlichen Programmänderungen mehr möglich, die auf tagespolitische Ereignisse Bezug nehmen, doch „es war immer so, dass Crossing Europe versucht hat, ein Sensorium zu haben und Filme zu präsentieren, die die Konfliktzonen und die Bruchlinien in Europa darstellen oder widerspiegeln“, so Gebetsroither, und Riedler ergänzt: „Wie man die Filme anschaut, hat sich verändert, das hat eine Verstärkung gewisser Sujets ausgelöst. Und zur geographischen kommt auch die emotionale Nähe: Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder beispielsweise Branchengäste aus Kiew, und wie es denen jetzt geht, ist uns natürlich sehr präsent.“

Verunsicherung in den Knochen

Gleich geblieben ist, dass das Festival mit mehreren Eröffnungsfilmen parallel beginnt, darunter Welz’ jüngstem Werk „Inexorable“ über einen Schriftsteller, der im geerbten Landhaus seiner Ehefrau und Verlegerin mit Schreibblockaden und einem höllischen Kindermädchen zu kämpfen hat, auch diese Frau hört auf den Namen Gloria. „Diese wiederkehrenden Elemente, die immer wieder vorkommen, machen es besonders spannend, sein Gesamtwerk anzuschauen“, so Riedler – das bezieht sich etwa auch auf den zuweilen plakativen Einsatz der Farbe Rot.

„Diese Filme sind Abwärtsspiralen im Schritttempo“, schreibt die Publizistin Anna Katharina Laggner über Welz’ Filmografie, „aus denen das Personal aussteigen könnte, wäre es in seinem Festhalten am einmal eingeschlagenen Weg nicht derart blind für diabolische Zeichen.“ Beim Tribute wird deutlich, wie oft Welz mit Blicken durch Türritzen und Schlüssellöcher arbeitet und wie programmatisch das wiederkehrende Sujet der grundsätzlichen Verunsicherung und Verstörung auch für das Festival programmatisch ist, das seit seiner Gründung immer auch ein brüchiges Europa gezeigt hat – hinter der blitzblanken Schauseite vorgeblicher Konfliktfreiheit.

Gebetsroither beschreibt Welz als „Grenzgänger, der zwischen den Genres steht und bei dem sein katholischer Background sehr mitspielt, was natürlich besonders für ein österreichisches Publikum interessant ist“. Welz mache Horror mit feiner Klinge, „in seinen Filmen manifestiert sich diese generelle Verunsicherung, die wir alle spüren; dass wir auf vielen Ebenen merken, dass wir uns auf vieles nicht mehr verlassen können, und unser privilegiertes Leben in Mitteleuropa ist bedroht. Corona war da natürlich das Paradebeispiel, dass die fetten Jahre vorbei sind.“

Jene Filme, die in Linz unter dem Label „Nachtsicht“ zu sehen sind, werden wenige Tage später in Wien beim Slash Festival des Fantastischen Films von 5. bis 7. Mai Teil des Programms sein, dort wird auch Welz’ „Inexorables“ laufen.