Ukrainische Soldat in Mariupol
AP/Mstyslav Chernov
Kämpfe im Donbas

Blatt könnte sich für Ukraine wenden

Nach mäßigen Erfolgen im Norden hat Russland seine Truppen neu gruppiert und setzt nun den Fokus auf die schon seit Jahren umkämpfte Donbas-Region im Osten des Landes. Die erwartete Großoffensive ist bisher eher ein Stellungskrieg – auch weil die russische Armee weiterhin mit hausgemachten Problemen zu kämpfen hat. Und das Blatt könnte sich vielleicht sogar zugunsten der Ukraine wenden.

Nach dem Rückzug der Truppen aus dem Raum Kiew hat die russische Armee ihre Truppen neu sortiert und offenbar versucht, aus den bisherigen Fehlern zu lernen. Statt an vielen Fronten zu kämpfen, hat man zumindest eine aufgegeben und will sich auf den Donbas konzentrieren. Zudem zentralisierte man die Befehlsstruktur, die gesamte Invasion soll laut BBC nun unter dem Oberkommando von General Alexander Dwornikow stehen.

Der Verlauf der Schlacht um den Donbas wird – das sind sich fast alle Experten einig – den Verlauf der gesamten Invasion und damit die Zukunft der Ukraine bestimmen. „Der wirkliche Test dieses Krieges und der tatsächlichen Fähigkeit der Ukraine, dem russischen Angriff standzuhalten, kommt jetzt, wenn Moskau endlich seine Organisation in den Griff bekommt und seine Streitkräfte im Osten so aufstellt, wie sie für den Kampf ausgebildet wurden“, sagte ein hoher westlicher Verteidigungsbeamter anonym der „Financial Times“.

Versuch, ukrainische Truppen einzukesseln

Beobachter gehen von rund 80.000 Mann auf russischer Seite im Donbas aus. Bisher gibt es von russischer Seite zwar fast an der gesamten, mehr als 500 Kilometer langen Frontlinie permanenten und schweren Beschuss, signifikante Raumgewinne aber nicht. Eingenommen wurde zuletzt nur die 20.000-Einwohner-Stadt Kreminna.

Das britische Verteidigungsministerium geht so wie Experten etwa gegenüber der „Financial Times“ davon aus, dass Russland versuchen will, vom Norden und Süden vorzustoßen und ukrainische Truppen im Donbas einzukesseln und damit von Nachschubrouten abzuschneiden. Südlich der Stadt Isjum tobten den britischen Angaben zufolge heftige Gefechte, und russische Truppen versuchten, auf die Städte Slowiansk und Kramatorsk vorzurücken. Von dort aus könnten die russischen Truppen dann weiter vorrücken.

Zu wenig Unterstützung aus der Luft

Fortschritte in dieser Richtung seien aber noch wenige zu sehen – und wohl auch gar nicht möglich, meinte Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews. Denn dafür sei ausreichende Unterstützung durch die russischen Luftstreitkräfte nötig – und diese gebe es weiterhin nicht, meinte er auf Twitter. Die ukrainische Armee sei dafür mit Verteidigungswaffen zu gut gerüstet.

Auch Edward Stringer, Generaldirektor der britischen Verteidigungsakademie wies auf Twitter darauf hin, dass es Russland noch immer nicht gelungen sei, die Lufthoheit so zu nutzen, dass sie große Vorteile bringe. Im Gegenteil: Die neuartigen und erfolgreichen Verteidigungsstrategien der Ukraine mit Drohnen und Lenkwaffen sollten auch der NATO zum Vorbild werden.

„Echter Durchbruch“ unwahrscheinlich

Entscheidend könnte also sein, ob die russische Armee es irgendwann schafft, ihre Boden-, Luft- und Artillerieangriffe aufeinander abzustimmen. „Die Ukrainer werden zweifellos etwas nachgeben müssen, aber ich glaube nicht, dass die Russen einen echten Durchbruch erzielen werden“, sagte David Petraeus, Ex-CIA-Direktor und pensionierter Viersternegeneral der „Financial Times“ „Ich habe einfach keine Anzeichen dafür gesehen, dass die Russen die Kurve gekriegt haben“, so Petraeus.

Russische Vorstöße im Feld wiederum würden sich auf befestigte Straßen konzentrieren, da es mit gepanzerten Fahrzeugen auf aufgeweichte Böden kaum Weiterkommen gebe, so Experten. Diese schmal vorgetragenen Angriffsversuche seien dann aber wieder leichte Beute für die panzerbrechenden Abwehrwaffen der Ukrainer, schrieb der auf Russland spezialisierte US-Militärexperte Michael Kofman, der darin ein strukturelles Problem sieht.

Mehr ukrainische Panzer als russische?

Ganz ähnlich schätzt der australische Ex-General und Militärexperte Mick Ryan die Lage ein: Zwar habe Russland bei den großen Problemen zu Kriegsbeginn, nämlich Luftüberlegenheit und Logistikproblemen, Fortschritte gemacht. Doch gelöst seien sie bei Weitem nicht, schrieb er auf Twitter. Schwächen machte er auf drei unterschiedlichen Ebene aus: bei der Kampfmoral der Truppe, bei Planung und Strategie, aber auch, und das wirkt überraschend, bei der Truppenstärke und Ausrüstung.

Bisher war man davon ausgegangen, dass die russische Armee vor allem bei schwerem Gerät und Feuerkampf haushoch überlegen ist. Mittlerweile zirkulieren aber vom US-Verteidigungsministerium geäußerte Spekulationen, dass die Verluste Russlands so hoch seien, dass die Ukraine vor allem durch Lieferungen von T-72-Panzern aus europäischen Ländern mehr Panzer im Land habe als Russland.

Zerstörter Panzer bei Donetsk
Reuters/Alexander Ermochenko
Zerstörter Panzer in Donezk

Verluste häufen sich

Auch wenn die ukrainische Darstellung der russischen Verluste wohl übertrieben sind, so sei bemerkenswert, dass diese zunehmend ansteigen, so O’Brien. Zwar würde Russland nach und nach weitere Truppenverbände in die Ukraine schicken. Jedoch sei unklar, wie kampferprobt und ausgerüstet diese seien, schrieb der Militärexperte in einem Gastbeitrag im Magazin „Spectator“. Die aus dem Norden der Ukraine verlegten Truppen hätten zudem eine zu kurze Kampfpause gehabt, mutmaßte der Experte.

Andere Militärstrategen verweisen darauf, dass mit den verschanzten ukrainischen Kräften im Mariupoler Stahlwerk russische Truppen weiter dort gebunden wären. Und selbst wenn man sie in den Donbas schicken könnte, wären auch hier Verschleißerscheinungen deutlich. Großbritannien geht laut Verteidigungsminister Ben Wallace mittlerweile von 15.000 gefallenen russischen Soldaten und dem Verlust von 4.000 gepanzerten Fahrzeugen aus, davon mehr als 500 Kampfpanzer.

Angeschlagene Rüstungsindustrie

Das entspricht, so das „Wall Street Journal“, der Zweijahresproduktion der russischen Rüstungsindustrie. Durch die schon in der Krim-Krise verhängten Sanktionen sei die Waffenindustrie, immerhin ist Russland nach den USA der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt, ohnehin geschwächt. Wichtige Teile könnten nicht mehr importiert werden – und beim Versuch, diese selbst zu bauen, sei Russland nicht besonders erfolgreich.

Im Talon habe Russland jetzt noch ein großes Arsenal an alten Gerätschaften, gutteils aus der Sowjetzeit. Das sei allerdings noch wartungsintensiver, als es Militärgerät ohnehin ist. Und schon jetzt habe Russland ein großes Problem mit der Reparatur und dem Nachschub von Ersatzteilen, so die Zeitung.

Aufgerüstete Ukrainer

Umgekehrt erhielt die ukrainische Armee in den vergangenen Wochen und Tagen einen deutlichen Schub an Waffenlieferungen, nicht nur an Panzern, sondern auch Haubitzen, Flug- und Panzerabwehrraketen sowie Hightech-Equipment. Setzt sich diese Entwicklung auf beiden Seiten fort, könnte sich im derzeitigen Stellungs- und Zermürbungskrieg sogar das Blatt zugunsten der Ukraine wenden, meinte O’Brien.

Auch Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, meinte zuletzt gegenüber der APA: „Je länger der Widerstand der Ukrainer hält, desto nachteiliger sei das für die Russen, denn die Ukrainer bekommen immer mehr Waffenlieferungen, und die Russen nützen sich ab.“

Präzionsschläge gegen Waffenlieferungen

Russland versuchte zuletzt, diesen Waffennachschub zu torpedieren, und beschoss etwa Montagfrüh innerhalb einer Stunde fünf Bahnhöfe in der Zentral- und Westukraine, um systematisch die Eisenbahninfrastruktur zu zerstören. Am Mittwoch verkündete Russland, man habe bei einem Raketenangriff auf Lagerhallen auf dem Gelände eines Aluminiumwerks in Saporischschja im Südosten der Ukraine eine „große Menge“ westlicher Waffen zerstört.

Solche Schläge mit präzisionsgelenkter Munition könnten aber bereits gezählt sein. Der US-Thinktank Institute for the Study of War verwies zuletzt in seinem Tagesbriefing über die Kampfhandlungen auf Recherchen der Investigationsplattform Bellingcat, wonach das Arsenal solcher Waffen zu 70 Prozent erschöpft sei.

Putin sucht Prestigeerfolg für 9. Mai

Signifikante Veränderungen im Kriegsverlauf erwarten Experten derzeit nicht, weder im Donas noch im Süden der Ukraine, wo ebenfalls heftig gekämpft wird. Auch dort sind die Fronten stabil. Und ein Angriff auf Odessa ist – spätestens nach dem Sinken des russischen Flaggschiffs „Moskwa“ – sehr unwahrscheinlich.

Von allen Experten wird aber darauf verwiesen, dass der russische Präsident Wladimir Putin am 9. Mai wohl einen Erfolg herzeigen wolle. Der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland wird mit einer großen Parade in Moskau begangen. Die Eroberung des Donbas wird sich bis dahin nicht ausgehen, insofern sind andere Überraschung möglich. Am ehesten wird die russische Armee wohl versuchen, Mariupol doch noch ganz einzunehmen.