Beschädigtes Gebäude in Tiraspol
AP/Ministry of Internal Affairs of Transnistria
Rätsel um Explosionen

Transnistrien als ungelegener Konfliktherd

Im Ukraine-Krieg kristallisiert sich derzeit ein weiterer potenzieller Konfliktherd heraus: die prorussische Separatistenregion Transnistrien in Moldawien. Aus dem schmalen Landstreifen im Westen der Ukraine wurden mehrere Anschläge gemeldet. Russland beschuldigt die Ukraine, diese wiederum wirft Moskau vor, mit solchen Provokationen den Krieg ausweiten zu wollen. Dabei scheint es zum derzeitigen Zeitpunkt für beide Kriegsparteien eher unklug, genau dort eine weitere Front zu eröffnen.

Am Montag wurde in der Hauptstadt Tiraspol das Gebäude der regionalen Staatssicherheit beschossen, Explosionen gab es angeblich auch in einer Kaserne nahe dem Militärflugplatz von Tiraspol. Zwei Rundfunksendemasten wurden gesprengt, die bisher russische Propaganda in die Ukraine gesendet hatten. Allerdings: Kurz darauf waren die Sender Rossii Radio und VestiFm wieder auf Mittelwelle zu empfangen. Der „Präsident“ Transnistriens, Wadim Krasnoselski, sprach am Dienstag von Terroranschlägen. Verletzt wurde den Angaben nach niemand.

Am Mittwoch wurde dann ein Dorf nahe der Grenze zur Ukraine beschossen. Dort befindet sich ein großes russisches Munitionslager. In der Nacht seien mehrere Drohnen von der Ukraine aus über das Dorf Kolbasna geflogen, teilte das transnistrische „Innenministerium“ mit. In der Früh sei Kolbasna von der Ukraine aus beschossen worden. Tote oder Verletzte gab es laut den Angaben aber nicht. In dem Dorf lagern rund 20.000 Tonnen Munition aus Sowjetzeiten. Das Lager wird von russischen Truppen bewacht. Nach Angaben des „Innenministeriums“ gilt es als das größte Munitionsdepot in Europa.

Beschädigte Rundfunktürme
AP/Transnistrian Interior Ministry
Gesprengte Funkmasten in Transnistrien – allerdings ohne Folgen, nur ein kurdischer Sender verstummte

Seit 1990 abgespalten

Die im Osten Moldawiens gelegene Region sagte sich nach der Unabhängigkeit Moldawiens 1990 von der Zentralregierung los und rief einen eigenen Staat aus – mit Hammer und Sichel im Staatsemblem und einer Lenin-Statue vor dem „Parlament“ in Tiraspol. Die Abspaltung erfolgte mit Hilfe russischer Soldaten, die dort seit der Sowjetzeit stationiert sind. Noch immer sind russische Armee-Einheiten in Transnistrien: Von 1.500 Mann war immer die Rede, zuletzt hieß es, die Truppenstärke sei möglicherweise verdoppelt worden.

Wer hinter den Angriffen steckt, darüber kursieren mehrere Theorien, sie müssen nicht einmal alle dieselben Drahtzieher haben. Zunächst gibt es die Vermutung, es könnte sich um einen Konflikt innerhalb Transnistriens und Moldawiens handeln, der auch mit dem Ukraine-Krieg in Verbindung steht. Diese Vermutung äußerte zunächst die prowestliche moldawische Staatspräsidentin Maia Sandu. Dennoch fürchtet sie, ihr Land, das trotz großer Armut Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen hat, könnte noch weiter in den Konflikt hineingezogen werden.

„Hilfe“ für „diskriminierte“ Russen?

Der ukrainische Militärgeheimdienst in Kiew warf Russland vor, die Anschläge inszeniert zu haben und mit dieser Provokation Panik schüren zu wollen. Die in Transnistrien stationierten Truppen könnten versuchen, von dort aus die Ukraine in Richtung der Stadt Odessa am Schwarzen Meer anzugreifen. In einer in Kiew veröffentlichten Mitteilung erinnerte der Geheimdienst an eine Äußerung eines russischen Befehlshabers, der am Freitag offen davon gesprochen hatte, dass Moskau die gesamte Südukraine bis nach Transnistrien unter seine Kontrolle bringen wolle.

Der Vizekommandant des zentralen Militärbezirks Russlands, Rustam Minnekajew, hatte von einer „Diskriminierung russischsprachiger Einwohner“ gesprochen und angedeutet, dass deren Interessen verteidigt werden sollen. Das gleicht dem Muster, mit dem der Einmarsch in der Ukraine zunächst begründet wurde. Der russische Präsident Wladimir Putin rechtfertigte den Krieg unter anderem mit der unbelegten Behauptung, in beiden Regionen müsse ein Völkermord verhindert werden.

Transnistrisches Wappen
APA/AFP/Sergei Gapon
In Transnistrien blüht noch die Sowjet-Ikonografie

Auch die Behörden in der moldawischen Hauptstadt Chisinau stellten indes klar, dass es sich bei den drei seit Montagabend in Transnistrien erfolgten Explosionen, die lediglich Sachschäden zur Folge hatten, um eine offenkundige „Provokation“ und einen „Angriff unter falscher Flagge“ handelt – Russland wolle damit Panik schüren und Vorwände schaffen, um das Separatistengebiet in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen.

Der ukrainische Präsidentenberater Olexyj Arestowytsch sagte, die Ukraine könne Transnistrien unter Kontrolle bringen, wenn Moldawien es wünsche. Diese Äußerung wurde von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau als „ziemlich provokant“ kritisiert.

Vorwürfe gegen Rumänien

Den Vorwand für ein russisches Eingreifen könnte eine angeblich von Rumänien geplante Aggression liefern. So behauptete Sergej Markow, ein russischer Politologe und früherer Berater Putins, in der Montag-Ausgabe der russischen Tageszeitung „Prawda“, Rumänien wolle das Nachbarland Moldawien „mit Hilfe der NATO und unter Mitwirkung der ukrainischen Armee annektieren“ und entsprechend auch „Transnistrien angreifen“, um anschließend hart „gegen die russischsprachigen Einwohner“ durchzugreifen. Indizien für solche Pläne gibt es nicht.

Davor hatten bereits zwei Separatistenchefs aus dem Donbas, Igor Strelkow und Denis Puschilin, behauptet, über Pläne des NATO-Staates Rumänien bezüglich einer Annektierung Moldawiens unterrichtet zu sein. Infolge der jüngsten Explosionen in Transnistrien forderte Puschilin, das „Oberhaupt“ der „Donezker Volksrepublik“, nun die russischen Behörden auf, ihre militärische „Sonderoperation“ nicht auf die Ukraine zu beschränken, sondern umgehend auf Transnistrien auszuweiten. Solche und ähnliche Großmachtfantasien waren aus Russland öfter zu hören. Spekuliert wurde, dass auch Moldawien und vielleicht Georgien angegriffen werden könnten – doch wohl erst nach einem Sieg in der Ukraine, von dem Russland noch weit entfernt ist.

Angriff aus Transnistrien derzeit fast unmöglich

Marcus Keupp von der Militärakademie an der ETH Zürich verweist gegenüber der dpa aber darauf, dass die Panzer und Radfahrzeuge in Transnistrien seit 30 Jahren nicht mehr bewegt wurden. Die Streitkräfte der abtrünnigen Provinz würden gerade 5.000 Mann ausmachen und seien damit den moldawischen Kräften klar unterlegen. Bei der aktuell undurchsichtigen Entwicklung könnte es sich um den Versuch eines Ablenkungsmanövers handeln, sagte Keupp. Dabei würden die Russen versuchen, ukrainische Truppen aus dem Raum Odessa zu binden und so die Verteidigung der wichtigen Hafenstadt zu schwächen.

Moldawien: Die Angst vor dem Angriff

Nach Anschlägen und Drohnenangriffen im prorussischen Separatistengebiet Transnistrien fürchtet Moldawien, in den Ukraine-Krieg hineingezogen zu werden. Die Angst vor dem Einmarsch russischer Truppen wächst.

Allerdings ergibt eine solche Option für Russland derzeit wenig Sinn. Die Gefechte konzentrieren sich auf den Donbas, nachdem Russland in der ersten Phase des Krieges bemerken musste, dass es nicht zu viele Fronten gleichzeitig öffnen darf. Für einen plötzlichen Vorstoß aus dem Osten Richtung Odessa gibt es keine Anzeichen, der Stellungskrieg rund um Mykolajiw und Cherson hat sich seit Wochen kaum verändert. Und ein Angriff mit der Kriegsmarine ist spätestens seit dem Sinken des Flaggschiffs „Moskwa“ sehr unwahrscheinlich.

Auch Marcel Röthig, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, hält ein russisches Eingreifen in der Ukraine von Transnistrien aus für unwahrscheinlich. Er sprach gegenüber der APA von einem „Strohfeuer“. „Es geht darum, dass man ukrainische Kräfte im Süden bindet“, sagte Röthig. Eine Bedrohung der strategisch wichtigen Hafenstadt Odessa sieht er nicht.

Russland sieht ukrainische Provokation

Russland wiederum verdächtigt die Ukraine, hinter den Anschlägen zu stehen: Moskau sei beunruhigt wegen der Nachrichten aus Transnistrien, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Der ranghohe russische Parlamentarier Leonid Kalaschnikow sagte: „Die Vorgänge in Transnistrien sind eine Provokation mit dem Ziel, Russland noch tiefer in die Kriegshandlungen in der Region hineinzuziehen.“ Die Spuren der Anschläge führten in die Ukraine, sagte Separatistenführer Krasnoselski.

Doch für die Ukraine gilt Ähnliches wie für Russland. Einen neuen Konfliktherd zu schaffen, noch dazu im bisher vom Krieg eher verschont gebliebenen Westen des Landes, scheint auf den ersten Blick widersinnig.

Zerstörte Eisenbahnbrücke als Problem

Allerdings: Russische Streitkräfte beschossen am Dienstag und Mittwoch eine strategisch wichtige Eisenbahn- und Straßenbrücke westlich von Odessa und beschädigten sie schwer. Der westliche Teil der Region Odessa ist angesichts der Beschädigung derzeit nur noch über moldawisches Straßengebiet auf dem Landweg zu erreichen. Die nun unterbrochene Bahnverbindung zwischen Odessa und den ukrainischen Donau-Häfen Ismajil, Reni und Kilija ist ein großer wirtschaftlicher Schaden. Ob die Ereignisse aber zusammenhängen, darüber kann nur spekuliert werden.

Gezielte Angriffe der Ukraine?

Ebenfalls viel spekuliert wird über mysteriöse Explosionen in Russland, da scheint sich ein Muster abzuzeichnen, das auch auf Transnistrien zutreffen könnte. In der Region Belgorod an der ukrainischen Grenze geriet in der Nacht auf Mittwoch ein Munitionsdepot in Brand. Bereits Anfang April war in Belgorod zuerst ein Munitionslager und dann ein Öldepot in Flammen aufgegangen, bei dem Öldepot waren zwei Hubschrauber beobachtet worden. Die Ukraine hat einen Einsatz weder bestätigt noch dementiert. In der Nacht auf Montag brannten zwei russischen Öldepots unweit der Grenze in der Stadt Brjansk.

Am Dienstag war zudem berichtet worden, dass in der Oblast Luhansk in der von Russland kontrollierten Stadt Irmino ebenfalls ein Munitionslager explodierte. Experten gehen davon aus, dass die ukrainische Armee offenbar sehr gezielt gegen Nachschub und Logistik des Gegners vorgeht.