Gemeindekarte zur Frankreich-Wahl
ORF.at/Franz. Innenministerium/OpenStreetMap
„Karte und Gebiet“

Das zerrissene Frankreich

„Wir werden in der Hölle schmoren“ – das prophezeite Autor Michel Houellebecq seinem Land bereits vor fünf Jahren, allerdings in Romanform. Jetzt, nach der geschlagenen Präsidentschaftswahl, zeigt sich Frankreich politisch genau in der Verfasstheit, die die Literatur seit Langem sehr genau beschrieben hat. Die Ränder rund um die großen Städte etwa sind die Zonen der Abgehängten. Und dort könnte die extreme Rechte, aber auch die extreme Linke weiter punkten.

Man war schon 2017 in der Stunde des Triumphs von Emmanuel Macron gewarnt, als er im Louvre symbolträchtig am Rand der leuchtenden Pyramide als Wahlsieger der Stichwahl gegen Marine Le Pen in eine neue Zeit schreiten wollte: Der Jubel rund um ihn war wohl inszeniert, es waren die urbanen innerstädtischen Jungen, die Macron feierten. Jetzt, 2022, hat der Wahlsieger Macron ein anderes Bild hinter sich: Gewählt haben ihn nicht mehr die Jungen, sondern die Alten. In der Gruppe der über 70-Jährigen holte Macron, der Le Pen mit 58 zu 42 Prozent schlug, 71 Prozent der Stimmen. Im Feld der Jungen war die Wahlenthaltung besonders groß: Von den unter 24-Jährigen gingen 41 Prozent nicht zur Wahl.

Zwar holte Macron 61 Prozent der Erststimmen, aber, so etwa Nadia Pantel von der „Süddeutschen Zeitung“: Hätten nur die unter 34-Jährigen gewählt, „wäre Jean-Luc Melenchon jetzt Präsident“. Gerade die Jungen hätten dann für einen Mann gestimmt, dem Genderthemen egal sind, der alle Feindbilder des Kalten Krieges, gegen Deutschland, gegen die NATO, besonders auch gegen die USA, mobilisiert hatte – der aber für den Klimaschutz, erneuerbare Energie und nachhaltige Landwirtschaft steht.

Dunkelhäutiger Mann mit einer Liberation in der Hand und der Frage, bei wem sich Macron bedanken müsse
Daniel Cole / AP / picturedesk.com
Danke, aber an wen? Der Wahlsieg von Macron wirft sehr viele Fragen auf, nicht zuletzt über den Zusammenhalt im Land, das zwischen den einzelnen Gruppen noch weiter auseinander gedriftet ist. Hier ein Zeitungsverkäufer am Tag nach der Wahl in Marseille.

Macron wiederum könnte sich zugute halten, alle Debatten erfolgreich ausgesessen zu haben – mit dem Effekt, dass außer ihm in diesem Land nur die Extrempositionen als Alternative übriggeblieben sind. Die klassische politische Elite scheint noch mehr pulverisiert als 2017.

Die Literatur sagte vieles vorher

Paris, dieses durch George-Eugene Haussmann Gestalt gewordene Netz gesellschaftlicher Rationalisierung, war bei Houellebecq zuletzt eine von „umweltbewussten Kleinbürgern verseuchte Stadt“, in der er sich seine „eigene Hölle“ anrichten will. Doch auch auf das „flache Land“ blickte Houellebecq, auch auf die Forschungen, die seine Positionierung seit „Karte und Gebiet“ geschärft hat.

Zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahl vom 24.4.2022. Sieger/-in in den Gemeinden. Ergebnis bei Klick auf Gemeinde.

Der Soziologe Laurent Davezies schaute in dem Band „La Republique et ses territoires“ auf die in Frankreich so stark wirkende „unsichtbare Verteilung des Reichtums“ und, entgegen den Positionen der Pariser Elite, dorthin, wo sich die „produktive“ Grundlage der Gesellschaft in eine „residentielle“ entwickelt hatte – also auf Regionen, die zum Rückzugsrefugium geworden waren. Andererseits, und hier legte Houellebecq nach, gibt es auf der Karte Frankreichs immer mehr abgehängte Gebiete. Und davon spricht die nun geschlagene Presidentielle 2022, die auf einer Departement-Karten-Übersicht von einem klaren Macron-Sieg und großen gelben Flächen erzählt. Beim Blick aufs Detail und die Wahlsprengel schaut das Bild schon wieder ganz anders aus. Rund um so gut wie alle urbanen Zonen wurde im wohlhabenderen Zentrum Macron gewählt, in den Außenbezirken aber Le Pen.

Journalistin Joelle Stolz zur Frankreich-Wahl

Das geteilte Frankreich zwischen „oben“ und „unten“

Für Jerome Fourquet vom Meinungsforschungsinstitut IFOP habe sich Frankreich bei dieser Wahl deutlich in ein „oberes“ und ein „niederes Frankreich“ aufgespalten. Fourquet meint damit die sozialen Niveaus, die sich sehr deutlich im Wahlverhalten ausgedrückt hätten. Während Macron bei den Akademikern und besser Gebildeten mehr als doppelt so stark wie Le Pen gewesen ist, zeigt sich beim Blick auf die Zahlen: Bei den Arbeitern und Angestellten konnte Le Pen doppelt so viele Stimmen für sich verbuchen wie Macron. Auch in der Altersklasse der 35- bis 59-Jährigen hat Le Pen klar die Nase vorn. Erst bei den Pensionisten fällt der Abstand zwischen Macron und Le Pen überdurchschnittlich für Macron aus.

Gesättigte Eliten

„In den romanischen Ländern kann Politik als Gesprächsthema für Männer mittleren oder vorgerückten Alters ausreichen, in den unteren Schichten kann Sport eine weitere Möglichkeit sein. (…) Was Jed und seinen Vater betraf, so interessierten sie sich weder für Wirtschaft noch für Politik. Jean-Marie war im Großen und Ganzen mit der Art einverstanden, wie das Land regiert wurde, und sein Sohn hatte dazu keine Meinung. Alles in allem erlaubte ihnen das aber, bis zur Käseplatte durchzukommen.“ (Houellebecq, „Karte und Gebiet“)

Seit 2012 ist Marine Le Pen Kandidatin bei den französischen Präsidentschaftswahlen. Seit dem hat sie sich in ihrem Auftreten von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen distanziert, der es einst auch schon einmal in eine Stichwahl geschafft hatte (2002 gegen Jacques Chirac). Ihr Programm: von ihrem Auftreten her zumindest symbolisch in die Mitte ziehen, aber vor allem jene Schichten und Regionen in den Blick nehmen, die sich abgehängt fühlen. Das „France peripherique“, das Frankreich am Rande, hat sie in den Blick genommen. Das sind die strukturschwachen Regionen im Norden und Osten, nicht zuletzt aber die Zonen am Rande der Stadt. Wie schon der „Economist“ vor fünf Jahren zeigte, kam der wirtschaftliche Aufschwung, wenn überhaupt, immer in den Metropolitan-Regionen an.

Le Pen nahm sich in ihrem Wahlkampf gern kleinere Städte vor. Und sie weiß, dass nicht zuletzt einstige Hochburgen linker Parteien mittlerweile Bastionen des Front National geworden sind, wie ja auch der als Biograf von Michel Foucault bekannt gewordene Kulturwissenschaftler Didier Eribon zeigte. Sein Bestseller „Rückkehr nach Reims“ erzählt vom Umfeld der eigenen Familie, in der einstige Kommunisten ins Lager von Le Pen gewechselt sind.

Die Entfremdung vom Proletariat in den Vorstädten

Für den Historiker Kolja Lindner ist die Entfremdung der Linken vom Proletariat eng mit der Geschichte der Vorstädte verbunden. Der großen Wohnungsnot, die in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg geherrscht hatte, wollte man in den 1950er Jahren mit großen Wohnbauprogrammen begegnen.

Macron steht vor vielen Aufgaben

Das mögliche politische Erdbeben in Frankreich ist mit dem Sieg des Amtsinhabers Emmanuel Macron bei der Stichwahl über die Rechtspopulistin Marine Le Pen vom Rassemblement National ausgeblieben. Was bleibt sind aber viele Unzufriedene.

Gerade die Bürgermeister kommunistisch regierter Städte hätten versucht, vor allem Mitglieder der eigenen Partei zu begünstigen. Zugleich wollte man keine Arbeitsmigranten aus Nordafrika in den neuen Wohneinheiten sehen. 1984 beschwerte sich der langjährige Chef der Kommunistischen Partei (PC), Georges Marchais, in einem Schreiben an die KPdSU, dass Frankreich in einem sowjetischen Schulbuch als „multiethnisches Land“ bezeichnet wurde.

Von einem „verpassten Rendezvous zwischen der Linken und den Immigranten“ spricht in diesem Kontext der Soziologe Olivier Masclet, der eine „Krise der linken Städte“ verortet. Einerseits habe man die traditionell sichere Wählerschaft verloren, „sich andererseits aber als unfähig erwiesen, die Einwandererkinder als neu zu erobernde Basis zu betrachten“.

Gemüsemarkt in Yvetot
picturedesk.com/AFP/Charly Triballeau
Yvetot in der Normandie: Der Ort mit seinen 12.000 Einwohnern wird bei Annie Ernaux auch zum Seismografen für die sozialen Umwälzungen, die sich in Lebensbiografien niederschlagen. Bei der Wahl 2022 konnte sich Macron knapp vor Le Pen durchsetzen.

Die sozialen Auswirkungen von Covid-19

Um die Arbeiter werden bei der nächsten Wahl jedenfalls Melenchon und Le Pen kämpfen, während das Lager von Macron, das ja die einstigen Eliten ausbremsen wollte, das neue Elitenlager darstellt. Von einer „müden Gesellschaft“ schreiben die Autoren Henri Bergeron, Patrick Boucheron und Pierre-Yves Geoffard in einem jüngst erschienen Band über die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesellschaft. Deutlich stellen sie auch eine „Demokratiemüdigkeit“ in der Gesellschaft fest, die durch die Pandemie, die auch so etwas wie ein soziales Covid-19 nach sich ziehen werde, erschöpft ist.

Macron war in seiner ersten Amtszeit von Extremherausforderungen geplagt: den Gelbwesten-Protesten, der Pandemie, nun dem Ukraine-Krieg. Als er erstmals zur Wahl antrat, stand Frankreich im Schatten jüngster Terrorattentate. Jetzt muss sich Macron mit den Rissen, die durch Frankreich gehen, beschäftigen, soll nicht bei der nächsten Präsidentschaftswahl tatsächlich das Land in eine extreme Richtung kippen.

Das Beispiel von Annie Ernaux

Mitunter könnten Politiker freilich auch zum Buch greifen, denn über die sozialen Risse in den Biografien von Familien handelt die jüngere französische Belletristik eigentlich die ganze Zeit. Man muss dabei nur an die große Annie Ernaux und ihr Buch „Der Palast“ denken. Darin beschreibt sie den sozialen Aufstieg der Tochter – und ein nicht mehr zu kittendes Verhältnis zur eigenen Familie. Obwohl man immer darauf aufpassen wollte, dass es diesen Riss nicht gibt.

„An der Bushaltestelle dachte ich an nichts anderes als an diese Zeremonie, mit Wut und einer Art Scham“, hält die Erzählerin fest, nachdem sie ihre Lehramtsprüfung bestanden hatte: „Am selben Abend schrieb ich meinen Eltern, ich sei jetzt ‚verbeamtet‘. Meine Mutter antwortete, dass sie sich sehr für mich freuen.“

„Vielleicht schreibe ich, weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten“, rekapituliert sie an einem Punkt im Buch das Verhältnis zu ihrem Vater. „Ich glaubte, dass er nichts mehr für mich tun konnte. Seine Wörter und Gedanken hatten im Französisch- oder Philosophieunterricht und auf den roten Samtsofas meiner Schulfreundinnen keine Gültigkeit mehr.“ In vielem erzählen Texte wie diese nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern die eines ganzen Landes.