Frontex-Chef Fabrice Leggeri
Reuters/Kacper Pempel
Pushback-Vorwürfe

Frontex-Chef Leggeri tritt zurück

Der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, ist mit sofortiger Wirkung zurückgetreten. Der Verwaltungsrat der in Warschau ansässigen Agentur nahm am Freitagnachmittag das Rücktrittsgesuch Leggeris an, das dieser am Vortag eingereicht hatte. Der Franzose war im Zusammenhang mit Berichten über Menschenrechtsverletzungen durch Frontex an den EU-Außengrenzen unter Druck geraten.

Übergangsweise soll Frontex-Angaben zufolge nun Aija Kalnaja die Amtsgeschäfte von Leggeri übernehmen. Sie war vor ihrem Engagement bei Frontex unter anderem Vizechefin der Polizei in Lettland.

Frontex steht seit Längerem wegen illegaler Zurückweisungen von Flüchtenden im Mittelmeer in der Kritik. Führungskräfte der Behörde sollen absichtlich vertuscht haben, dass griechische Grenzschützer Flüchtlinge zurück aufs offene Mittelmeer brachten. Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Außengrenzen – Pushbacks – sind nach internationalem Recht in den allermeisten Fällen illegal.

Erst am Mittwoch hatte der „Spiegel“ berichtet, dass Frontex die Praktiken an den EU-Außengrenzen in einer Datenbank festhält. Auf Basis des europäischen Informationsfreiheitsgesetzes hätten die Rechercheure die interne Frontex-Datenbank einsehen und mit Fotos und Videos von Pushback-Operationen abgleichen können, so das Magazin. Frontex war zwischen März 2020 und September 2021 in illegale Pushbacks von mindestens 957 Flüchtlingen involviert.

OLAF-Bericht soll schwere Vorwürfe enthalten

Laut einem „Spiegel“-Bericht von März erhob auch die EU-Antibetrugsbehörde OLAF in dieser Causa schwere Vorwürfe gegen Frontex. Der Bericht von OLAF zu den Vorwürfen ist bisher nicht öffentlich, die Ergebnisse wurden jedoch im März zusammengefasst einigen Abgeordneten des EU-Parlaments und Mitgliedern des Frontex-Verwaltungsrats vorgestellt.

Frontex

Frontex wurde 2004 von der EU gegründet und nach der 2015 begonnenen Flüchtlingskrise zur Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache ausgebaut. Der Grenzschutz fällt zwar weiter in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, Frontex soll aber für ein gemeinsames Management der Außengrenzen sorgen und nationale Grenzschutzeinheiten unterstützen.

Konkret gehe es um Vorwürfe gegen Leggeri und zwei weitere Führungskräfte von Frontex, gegen die OLAF Disziplinarmaßnahmen empfehle, so der „Spiegel“. Bei den Ermittlungen seien 20 Zeugen befragt und unter anderem das Büro des Frontex-Chefs durchsucht worden.

Leggeri wies Vorwürfe stets zurück

Der 2015 ins Amt gekommene Leggeri wies Kritik am Vorgehen von Frontex immer wieder zurück. Im vergangenen Jahr sagte er der deutschen „Welt“ zu dem Thema: „Was Griechenland angeht, so würde ich nicht einfach so von Pushbacks sprechen.“

Es gebe Situationen im Meer zwischen der Türkei und Griechenland, die keine Seenotsituationen seien, da die Boote nicht außer Kontrolle geraten seien. „Sie versuchen, sich den Grenzkontrollen zu entziehen, und werden mutmaßlich zum Zweck krimineller Aktivitäten benutzt“, sagte der Franzose. Dann gelte der Rechtsrahmen des Abfangens von Booten.

Ruf nach Auflösung von Frontex

Die deutsche Hilfsorganisation Sea Watch, die sich für die Rettung von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer einsetzt, nannte den Rücktritt Leggeris „überfällig, aber nicht ausreichend“. Die Grenzagentur breche „systematisch Menschenrecht“ und sei ein „Symbol tödlicher europäischer Abschottung“. Sie müsse deshalb abgeschafft werden.

Sprecher der EU-Kommission in Brüssel wiesen die Rufe nach einer Auflösung von Frontex zurück. Die Agentur erfülle eine zentrale Rolle, indem sie die Mitgliedsstaaten beim Schutz der Außengrenzen unterstütze und „zugleich die Grundrechte hochhält“. Dafür müsse Frontex aber stabil sein und gut funktionieren. Die Agentur war 2004 mit der EU-Osterweiterung ins Leben gerufen worden.

Karner: „Starke Grenzschutzagentur nötiger denn je“

Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) hatte darauf gedrängt, die Führungsfrage bei Frontex so rasch wie möglich zu klären. „Eine starke Grenzschutzagentur ist heute nötiger denn je. Alle EU-Länder sind sich einig, dass es eines robusten Außengrenzschutzes bedarf“, sagte Karner.

Wenn Außengrenzen nicht geschützt seien, könne das die EU langfristig gefährden, so der Innenminister. „Viele Mitgliedsstaaten, darunter Österreich, sind massiv von illegaler Migration betroffen, obwohl sie keine EU-Außengrenze haben.“ Ziel müsse es sein, Schlepper bereits an den EU-Grenzen „zu bekämpfen“, so Karner. Alle Personen müssten dort auch konsequent erfasst werden.

Rücktritt „überfällig“ und „unausweichlich“

SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath sprach am Freitag – noch vor der offiziellen Verkündung – von einem längst überfälligen Rücktritt Leggeris. „Frontex war nachweislich an Rechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen beteiligt, dafür verantwortlich ist selbstverständlich die Führungsspitze der EU-Agentur“, hieß es in einer Aussendung. Leggeri habe das notwendige Fingerspitzengefühl für die Leitung der sensiblen Agentur während seiner siebenjährigen Amtszeit nicht gezeigt.

Die interne Frontex-Datenbank belegt laut Vollath, dass Frontex allein zwischen März 2020 und September 2021 an Pushbacks von mindestens 957 Menschen beteiligt war. „Solche Zahlen sind bestürzend – die EU muss als Garantin für Rechtsstaat und Demokratie mit gutem Beispiel vorangehen, Grundrechte gelten auch und besonders an unseren Außengrenzen“, so die SPÖ-Politikerin. Es müsse geklärt werden, welche persönliche Verantwortung Leggeri für diese Fälle habe. Es brauche zudem ein Umdenken in der gesamten EU-Agentur.

„In der Ukraine-Krise zeigt Europa sein freundliches Gesicht, vielleicht lernt es daraus. Unmenschlichkeit gegen Vertriebene darf keine Strategie sein“, sagte Michel Reimon, Europasprecher der Grünen. Das menschenverachtende Vorgehen an den EU-Außengrenzen gegen Vertriebene sei inakzeptabel und einer entwickelten EU nicht würdig. „Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht und als solches unverhandelbar. Ein Rücktritt Leggeris ist unausweichlich“, so Reimon.

„Möglichkeit des Neuanfangs“

Die deutsche Bundesregierung begrüßte Leggeris Rücktritt. Dieser gebe die Möglichkeit eines Neuanfangs bei Frontex sowie dazu, Vorwürfe restlos aufzuklären und sicherzustellen, dass alle Einsätze der Agentur im vollen Einklang mit dem europäischen Recht erfolgten, so ein Sprecher des deutschen Innenministeriums. Das sei die klare Erwartung der Bundesregierung. Deutschland hat einen Sitz im Verwaltungsrat von Frontex.