Retrospektiv betrachtet wirkt es besonders bizarr, dass es vor allem der Krim-Krieg war, der 1853 der neu entstanden Friedensbewegung Aufschwung verlieh. Denn im aktuellen Ukraine-Krieg, rund 170 Jahre später, finden pazifistische Forderungen indes keine Beachtung – und wenn doch, dann lediglich in Form reinen Entsetzens.
So kam es etwa kürzlich in Deutschland zu einem Aufschrei, als 28 Intellektuelle in einem offenen Brief ein Ende der Waffenlieferungen verlangten und auf Kompromisse im Ukraine-Krieg pochten. „Uns alle treibt die Sorge um, dass die Lieferung schwerer Waffen den Krieg verlängert – dadurch die Vernichtung menschlicher Existenzen und der Blutzoll steigen“, meinte der Multimediakünstler und Initiator des Briefs, Peter Weibel.
Deutscher Protest gegen Waffenhilfe wächst
Während Kanzler Scholz (SPD) und selbst Außenministerin Annalena Baerbock von den traditionell friedensbewegten Grünen schwere Waffen in die Ukraine schicken will, haben jetzt 28 prominente Deutsche in einem offenen Brief gefordert, genau das nicht zu tun. Der Atommacht Russland solle kein Motiv für einen Weltkrieg geliefert werden, so das Argument.
Kritik aus Politik
Die Antwort des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) fiel ungewohnt scharf aus. Der als „Kriegskanzler“ Ausgepfiffene schrie in die aufgebrachte Menge: „Ich respektiere jeden Pazifismus. Ich respektiere jede Haltung. Aber es muss einem Bürger der Ukraine zynisch vorkommen, wenn ihm gesagt wird, er solle sich gegen die Putin’sche (Wladimir, russischer Präsident, Anm.) Aggression ohne Waffen verteidigen. Das ist aus der Zeit gefallen.“
Kritik am offenen Brief kam auch vom deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Gegenüber der „Zeit“ sagte er: „Was folgt aus dieser Argumentation? Eigentlich doch nur, dass ein bisschen Landbesetzung, Vergewaltigung und Hinrichtung einfach hinzunehmen sind und die Ukraine schnell kapitulieren solle. Das finde ich nicht richtig.“
„Verantwortung übernehmen“
Ähnlich der Tenor in den politischen Feuilletons großer deutschsprachiger Medien. Angesichts der schrecklichen Kriegsverbrechen, gelte es „anzuerkennen, dass man einer Bedrohung gegenübersteht, die durch Verhandlungen, Appeasement oder Zugeständnisse nicht abgewendet werden kann, und aus dieser Erkenntnis heraus Verantwortung zu übernehmen“, heißt es dazu etwa in einem Kommentar des „Spiegels“.
Und weiter: Man dürfe sich nicht durch die eigene Naivität oder Ideologie blenden lassen, auch eine Opfer-Täter-Umkehr müsse unter allen Umständen vermieden werden. Kompromisse könne es nicht geben. Denn: „Wo sollen ‚Kompromisse‘ sein, wenn Putin völkerrechtswidrig ein freies europäisches Land überfällt, Städte dem Erdboden gleichgemacht, Zivilisten ermordet werden und Vergewaltigung systematisch als Waffe gegen Frauen eingesetzt wird?“

Friedensforscher: Hektische Suche nach neuer Orientierung
Auch Friedensforscher und Politikwissenschaftler Dietrich beobachtet, dass sich Scholz seit Ende Februar, „spektakulär vom idealistischen Friedensdenken abgewendet hat, das seit dem Zweiten Weltkrieg Teil der deutschen Tiefenkultur und Identität war“. Dass es tatsächlich zu einem Krieg gekommen ist, widerspreche allen Grundsätzen, an die westliche Regierungen, Diplomatie, Wissenschaft und nicht zuletzt auch ein großer Teil der Friedensbewegung „fest glaubten“.

Da diese Glaubenssätze nun nicht mehr gelten, verursache das bei allen Bestürzung und hektische Suche nach neuer Orientierung. In dieser „Zeitenwende“ trete an die Stelle von Hoffnung auf eine vernünftige Form der Konfliktlösung die Angst. Auf Basis von Angst werde dann auch gewaltsame Verteidigung legitimiert, so Dietrich und fügt hinzu: „In der Friedensforschung ist uns diese Beobachtung nicht neu.“
„Wenig Raum für echte Kompromisse“
Doch: „Wer Angst hat, braucht Mut. Denn nicht zu handeln ist auch eine Handlung mit allen Konsequenzen“, meint Dietrich. Für den Politologen scheinen die getroffenen Maßnahmen „nachvollziehbar und zielführend, auch, wenn mir bei jeder einzelnen davon unwohl ist“.
Auch sehe Dietrich aufgrund der derzeitigen Gegebenheiten „wenig Raum für echte und tragfähige Kompromisse am Verhandlungstisch“. Ebenso müsse mit Putin selbst ein „kompromissloser“ Diskurs geführt werden. Denn klar ist: „Man wird mit ihm reden müssen.“

Lässt sich mit Putin verhandeln?
Doch lässt sich mit Putin nach all den Erfahrungen und Geschehnissen der vergangenen Wochen, ja Jahre überhaupt noch verhandeln? „Mit dem Teufel Hände zu schütteln ist die verdammte Pflicht von Politik und Diplomatie, und zwar immer“, zeigt sich Dietrich überzeugt. In der Friedensforschung verstehe man Gesellschaften sowie ihre Zusammenhänge als Systeme – und diese könnten nun einmal nicht ohne Kommunikation funktionieren.
Folglich sei das stark antirussische Narrativ auch ein Risiko, da es den Blick für die Wirklichkeit in einer ohnedies komplexen Lage zusätzlich verstellen würde, so Dietrich. „Auch wenn Putin-Versteher ein Schimpfwort wurde, ist Putin nicht zu verstehen keine Tugend.“
Weg zu Frieden „weit, hart und schmerzhaft“
„Das bedeutet aber keine Rückkehr zur Normalität, und schon gar keinen Frieden.“ Verhandlungen mit Putin könnten Dietrich zufolge nur noch rein taktischer Natur sein. Idealerweise werde ein Abgang Putin „von innen“ bewirkt. „Da das System Putin über Atomwaffen verfügt, liegt die Kunst der Politik aller anderen darin, den Abstieg so zu begleiten, dass nicht aus dem gewaltsamen Um-sich-Schlagen eine globale Katastrophe wird. Wie gut das gelungen ist, werden wir erst wissen, wenn Putin Geschichte ist“, so Dietrich.
Erst nach Putins Abgang und erst mit einer ehrlichen Aufarbeitung der begangenen Verbrechen können laut Dietrich Verhandlungen mit Russland beginnen. Russland dürfe dabei nicht mit dem System Putins gleichgesetzt werden, sondern müsse am Ende „ein Land wie jedes andere werden und als solches in der Gemeinschaft der Staaten willkommen sein“, fordert Dietrich. Doch der Weg dorthin sei noch „weit, hart und schmerzhaft“.