Demonstrierende vor dem Supreme Court in Washington
AP/Alex Brandon
Supreme-Court-Leak

US-Abtreibungsrecht könnte fallen

Der Oberste Gerichtshof der USA steht möglicherweise davor, das landesweite Recht auf Abtreibung zu kippen. Ein entsprechender geleakter Urteilstext, bei dem es sich um einen ersten Entwurf einer mit Spannung erwarteten Entscheidung des Supreme Court zu dem Fall Roe vs. Wade handeln soll, wurde von der Zeitung „Politico“ veröffentlicht. Die Abtreibungsdebatte könnte damit zu einem zentralen Thema bei der Kongresswahl Anfang November werden.

„Roe war von Anfang an ungeheuerlich falsch“, schrieb einer der Richter, Samuel Alito, laut dem Bericht in dem auf den 10. Februar datierten Papier. Die Rechtsprechung, die als Roe v. Wade bekannt ist, steht nun zur Disposition: Konkret prüft der Supreme Court momentan nämlich das neue Abtreibungsgesetz des Bundesstaats Mississippi. Das oberste Gericht und das Präsidialamt lehnten Stellungnahmen ab. Dass ein Urteilsentwurf des Supreme Court geleakt wird, gilt in der Geschichte des US-Höchstgerichts als außergewöhnlich.

„Ein Schwangerschaftsabbruch stellt eine tiefgreifende moralische Frage dar“, schrieb Richter Alito dem Text zufolge in der Begründung auch: „Die Verfassung verbietet es den Bürgern der jeweiligen Bundesstaaten nicht, die Abtreibung zu regeln oder zu verbieten.“ Unbekannt ist, ob sich der Entwurf seit der Version vom Februar verändert hat oder es weitere Entwürfe gab. In der Regel stimmt die Kammer nach mündlichen Verhandlungen intern über einen Fall ab. Danach wird einer der Richter damit beauftragt, einen Urteilsentwurf im Namen der Mehrheit auszuformulieren – in diesem Fall Alito.

Eine juristisch bindende Veröffentlichung des endgültigen Urteils wird bis Ende Juni erwartet. Zwischen Entwürfen und der endgültigen Fassung können die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs auch ihre Meinung ändern. „Es ist möglich, dass es seither einige Änderungen gegeben hat“, sagte „Politico“-Reporter Josh Gerstein, der den Bericht veröffentlichte, dem Sender MSNBC. Das Gericht ist mit einer konservativen Mehrheit von sechs zu drei Stimmen besetzt.

US-Höchstrichter Samuel Alito
Reuters/Erin Schaff
Samuel Alito gehört zu den sechs konservativen Richtern des neunköpfigen Supreme Court

Umfrage: Klare Mehrheit für Recht auf Abtreibung

Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts versammelten sich Abtreibungsgegnerinnen und -gegner sowie Abtreibungsbefürworterinnen und -befürworter vor dem Gerichtsgebäude in Washington. Befürworter eines USA-weiten Rechts auf Abtreibung skandierten „Tut was, Demokraten“, Gegner verlangten die Abschaffung.

Einer Umfrage des Pew Research Center von 2021 zufolge sprechen sich 59 Prozent der US-Bürgerinnen und -Bürger für ein Recht auf Abtreibung in den meisten Fällen aus, während 39 Prozent dagegen sind.

Demonstrierende vor dem Supreme Court in Washington
AP/Alex Brandon
Abtreibungsbefürworterinnen vor dem Supreme Court

Roe v. Wade: Recht auf Abtreibung als umstrittenes Urteil

Die Grundsatzentscheidung zum Fall Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 ist eines der umstrittensten Urteile des Supreme Court. Es legt ein bundesweites Recht auf Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit des Fötus – heute etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche – fest. Kritikerinnen und Kritiker der Entscheidung sehen hier allerdings die Rechtssysteme der einzelnen Bundesstaaten in der Zuständigkeit, die in den USA eigene Strafgesetzbücher haben. Ein weiteres Urteil von 1992, das „Planned Parenthood v. Casey“-Urteil, bestärkte die vergleichsweise liberale Rechtsprechung.

Seit Jahrzehnten versuchen insbesondere erzkonservative Abtreibungsgegner, das Roe-vs.-Wade-Urteil zu kippen. Damit würden wieder die Gesetze der einzelnen Staaten greifen. Mehrere von ihnen haben bereits angekündigt, in diesem Fall die Abtreibung stark einzuschränken. Die Befürworter sehen in der Entkriminalisierung dagegen einen Meilenstein in der Geschichte liberaler Rechtsprechung.

USA: Abtreibungen könnten erschwert werden

In den USA steht das verfassungsmäßige Recht auf einen Zugang zu Abtreibung möglicherweise vor dem Aus. Der Oberste Gerichtshof hat dazu einen Entwurf erarbeitet, der jetzt an die Öffentlichkeit geraten ist.

Newsom: „Können dem Supreme Court nicht vertrauen“

Der Gouverneur von Kalifornien, der Demokrat Gavin Newsom, kündigte am Montag an, seine Regierung strebe eine Änderung in der kalifornischen Verfassung an. Dort solle ein „Recht der Wahl“ in Sachen Abtreibung festgeschrieben werden. „Wir können dem Supreme Court nicht vertrauen, dass er das Recht auf Abtreibung schützt, daher werden wir das selbst tun“, twitterte Newsom.

In den USA werden Anfang November ein Drittel des Senats und das gesamte Repräsentantenhaus neu gewählt. Die Demokraten von Präsident Joe Biden verfügen in beiden Kongresskammern nur über kleine Mehrheiten. Der demokratische Abgeordnete Jamie Raskin rief im TV-Sender MSNBC seine Parteifreunde für den 8. November zu den Wahlurnen. Der republikanische Senator Tom Cotton sagte: „Ich bete, dass das Gericht der Verfassung folgt und es den Bundesstaaten erlaubt, wieder das ungeborene Leben zu schützen.“

Veranstaltung von Gegnern der Abtreibungsgesetze im Jahr 1973 im US-Bundesstaat Wisconsin
AP
Kundgebung von Abtreibungsgegnern im Jahr 1973

Fachleute: Leak beschädigt Ruf des Höchstgerichts

Die Veröffentlichung des eigentlich streng vertraulichen Entwurfs beschädigt Fachleuten zufolge den Ruf des Supreme Court schwer. Während weitergereichte Dokumente bei Präsidialamt und Kongress fast zum politischen Alltag gehören, gab es dem Rechtsprofessor Jonathan Peters von der University of Georgia zufolge zuletzt 1852 einen vergleichbaren Fall am Obersten Gerichtshof.

„Die Weitergabe eines Urteilsentwurfs ist ein schwerer Verstoß gegen die vorherrschenden Normen“, schrieb sein Kollege Dan Epps von der Washington University in St. Louis. „Das passiert einfach nicht.“ Neal Katyal, ehemaliger kommissarischer Generalstaatsanwalt der USA, verglich den Vorgang auf Twitter mit der Veröffentlichung der Pentagon-Papers zum Vietnam-Krieg durch die „New York Times“ 1971.

Floridas Gouverneur unterzeichnete Abtreibungsgesetz

Zuletzt führte der US-Bundesstaat Florida ein weitgehendes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen nach der 15. Woche ein. Floridas Gouverneur, der Republikaner Ron DeSantis, unterzeichnete die Gesetzesverschärfung Mitte April in Kissimmee. Das Gesetz soll am 1. Juli in Kraft treten. Damit wären Abtreibungen in Florida nach der 15. Schwangerschaftswoche nur noch als Ausnahme möglich, etwa wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder der Fötus eine tödliche Anomalie aufweist, nicht aber zum Beispiel im Fall einer Vergewaltigung.

Die Regelung folgt dem Modell des neuen Abtreibungsgesetzes des Südstaats Mississippi, das aktuell vom Supreme Court geprüft wird. Sollte das Höchstgericht entscheiden, dass das Abtreibungsgesetz in Mississippi verfassungsmäßig ist, könnten auch andere Bundesstaaten Abtreibungen weiter einschränken.

Wirbel um Gesetzesänderung in Texas

Auch andere republikanisch geführte US-Bundesstaaten bemühen sich, den Zugang zu Abtreibungen weitgehend einzuschränken. Ebenso im April hatte der Gouverneur von Oklahoma, Kevin Stitt, ein Gesetz unterzeichnet, laut dem die Durchführung einer Abtreibung in dem Staat künftig mit bis zu zehn Jahren Haft und einer Geldbuße von bis zu 100.000 US-Dollar (92.000 Euro) geahndet werden kann.

Für viel Aufregung sorgte auch eine Gesetzesänderung in Texas: Dort gilt seit dem vergangenen Jahr ebenfalls ein striktes Abtreibungsgesetz. Es verbietet alle Abtreibungen, sobald der „Herzschlag“ des Fötus festgestellt worden ist. Das kann schon in der sechsten Schwangerschaftswoche der Fall sein. Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass sie schwanger sind.