Pro-russische Milizen befestigen in der Luhansk-Region (Ukraine) russische Flaggen an einem Zaun
Reuters/Alexander Ermochenko
Abstimmungen geplant?

Mehr Anzeichen für russische Referenden

Im Ukraine-Krieg mehren sich die Warnungen, Russland könnte mit manipulierten Referenden versuchen, mehrere Regionen im Osten des Landes aus der Ukraine herauszulösen – ähnlich wie man es 2014 auf der Krim gemacht hatte. Nach der ukrainischen Regierung warnten nun auch US-Vertreter vor einer solchen Vorgangsweise, etwa in Luhansk und Donezk. Zuvor hatte es Spekulationen über eine solche Vorgangsweise in Cherson gegeben. Russische Dokumente befeuern die Gerüchte.

Zuletzt kamen die Warnungen aus den USA, Moskau könnte mit Abstimmungen eine Legitimität imitieren, die Gebiete zu annektieren: Russland wolle vermutlich Mitte Mai manipulierte Referenden über einen Anschluss der beiden Separatistenregionen im Donbas abhalten, sagte der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Michael Carpenter, am Montag. Das exilrussische Onlinemagazin Meduza hatte über ähnliche Pläne berichtet und nannte als Daten dafür den 14. und 15. Mai.

Ein ähnliches Vorgehen sei in der inzwischen von Russland kontrollierten südukrainischen Region Cherson geplant, wo Moskau bereits die Nutzung des Rubels als Währung durchsetzen will. Carpenter betonte, solche gefälschten Referenden würden „nicht als legitim angesehen“ – so wie bereits das Referendum zur Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014. Die mehrheitlich russisch-stämmige Bevölkerung hatte sich dort für den Anschluss an Russland ausgesprochen. Auch das ist international nicht anerkannt.

USA verweisen auf bisherige Voraussagen

Mit Blick auf die Verlässlichkeit der US-Geheimdienstinformationen über Russlands Pläne sagte der Botschafter, er stufe sie als „sehr glaubwürdig“ ein. „Leider hatten wir beim Offenlegen der nächsten Schritte (Russlands) mehr recht als unrecht.“ Die USA hatten schon Wochen vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eindringlich vor der Gefahr eines Einmarschs der russischen Streitkräfte im Nachbarland gewarnt. Washington war damit bei westlichen Verbündeten auf Skepsis gestoßen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am 21. Februar die Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken Luhansk und Donezk durch Russland verkündet. Drei Tage später, am 24. Februar, begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nachdem der Versuch gescheitert war, die Regierung in Kiew zu stürzen, konzentriert sich die russische Armee auf den Süden und Osten der Ukraine.

Abstimmung als „friedliche Lösung“?

Russland könnte solche Referenden auch als quasi „friedliche Lösung“ des Konflikts ins Spiel bringen: Gehen die Abstimmungen wie gewünscht für Moskau aus, wäre damit eines der Kriegsziele – eine Landverbindung zur Krim – ja erreicht. Abgesehen von möglichen Fälschungsversuchen wären solche Referenden freilich auch deshalb kaum repräsentativ, da aus den betroffenen Gebieten eine Vielzahl von Personen geflüchtet ist, die dann wohl keine Stimme hätten.

Eine solche Annexion hätte auch mehreren Ebenen weitreichende Folgen. Laut „Süddeutscher Zeitung“ gehen Experten davon aus, dass bei Kämpfen in der Region der russische Präsident Wladimir Putin argumentieren könnte, dass nun russisches Territorium angegriffen würde. Das wiederum könnte er zur Rechtfertigung einer Generalmobilmachung in Russland nutzen – und so noch mehr Soldaten für den Krieg mobilisieren. Auch für eine Rechtfertigung für Angriffe auf westliche Waffenlieferungen könnte er diese Konstruktion nutzen.

Schon Ende März hat die „Volksrepublik Luhansk“ erklärt, sie könne bald ein Referendum über einen Beitritt zur Russischen Föderation abhalten. „Ich denke, dass in naher Zukunft ein Referendum auf dem Territorium der Republik abgehalten werden wird“, sagte Separatistenanführer Leonid Passetschnik. Der Anführer der „Volksrepublik Donezk“, Denis Puschilin, erklärte ebenfalls, es solle ein Beitritt geprüft werden. So ein Referendum wäre null und nichtig, hieß es damals postwendend aus Kiew.

Gerüchte auch in Cherson und Saporischschja

Spekulationen hatte es vergangene Woche auch erneut über solche Referenden in den von russischen Truppen besetzten Gebieten um Cherson und Saporischschja im Süden des Landes gegeben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte die Bewohner der besetzten Gebiete auf, keine persönlichen Daten wie Passnummern anzugeben, die die russischen Streitkräfte von ihnen verlangen würden.

„Es geht nicht nur darum, eine Volkszählung durchzuführen“, warnte er. „Es geht nicht darum, euch humanitäre Hilfe jeglicher Art zukommen zu lassen. Es geht in Wirklichkeit darum, ein sogenanntes Referendum über euer Land zu fälschen, wenn der Befehl zur Durchführung dieser Komödie aus Moskau kommt“, sagte der ukrainische Präsident. Russland dementierte zwar wiederholt solche Pläne, allerdings waren auch andere Töne zu hören.

Spekulationen über „Zerfall“ der Ukraine

„Die Frage einer Rückkehr des Gebiets Cherson in die nazistische Ukraine ist ausgeschlossen“, sagte etwa Kirill Stremoussow von der moskautreuen Verwaltung der russischen Staatsagentur Ria Nowosti. „Das ist unmöglich.“ Von einer Volksabstimmung wollte er nichts wissen.

Der russische Sicherheitsratschef Nikolai Patruschew wiederum sprach zuletzt von einer Aufspaltung der Ukraine, machte aber den Westen dafür verantwortlich. „Das Ergebnis der Politik des Westens und des von ihm kontrollierten Kiewer Regimes kann nur zum Zerfall der Ukraine in mehrere Staaten führen“, sagte er der staatlichen Tageszeitung „Rossiskaja Gaseta“.

Manifest beschreibt neuen Staat

Für Wirbel sorgt zudem seit einigen Tagen ein offenbar aus Russland stammendes Dokument, das die Schaffung eines neuen Staats in Teilen der Gebiete der Ukraine vorsieht. Die Sendung „Schemes“ von Radio Swoboda, dem ukrainischen Ableger von Radio Free Europe/Radio Liberty, berichtet, dass das Dokument den Titel „Manifest des südrussischen Volksrats“ trage und mit 16. April datiert sei.

Darin sei eine „Südliche Rus“ vorgesehen, der Name „Rus“ leitet sich von der Bezeichnung für lose organisierte Gebiete im achten bis zehnten Jahrhundert ab, die zunächst von einem Königreich in Kiew kontrolliert wurden. Später leitete sich auch der Name Russland davon ab. Welche Gebiete darin enthalten sein sollen, ist nicht vermerkt.

„Dreigliedrige russische Nationalität“

In dem Dokument heißt es, die Ukraine habe ihre Legitimität nach der Maidan-Revolution 2013 bis 2014 verloren, die im Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch gipfelte. „Als Antwort auf den Terror und die totalitäre Aufzwingung der Ideologie des Nationalsozialismus (…) durch den ehemaligen Staat Ukraine nehmen wir in Form des Südrussischen Volksrats die Macht in unsere eigenen Hände und gründen einen neuen Staat Südrussland“, heißt es in dem Dokument.

Der neue Staat baue auf der Grundlage „des Verständnisses der historischen und genetischen Verwandtschaft und Einheit der dreigliedrigen russischen Nationalität – Ukrainer, Weißrussen und Russen –, der brüderlichen Freundschaft und der gegenseitigen Unterstützung auf“, heißt es weiter.

Prominente Verfasser

Die Metadaten des Word-Dokuments weisen laut dem Sender darauf hin, dass ein hoher Beamter von Putins Partei „Einiges Russland“ entweder der Autor des Dokuments oder zumindest an seiner Erstellung beteiligt war. Später sei das Papier an Helfer von Konstantin Malofejew weitergeleitet worden. Der Oligarch gilt als Anhänger eines großen, an das Zarenreich anknüpfende „Neurussland“. In den vergangenen Jahren galt er als einer der größten Geldgeber der Separatisten in der Ostukraine.

Die angeblichen Verfasser wollen auf Anfrage des Senders keine Stellungnahme abgeben. Wie ernst zu nehmen das Dokument ist, bleibt ebenfalls offen – es passt aber sehr wohl in jenes Bild, das zurzeit in Russland zur Zukunft der Ukraine diskutiert wird. So hatte der Autor und Propagandist Timofei Sergeitsew schon vor einem Monat in einem Gastbeitrag für die russische Nachrichtenagentur RIA über eine „Entukrainisierung der Ukraine“ nachgedacht. Er schlug eine „Umerziehung“ für die Bevölkerung vor – und eine Liquidierung der Elite.