Silhouetten von ukrainischen Kindern in einem Raum
Reuters/Ueslei Marcelino
Ukrainische Zivilisten

Berichte über Verschleppungen häufen sich

Die Flucht aus umkämpften Gebieten wie Mariupol wird für ukrainische Zivilisten zunehmend schwierig. Vor allem im Osten der Ukraine häufen sich Berichte über Deportationen von Frauen und Kindern in „Filtrationslager“ der russischen Armee. Wer das Verhör nicht besteht, wird laut Zeugenaussagen nach Russland verschleppt. Auch ein geplantes Gesetz, das Zwangsadoptionen von Kindern erleichtern soll, sorgt für Beunruhigung.

Aus den umkämpften Gebieten der Ukraine sind nach Moskauer Militärangaben schon fast 1,1 Millionen Menschen nach Russland gebracht worden. Knapp 200.000 von ihnen seien Kinder, sagte Generaloberst Michail Misinzew in Moskau. Allein am Montag seien 11.500 Menschen, darunter 1.850 Kinder, nach Russland gebracht worden, wurde er von der Agentur Interfax zitiert.

Nach russischer Darstellung werden diese Menschen aus der Ukraine vor den Kämpfen und angeblicher Gewalt der Kiewer Führung in Sicherheit gebracht. Moskau betont immer wieder, dass viele Ukrainer darauf warteten, etwa aus der belagerten Hafenstadt Mariupol über Korridore nach Russland in Sicherheit gebracht zu werden, was Kiew bestreitet. Aus den Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine sind angebliche Flüchtlinge schon vor dem russischen Angriff vom 24. Februar nach Russland gebracht worden.

Kiew: Frauen und Kinder werden massenhaft verschleppt

Die Ukraine sieht das als Verschleppung ihrer Bürger aus den derzeit russisch besetzten Gebieten im Osten und Süden. Die russische Armee lasse die Menschen nicht auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet flüchten, heißt es in Kiew. Der ukrainische Sicherheitsrat warf Russland vor, die Kinder zu entführen und für Propaganda zu missbrauchen.

„Frauen und Kinder werden massenhaft aus den Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk abgeschoben“, schrieb die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa, auf Facebook. Denisowa erhob schwere Vorwürfe: „Frauen, Kinder, alte Leute werden durchsucht, ihnen werden die ukrainischen Dokumente und Telefone abgenommen.“ Sie würden dann „in Konzentrationslager“ in grenznahe russische Gebiete geschickt und später umgesiedelt. Für diese Anschuldigungen legte sie allerdings keine Beweise vor.

Vor der Verschleppung kommen die „Aussiebelager“

Dass die Verschleppungen stattfinden, gilt laut dem US-Botschafter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als erwiesen. Menschen würde weisgemacht, dass sie über sichere Fluchtwege in Sicherheit werden, während sie in Wahrheit einem strengen Verhör unterzogen werden, Fotos von ihnen aufgenommen und Fingerabdrücke entnommen werden, schrieb die „Presse“.

Immer mehr Zeugen berichten von dem als „Aussiebelager“ bzw. „Filtrationslager“ bezeichneten Screening, das durchlaufen werden müsse, ehe man umkämpfte Regionen wie die Hafenstadt Mariupol verlassen dürfe. Laut ukrainischen Angaben befinden sich bereits mehr als 20.000 Menschen in vier derartiger Camps, vor allem im Osten der Ukraine, wobei die OSZE die Existenz weiterer „Filtrationslager“ nicht ausschließt.

„Kollaborateure“ dürfen nicht fliehen

Berichten der BBC zufolge werden ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten teilweise tagelang in den Lagern, in denen katastrophale, unhygienische Zustände herrschen, festgehalten und befragt. Augenzeugen berichten zudem von Angeboten von 10.000 Rubel (rund 140 Euro), wenn sie sich in Ostrussland niederlassen würden – wobei man das Land dann zehn Jahre lang nicht verlassen dürfe, wie eine Betroffene schildert.

Wer den Aussiebeprozess bestehe, dürfe auf ukrainisches Territorium fliehen – wem unterstellt würde, mit „ukrainischen Nazis“ zu kollaborieren, drohe ein Folterkeller bzw. die Deportation nach Russland, so ein Zeuge gegenüber der BBC. Für einen solchen Verdacht reiche bereits ein Foto einer ukrainischen Flagge und einer proukrainischen Demonstration auf dem Privathandy. Auch Kontakte zu Journalisten und dem ukrainischen Militär würden als Verrat gelten und als Grund, um die Flucht in ukrainisches Gebiet zu verweigern.

Zeugen berichten von mehrstufigem Prozess

Die Deutsche Welle berichtete zudem von mehreren Phasen, die man innerhalb der Filtrationslager durchlaufen müsse. Ein Ukrainer schilderte, er habe sich zuerst vor einem Soldaten ausziehen müssen, sei auf Waffen und Tätowierungen untersucht und gefragt worden, wo er lebe, arbeite und was er von ukrainischer und russischer Politik halte. Auch nach Verbindungen zu dem ukrainischen Asow-Regiment sei er gefragt worden.

Anschließend habe er eine Erklärung unterschreiben müssen, die besagte, dass er mit einem bestimmten Artikel der Verfassung der selbst ernannten „Donezker Volksrepublik“ vertraut sei. Am Ende sei ihm ein Papier ausgehändigt worden, auf dem stand, dass er den Filtrationsprozess durchlaufen hätte, auf dem Gebiet der „Donezker Volksrepublik“ bleiben und nach Russland einreisen dürfe. „Alles verlief reibungslos, vielleicht weil ich die ‚richtigen‘ Antworten gab“, so der Zeuge gegenüber der Deutschen Welle.

Kiew: 200.000 Kinder sollen zwangsadoptiert werden

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte die vom russischen Militär eingerichteten Filtrationslager, in denen nach offizieller Darstellung potentielle Kämpfer von Zivilisten getrennt werden sollen. „Der ehrliche Name dafür ist ein anderer – das sind Konzentrationslager. So wie sie die Nazis seinerzeit gebaut haben“, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. „Unter anderem deportieren sie Kinder – in der Hoffnung, dass sie vergessen, wo sie herkommen, wo ihr Zuhause ist.“

Laut der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Denisowa bereitet Russland bereits ein Gesetz vor, um die 200.000 deportierten Kinder zur Adoption freizugeben. Das ukrainische Außenministerium spricht von einer „organisierten Entführung von Kindern“ und einer „Verletzung des humanitären Völkerrechts“.

Besonders besorgniserregend seien in diesem Zusammenhang Informationen über „die Absicht des Bildungsministeriums der Russischen Föderation, mit den russischen Besatzungsverwaltungen in den Regionen Donezk und Luhansk ‚Vereinbarungen‘ zu unterzeichnen, die die Übergabe von illegal aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine abgeschobenen Waisenkindern an russische Familien ermöglichen würden“, schrieb das ukrainische Außenministerium auf seiner Website.

Deutsche Menschenrechtsbeauftragte alarmiert

Die Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Regierung, Luise Amtsberg (Grüne), forderte Ermittlungen zu den möglichen Verschleppungen ukrainischer Zivilisten nach Russland. „Die Berichte über Verschleppungen müssen zwingend Gegenstand der internationalen Untersuchungen zu russischen Kriegsverbrechen sein“, sagte Amtsberg den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Sollten diese Personen gegen ihren Willen nach Russland verbracht worden sein, wäre das ein erneuter eklatanter Bruch des Völkerrechts.“

Die vierte Genfer Konvention verbiete die zwangsweise Umsiedlung und Verschleppung von Zivilisten aus besetzten Gebieten in einen anderen Staat, sagte Amtsberg. „Die russische Kriegsführung suggeriert, dass es sich hierbei um humanitäre Evakuierungen handelt, dabei haben diese Evakuierungen rein gar nichts mit den vereinbarten humanitären Korridoren zu tun.“ Gleichzeitig nutze „die russische Seite den Verbleib dieser Menschen für ihre Propaganda“, sagte die Menschenrechtsbeauftragte. Das sei angesichts des „brutalen Angriffskrieges“ Russlands „zynisch und menschenverachtend“.

„Aussiebecamps“ sind in Russland nicht neu

Nachdem der Kreml die Verschleppungen der Ukrainerinnen und Ukrainer zunächst dementiert hatte, ist er inzwischen dazu übergegangen, die Berichte über die „Aussiebecamps“ als Rettung der Menschen „vor den Gräueltaten der Ukrainer“ zu bezeichnen, wie in russischen Zeitungen zu lesen ist. Die Camps sollen laut russischen Angaben verhindern, dass „ukrainische Nationalisten Russland infiltrieren“.

Das Konzept ist nicht neu: Bereits in der Sowjetunion wurde in derartigen Camps überprüft, ob Sowjets, nachdem sie in deutscher Gefangenschaft waren, der sowjetischen Ideologie weiter treu geblieben sind. Wer den Test nicht bestand, landete im Gulag.