„Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiter zu spielen“, heißt es in Reinhardts viel zitierter Rede an die Schauspieler. 1938 als jüdischer Regisseur vertrieben, war Reinhardt nach 1945 aus der Distanz als charismatischer Grundtheoretiker und Praktiker glorifiziert worden.
Die konkrete Bedeutung seiner Arbeit und die seines Umfelds – etwa seine innovativen Vorstellungen einer fundierten Ausbildung für das Theater – sind dabei oft in Vergessenheit geraten. Von den modernen Unterrichtsmethoden, den bedeutenden Lehrenden und Studierenden erzählt nun die Erinnerungsausstellung „Max Reinhardt Seminar 1928 bis 1945“ in der Reinhardt-Seminar-Arena.

Wie der Titel vielleicht glauben lässt, handelt diese aber nicht von einer „abgeschlossenen Geschichte, die auf einer kleinen Institutsinsel spielt“, so Peter Roessler, Dramaturgieprofessor am Max Reinhardt Seminar und einer der Ausstellungskuratoren, im ORF.at-Gespräch. Es gehe stattdessen um „die von Reinhardt initiierten Errungenschaften und ungeheuren Brüche, die in die gesamte Kulturgeschichte Österreichs hineinwirken“.
Der Theatererneuerer schlechthin
Reinhardt, 1873 in Baden als Maximilian Goldmann geboren, gilt als der Erneuerer des Theaters schlechthin. Sein Wirken steht am Beginn der modernen Regie und umfasst ein weites Spannungsfeld zwischen Kammerspiel und Großrauminszenierung, schauspielerischer Arbeit und zeitgenössischer Dramatik. Er begann als Schauspieler und wurde 1894 von Otto Brahm ans Deutsche Theater nach Berlin geholt, dessen Eigentümer er einige Jahre später wurde.

In Berlin hatte er mit den Reinhardt-Bühnen schon regelrecht ein Theaterimperium aufgebaut, als er 1920 in Salzburg die von ihm mitbegründeten Festspiele eröffnete und 1924 das traditionsreiche Josefstädter Theater übernahm, das er zu einem Theater der Schauspieler erklärte. Gleichzeitig hielt Reinhardt Kurse für Schauspiel und Regie an der Fachhochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien.
1926 legte er ein Konzept für ein „Hochschulseminar für Schauspiel und Regie“ vor. Die neue Institution wurde am Schönbrunner Schlosstheater installiert und gleich zweimal eröffnet: im November 1928 als Staatsakt und ein weiteres Mal im April 1929, zelebriert als verspäteter Unterrichtsbeginn.
Reinhardt-Seminar als Ordensgemeinschaft
„Handwerk“ und „Persönlichkeit“ waren für Reinhardt oberste Prinzipien eines Theaterstudiums. Wien empfand er als optimalen Ort für sein Institut: Die Lebendigkeit der Theatertradition, das einzigartige Verhältnis zwischen Schauspielenden und Zuschauerinnen und Zuschauern galten ihm als Hauptpfeiler für ein ideales Studium. Unter Reinhardt wurde nicht nur „von oben nach unten“ unterrichtet. Auch Regiestudierende erarbeiteten bereits Inszenierungen am Schlosstheater.

In den Anfängen wurde noch eine Arbeitskleidung getragen, die der Maler und Bühnenbildner Alfred Roller entwarf. Sie sah wie eine „Ordenskleidung“ aus, wozu Reinhardts Diktum „Vergessen Sie nicht, dass Sie hier einem Orden beitreten“ passte. Reinhardt betonte damit einerseits die Hingabe an den Beruf, andererseits schärfte er ein elitäres Bewusstsein, das sich der Realität des Alltags überlegen fühlte.
Vertriebene Mitglieder
Die Ausstellung erzählt unter anderem von bedeutenden Lehrenden, die hervorragende Regisseure waren, über schauspielerische Erfahrung verfügten und im Wiener Theaterleben eine wichtige Rolle spielten. „Oft verschwiegen worden“ sei, so Roessler gegenüber ORF.at, „dass ein Großteil von ihnen nach der ‚Annexion‘ 1938 vertrieben wurde“. Emil Geyer, Lehrer und späterer Direktor des Seminars, wurde im KZ Mauthausen ermordet. Paul Kalbeck und Ernst Lothar mussten ins Exil flüchten, genauso wie viele jüdische Studierende.
„Manche von ihnen hatten später Erfolg in ihrem Exilland“, sagt Roessler, „etwa Martin Esslin, der in England bei der BBC die Dramaabteilung leitete und an der Stanford University lehrte, oder Kurt Reichert, der in Kalifornien als Professor für Sozialarbeit wirkte.“ Das Leben und die Leistung Einzelner hervorzuheben, sie aus ihrer Anonymität zu reißen, sei, so Roessler, nun Ziel der Ausstellung.

Frauen am Reinhardt-Seminar
Die schlichte, schön gestaltete Schau, die mit reichhaltigem Bildmaterial, Dokumenten und klugen Texten punktet, setzt auch einen Akzent auf die weiblichen Mitglieder des Hauses. Man erfährt etwa von Henny Pia Herzer, die Regie studierte und am Schlosstheater inszenierte. Sie erwarb sich während des Studiums auch Kenntnisse zu Bühnentechnik und Beleuchtung. 1938 floh Herzer ins Exil nach Schanghai und später nach Australien, wo sie eine Firma für Beleuchtungskörper aufbaute.
Gewürdigt werden auch Maria Becker, die im Exil zu einem wesentlichen Mitglied des Zürcher Schauspielhauses wurde, sowie die bekannte Sprechlehrerin Margit von Tolnai, die ebenfalls in die Schweiz emigrierte und später in Basel und Bern Phonetik und Sprecherziehung unterrichtete.
„Normalitätstheater“ in der NS-Zeit
Während des NS-Regimes wurde das Reinhardt-Seminar zu einer Institution, die auf Unterhaltung und Vorspiegelung von Normalität ausgelegt war. Der Unterricht wurde auf einem deutlich tieferen Niveau fortgeführt, die Identifikation mit Reinhardt fiel weg. Dazu zählt auch, dass sein Name getilgt wurde. Der ehemalige Schauspiel- und Regiestudent Hans Niederführ, Mitglied der NSDAP, hatte sich selbst nach der Entlassung der jüdischen Lehrenden zum Leiter erklärt.
Ausstellungshinweis
„Max Reinhardt Seminar 1928 bis 1945.“ Arena im Max Reinhardt Seminar, Besichtigung montags bis freitags nach Vereinbarung.
1940 wurde das ursprünglich nur im Schlosstheater angesiedelte Seminar auf das gegenüberliegende Palais Cumberland erweitert, das seitdem Sitz des Instituts ist. Das Max Reinhardt Seminar gehört heute zur Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Reinhardt-Kult
Die Ausstellung korrigiert auch den Reinhardt-Kult, der nach 1945 entstanden war und bis heute nachwirkt. Dieser wurde – neben Exilantinnen und Exilanten – oft von ehemaligen Nationalsozialisten getragen. „Diese schmückten sich mit einem toten Regisseur, um selbst Bedeutung zu erlangen und negierten seine Vertreibung. Dabei verschwand eine differenzierte Auseinandersetzung mit seinem Werk, ganz zu schweigen von der Beschäftigung mit dem Leben und den Leistungen der jüdischen Theaterleute, deren Namen oft nicht mehr genannt wurden“, so Roessler.
Der Schau geht es weder um Verklärung der Vergangenheit noch um Idealisierung, sondern um den Blick in jene Phase des Seminars, die ihren internationalen Ruf begründete. Nicht zuletzt treffen hier ausgewählte Zitate direkt in die Gegenwart. So das Künstlerlied des Reinhardt-Seminars, dessen Text von Kalbeck stammt: „Lasst uns verbunden sein, nicht bei den Hunden sein, die nach dem Wind ihre Nase drehn!“