Explosion auf dem Gelände des Asow-Stahlwerks in Mariupol (Ukraine)
Reuters/Ministry Of Internal Affairs Donetsk People’s Republic
Stahlwerk in mariupol

Erbitterter Kampf für symbolischen Sieg

Seit Wochen dauert der erbitterte Kampf um das Asow-Stahl-Werk in Mariupol schon an. Dabei hatte der russische Präsident Wladimir Putin am 21. April seinem Verteidigungsminister Sergej Schoigu vor laufenden Kameras den Befehl gegeben, die Erstürmung abzubrechen. Doch zuletzt wurden die Bombardements verstärkt, berichtet wurde vom Eindringen russischer Soldaten in den Komplex. Alles deutet darauf hin, dass Russland rasch einen symbolischen Sieg erringen will.

Am Freitag setzte das russische Militär nach ukrainischen Angaben seine Offensive auf das Stahlwerk in Mariupol fort. Die russischen Streitkräfte hätten „in einigen Gebieten mit Unterstützung der Luftstreitkräfte die Einsätze zur Übernahme der Kontrolle über die Fabrik wieder aufgenommen“, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit.

Russland hatte am Mittwochabend eigentlich eine dreitägige Feuerpause für Evakuierungseinsätze aus dem Industriekomplex angekündigt. Die Ukraine warf Russland jedoch vor, dagegen verstoßen zu haben. Der Kreml bestritt die Vorwürfe – obwohl auf Videoaufnahmen der Beschuss und Explosionen deutlich zu sehen waren.

Satellitenbild des Asow-Stahl-Werkes vom 2.5.2022 mit Schadensanalyse der UNO-Behörde UNITAR. Detailreicher Vollbildmodus mit Klick auf das Quadrat rechts unter der Zoom-Wippe im Bild.

Die Behörden in Mariupol warfen den russischen Streitkräften vor, ein Auto beschossen zu haben, das an Evakuierungsmaßnahmen beteiligt gewesen sei, hieß es. Dabei seien ein ukrainischer Kämpfer getötet und sechs weitere verletzt worden. In den vergangenen Tagen war es nach ukrainischen Angaben im Zuge von UNO-geführten Einsätzen gelungen, fast 500 Zivilpersonen aus der Stadt und aus dem Stahlwerk zu bringen. Weitere 50 wurden laut Vizeministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk am Freitag aus dem Industriekomplex geholt.

Unklare Situation im Stahlwerk

Am Donnerstag hatte es aus Kiew geheißen, russische Truppen seien auf das Gelände des belagerten Stahlwerks vorgedrungen. „Mit Unterstützung der Luftstreitkräfte hat der Gegner seinen Angriff mit dem Ziel erneuert, das Fabriksgelände unter seine Kontrolle zu bringen“, teilte der ukrainische Generalstab mit.

Unklar ist weiterhin, wie viele ukrainische Kämpfer sich im Stahlwerk verschanzt haben und wie viele Zivilisten ebenfalls dort ausharren. Unter dem Stahlwerk gibt es riesiges Gang- und Bunkersystem aus Sowjetzeiten.

Schon in den vergangenen Wochen hatte es immer dramatischere Hilferufe aus dem Stahlwerk gegeben: Nahrung und Trinkwasser würden zur Neige gehen, auch an Medikamenten fehle es. Zeitweise war auch die Kommunikation nach außen zusammengebrochen. Eine Aufgabe schlossen die ukrainischen Kämpfer dennoch kategorisch aus.

Erschütternde Schilderungen

Auch Zivilistinnen und Zivilisten, die in den vergangen Tagen über Evakuierungsaktionen das Stahlwerk verlassen konnten, beschrieben ein schockierendes Bild aus dem Inneren. „Wir standen unter ständigem Beschuss, schliefen in improvisierten Betten, wurden von den Explosionen zu Boden geworfen“, schilderte eine junge Mutter die Lage.

„Mütter, Kinder und Großeltern haben von dem Trauma erzählt, Tag für Tag unter unerbittlichem Beschuss und mit Todesangst zu leben“, berichtete der Ukraine-Beauftragte des UNO-Nothilfebüros (OCHA), Osnat Lubrani. Es habe im Stahlwerk kaum Wasser und Nahrungsmittel und nur völlig unzureichende Sanitäranlagen gegeben. Die Menschen seien durch die Hölle gegangen. Russland wirft der Ukraine hingegen vor, die Menschen als Schutzschilde in den verzweigten Kellern des Werkes teils gegen ihren Willen festgehalten zu haben.

Erfolg für 9. Mai gesucht

Am Wochenende hatte Russland erstmals größere Rettungsaktionen für Zivilisten aus dem Stahlwerk in Richtung ukrainisch gehaltenes Gebiet zugelassen. Beobachter sahen darin ein Zeichen, dass Russland eine Erstürmung des Geländes vorbereiten könnte. Nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten muss die russische Armee das aber mit hohen Verlusten an Soldaten, Material und Munition bezahlen – und das vor allem für einen symbolischen Sieg.

Schuss eines russischen Panzers in der Nähe des Asow-Stahlwerks in Mariupol (Ukraine)
Reuters/Alexander Ermochenko
Russischer Panzer nahe dem Stahlwerk

Schon seit Wochen heißt es, Russland wolle am 9. Mai, am Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland, einen Erfolg vorweisen. Nachdem sonstige Erfolge rar sind, könnte das eben die Einnahme des Stahlwerks und damit von ganz Mariupol sein. Nach Cherson im Süden wäre es die zweite Stadt, die Russland unter seine Kontrolle bringen kann.

Symbolische „Entnazifizierung“

Mariupol eignet sich als symbolischer Sieg insofern gut, da das Stahlwerk vor allem von Kämpfern des Asow-Regiments verteidigt wird. Die ehemalige Miliz ist zwar seit einigen Jahren in die ukrainische Nationalgarde eingegliedert, gilt aber als Sammelbecken von Rechtsextremen. Die Asow-Bewegung gehört zu den wichtigsten nationalistischen und rechtsextremen Gruppen der Ukraine. Die „Befreiung“ Mariupols würde daher in die Kreml-Rhetorik der „Entnazifizierung“ der Ukraine passen – auch wenn diese Parole laut Medienbeobachtern in Russland immer seltener verwendet wird.

Explosion am Gelände des Asow-Stahlwerks in Mariupol (Ukraine)
Reuters/Alexander Ermochenko
Immer wieder sind Rauchwolken über dem Gelände zu sehen

Parade auch in Mariupol?

Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak spekuliert, dass am Montag nicht nur in russischen Städten Feiern und Paraden abgehalten werden, sondern auch in Mariupol – und er befürchtet, dass die russischen Angreifer zu diesem Anlass ukrainische Gefangene aufmarschieren lassen könnten. Ähnlich waren bereits 2014 prorussische Separatisten in der Ostukraine vorgegangen, nachdem sie die Stadt Donezk eingenommen hatten.

„Sie haben Soldaten der ukrainischen Armee durch die Straßen marschieren lassen, man hat sie mit Müll beworfen“, sagte Podoljak mit Blick auf die Ereignisse 2014 am Freitag. „Acht Jahre später hat der Kreml beschlossen, das am 9. Mai in Mariupol mit Zivilisten in Militäruniform nachzuspielen.“ In der Umgebung von Mariupol wurden zudem inzwischen die auf Ukrainisch und Englisch beschrifteten Straßenschilder durch russische ersetzt.