Der französische Präsident Emmanuel Macron bei einer Rede auf der Zukunftskonferenz in Straßburg
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Zukunft Europas

EU-Spitzen für Reform und Vertragsänderung

Bürgervertreterinnen und Bürgervertreter haben am Montag in Straßburg mehr als 300 Maßnahmen für eine bürgernähere Europäische Union eingebracht. Ein Jahr lang wurde im Zuge der Zukunftskonferenz darüber beraten, wie das Leben in Bereichen wie Gesundheit, Klima, Bildung, Migration, Jobs und Wirtschaft verbessert werden könnte. EU-Spitzen zeigten sich Reformen gegenüber offen. Aus Österreich kam neben Lob aber auch Kritik.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte die Zukunftskonferenz angestoßen, um die EU nach dem Brexit und der Coronavirus-Pandemie neu aufzustellen. Bei einer Zeremonie im Europaparlament in Straßburg sagte er: „Ich befürworte eine institutionelle Reform.“ Bereits beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni solle darüber diskutiert werden. Frankreich hat noch bis Ende Juni den Ratsvorsitz inne.

Ursula von der Leyen sagte, „wenn nötig“ sollten die EU-Verträge geändert werden, wie es einige Vorschläge der Abschlusserklärung der Bürgervertreter vorsehen. Das gilt etwa für die Forderungen nach erweiterten Kompetenzen der EU im Gesundheitsbereich oder einem Vorschlagsrecht des Europäischen Parlaments für Gesetze. Vertragsänderungen gelten aber als äußerst kompliziert und langwierig.

Von der Leyen: EU muss schneller werden

Zwei Jahre lang haben Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa im Rahmen einer großen Zukunftskonferenz Vorschläge für eine neue EU ausgearbeitet. Dafür müssen nicht nur EU-Verträge geändert werden, wie unter anderem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betont, sondern die EU auch schneller werden.

Einstimmigkeit in Schlüsselfragen „nicht mehr sinnvoll“

Von der Leyen befürwortet nach eigenen Worten eine Ausweitung der Mehrheitsbeschlüsse zwischen den 27 Mitgliedstaaten. Entscheidungen mit dem Einstimmigkeitsprinzip machten „in einigen wichtigen Bereichen einfach keinen Sinn mehr, wenn wir schneller vorankommen wollen“, sagte von der Leyen. Macron sagte, einstimmige Entscheidungen in Schlüsselfragen seien nicht mehr sinnvoll, wenn die EU sich schneller entwickeln wolle.

Ein Jahr Zukunftskonferenz

Im Rahmen der Zukunftskonferenz hatte es rund ein Jahr regionale und nationale Diskussionen gegeben, online und offline, mit Spitzen- und Lokalpolitikern. Mehrmals trafen sich Abgeordnete des Europaparlaments und der nationalen Parlamente, Vertreter der EU-Regierungen sowie der EU-Kommission mit zufällig ausgewählten Bürgern. Am Ende einigte man sich auf 49 Vorschläge und mehr als 300 Maßnahmen zur Zukunft der EU.

Von der Leyen will Bürgerinnen und Bürger bei Gesetzesvorhaben künftig stärker einbinden. Sie werde vorschlagen, Bürgerforen Zeit und Mittel zu geben, damit diese Empfehlungen abgeben könnten, bevor wichtige Gesetzesvorschläge vorgelegt würden, sagte sie. „Denn Demokratie endet nicht mit Wahlen, Konferenzen oder Übereinkommen.“ Sie müsse jeden Tag weiterentwickelt, gepflegt und verbessert werden. „Stillstand ist Rückschritt“, so von der Leyen.

Edtstadler enttäuscht

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) zeigte sich indes enttäuscht über das Ergebnis der Zukunftskonferenz, dabei müsse die EU „umgehend wesentliche Reformen einleiten“. „Unser Fortschritt und unser europäisches Lebensmodell sind gefährdet“, sagte sie am Montag bei der Präsentation des österreichischen Aktivitätenberichts mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie Inflation und die Unterbrechung von Lieferketten.

Ursula Von der Leyen zusammen mit Emmanuel Macron
AP/Jean-Francois Badias
Macron und von der Leyen sind offen für Änderung der EU-Verträge und eine Modernisierung der EU

Große Worte von Van der Bellen

Anders Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Er würdigte den Zusammenhalt der Europäer, gerade „in diesen dunklen Tagen leuchten die Sterne der Europäischen Union besonders hell“. Er zeigte sich überzeugt, dass Europa seine demokratischen Werte und seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen verteidigen werde.

„Gerade jetzt müssen wir mehr denn je zuvor unsere liberale Demokratie hochhalten. Wir müssen gemeinsam das schätzen und verteidigen, was wir durch viele Jahrhunderte gemeinsamer leidvoller Geschichte errungen haben.“ Durch die Schrecken des Krieges werde das wieder klarer. Die nächsten Jahre würden zu dieser Klarheit beitragen.

„Europa heißt Frieden“

Auch EU-Kommissionsvertreter Martin Selmayr rief dazu auf, nicht zu vergessen, was die Europäer von Putin unterscheide. „Europa ist die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren.“ Europa stehe für Aufbau und nicht für Zerstörung. „Europa heißt Frieden und nicht Krieg.“

SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Andreas Schieder, forderte weiter europäische Geschlossenheit gegenüber Russland. Der russische Präsident Wladimir Putin fürchte nichts mehr „als die offene und demokratische Gesellschaft. Sie ist die DNA Europas“.

Personen vor dem Hauptquartier der Europäischen Komission in Brüssel
Reuters/Francois Lenoir
Wie kann die EU besser, demokratischer und effizienter werden? Dieser Frage stellten sich ein Jahr lang EU-Bürgerinnen und -Bürger.

Grüne sehen Europa an „Wendepunkt“

Die Grünen sehen Europa an einem Wendepunkt, wie Europasprecher Michel Reimon betonte. Putin versuche seit Jahren gemeinsam mit Europas Nationalisten den Kontinent zu destabilisieren und die europäische Gemeinschaft zu spalten. „Gerade die letzten beiden Jahre haben gezeigt: Er ist damit gescheitert“, so Reimon, der forderte, die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger auch umzusetzen.

NEOS nahm den Europatag zum Anlass, sich hinter die im EU-Parlament artikulierte Idee eines Verfassungskonvent zur Weiterentwicklung der EU zu stellen. Es brauche mehr Handlungsfähigkeit in der Union, in wesentlichen Fragen sollte daher das Einstimmigkeitsprinzip abgestellt werden, forderten Parteichefin Beate Meinl-Reisinger und EU-Mandatarin Claudia Gamon in einer Pressekonferenz. Das Ziel: Die „Vereinigten Staaten von Europa“.

Für FPÖ-Europasprecherin Petra Steger seien die „Vereinigten Staaten von Europa“ „vollkommen absurd“ und „zutiefst österreichfeindlich“. Auch die Zukunftskonferenz selbst sei eine „Propagandaveranstaltung der EU“. Dominiert hätten EU-Lobbygruppen und von der EU finanzierte Experten, die Schlussfolgerungen geliefert hätten, die einem „abgehobenen Utopieprogramm von EU-Zentralisten“ gleichkämen.

Radfahrerinnen demonstrieren am Womens Day vor dem EU-Parlament in Brüssel
APA/AFP/Aris Oikonomou
Mehr Macht für das EU-Parlament und weniger Vetorechte für einzelne Mitgliedstaaten: Bürgerinnen und Bürger haben konkrete Vorstellungen für eine Reform

Kritik an Forderungen

Zentrale Frage ist nun, wie die EU-Institutionen auf die Vorschläge reagieren. In einer gemeinsamen Erklärung hatten sich die wichtigsten politischen EU-Institutionen zwar dazu verpflichtet, den Empfehlungen der Konferenz grundsätzlich Folge zu leisten. Zeitgleich zur Ankündigung Macrons veröffentlichten 13 EU-Staaten aber bereits ein Papier, in dem sie sich gegen einen Verfassungskonvent aussprachen.

Primosch (ORF) über den Europatag

ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch berichtet aus Straßburg über den Europatag.

„Wir haben bereits ein Europa, das funktioniert“, hieß es in der Stellungnahme. Es gebe keinen Grund, institutionelle Reformen durchzuführen, um Ergebnisse abzuliefern. „Wir erinnern daran, dass Vertragsänderungen nie ein Ziel der Konferenz waren.“

Das Papier wurde vor allem von nördlichen und östlichen EU-Ländern unterstützt. Konkret stehen dahinter Bulgarien, Kroatien, die Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Malta sowie Polen, Rumänien, Slowenien und Schweden. Dass die EU zu einer Art Vereinigte Staaten von Europa wird, in dem einzelne Länder wie Polen oder Ungarn Entscheidungen nicht mehr alleine blockieren könnten, ist mit Blick auf das Papier eher unrealistisch.