Bücher
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Sommerbücher

Sachbücher für den Urlaub

Verstehen, warum es immer noch Krieg gibt. Tipps zum richtigen Reisen. Eintauchen in die Welt der römischen Kaiser. Die Sachbücher der Saison liefern Erklärmodelle und Denkanstöße. Und für alle, die im Sommer am liebsten ins Wasser hupfen, lockt auch eine Kulturgeschichte des kühlen Nasses.

Zu den Wurzeln des Ukraine-Krieges

Serhii Plokhy lehrt als renommierter Historiker in Harvard, seine letzte Essaysammlung zur ukrainischen Geschichte hat es durch den Angriffskrieg Russlands zu plötzlicher Brisanz gebracht. Genau und fesselnd durchmisst er Stationen der Geschichte von den Kosaken und der polnisch-litauischen Adelsrepublik über eine Analyse des Holodomor bis hin zur Krim-Annexion 2014. Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar neu geschriebene Teile gehen explizit auf Putins Thesen „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ ein. Mit wohl keinem anderen Buch lassen sich momentan die historischen Wurzeln des gegenwärtigen Konflikts besser durchmessen. (Florian Baranyi, ORF.at)

Serhii Plokhy: Die Frontline. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer u. a. Rowohlt, 543 Seiten, 30,90 Euro.

Der Krieg und die Verdrehung aller Logiken

In der teils erregten Debatte zum Für und Wider über eine Beteiligung am Ukraine-Krieg hat die Autorin Marlene Streeruwitz eine grundsätzliche Betrachtung über die Auswirkungen von Kriegslogiken auf das Leben verfasst und ein „Handbuch gegen den Krieg“ vorgelegt. In kurzen klaren Kapiteln zeigt sie, wie der Krieg alle Logiken verdreht – ja alle, egal wie sie denken mögen, auch in den scheinbar sicheren Zonen des Friedens mit in die Logiken des Krieges zieht. „Krieg ist gemacht“, erinnert sie und rät, den Narrativen über den Krieg, egal von welcher Seite sie kommen möchten, zu misstrauen: „Wir werden alle in diesen Missbrauch durch den Krieg mit hineingezogen. (…) In der Perversion des Krieges zählen all unsere kleinen Bemühungen des Helfens dann eben auch zur Beute der Kriegsführenden. (…) Das ist die äußerste Form der Erpressung der Wohlmeinenden durch die Gewalttätigen.“ (Gerald Heidegger, ORF.at)

Marlene Streeruwitz: Handbuch gegen den Krieg. Bahoe Books, 104 Seiten. 19,00 Euro.

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Wie wir uns das Reisen neu erfinden können (und müssen)

Maria Kapeller ist Reisejournalistin – sie betreibt das Magazin Kofferpacken.at – und hat einige Flugmeilen auf dem Buckel, ihre letzten großen Reisen aber alle auf dem Land- und Seeweg bestritten. Sie kämpft auf mehreren Ebenen für ein nachhaltiges und solidarisches Reisen. Nun ist ihr lesenswertes Buch „Lovely Planet“ erschienen, das die Skurrilität der Welt des Reisens, wie wir sie kennen (z. B. Reisen für das perfekte Insta-Foto) humorvoll und kenntnisreich herausarbeitet und gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Ein anderes Reisen ist möglich. Und extrem befriedigend. Dieses Buch macht Lust darauf. (Simon Hadler, ORF.at)

Maria Kapeller: Lovely Planet. Kremayr & Scheriau, 224 Seiten, 23 Euro.

Liebeserklärung an das Schwimmen

Ob im Meer, im Bergsee oder im Swimmingpool: In „Warum wir schwimmen“ erforscht Bonnie Tsui die titelgebende Frage, wie der Mensch trotz mangelnder biologischer Veranlagung (auch) zum Wassertier wurde. Dabei taucht sie in die verschiedensten Epochen und Kulturen ein und erzählt neben spannenden historischen und wissenschaftlichen Details, wie das Schwimmen ihr nicht nur einmal durch die Untiefen des Lebens geholfen hat. Ein Buch für Fans des kühlen Nasses und alle, die es noch werden wollen. (Romana Beer, science.ORF.at)

Bonnie Tsui: Warum wir schwimmen. Aus dem Englischen von Susanne Dahmann. HarperCollins, 320 Seiten, 22,95 Euro.

Dunkle Wolken über der Cote d’Azur

Die 1930er Jahre an der französischen Riviera: In ihrer mondänen Villa empfängt Modedesignerin Coco Chanel Politiker, Künstlerinnen und Stars – von Winston Churchill über Bertolt Brecht bis Salvador Dali. Doch mit Glanz und Glitzer ist es vorbei, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. An der Cote d’Azur bricht ein Durcheinander aus, das Anne de Courcy auf Basis akribischer Recherchen anekdotenreich nachzeichnet – im Mittelpunkt Coco Chanel, die nach der Befreiung von Paris als Nazi-Agentin verhaftet wird. (Romana Beer, science.ORF.at)

Anne de Courcy: Coco Chanels Riviera. Aus dem Englischen von Elke Link. Insel Verlag, 383 Seiten, 25,95 Euro.

Ein Bild von einem Kaiser

Nero, Augustus, Julius Cäsar: Römische Herrscher prägten nicht nur die Politik der Antike, ihre Bilder, Statuen und Geschichten hatten auch immensen Einfluss auf Kunst, Politik und Gesellschaft folgender Jahrhunderte. Wie zwölf dieser Herrscher Europa und der Welt ihren Stempel aufdrückten, beschreibt die britische Altertumsforscherin Mary Beard in „Zwölf Cäsaren“. Nicht ausgelassen werden hier die Frauen, die als Mütter (Agrippina!), Ehefrauen und Töchter der Kaiser erheblichen Einfluss ausübten. Auch Skandale und Skurriles kommen nicht zu knapp. Beards Witz und ihr enormes Wissen machen den reich bebilderten Band zu einem Vergnügen. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Mary Beard: Zwölf Cäsaren. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Propyläen, 528 Seiten, 37,95 Euro.

Die Erinnerung der Welt

Nicht weniger als die Geschichte der Welt in Büchern will die Antikenforscherin Irene Vallejo erzählen, und das gelingt ihr vortrefflich: „Papyrus“ folgt den Spuren der ersten Schriften und ihrer Trägermedien und nimmt dabei die Geschichte der Antike (und darüber hinaus) mit. Dazu fasziniert sie mit Details und Anekdoten: So erfährt man, welches Buch unter dem Kopfpolster Alexanders des Großen lag, welcher Schachzug zur Erfindung des Pergaments führte und was sich in geheimen Bunkern unter der Bibliothek von Oxford verbirgt. Ein Muss für historisch interessierte Bibliophile. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Irene Vallejo: Papyrus. Aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby. Diogenes, 752 Seiten, 28,95 Euro.

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Warum wir Insekten retten müssen

Fünfzig bis neunzig Prozent der Insekten sind seit den 70er Jahren verschwunden, täglich sterben Hunderte Arten aus. Doch 87 Prozent aller Pflanzen – ja, auch Obst und Gemüse! – sind auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. In „Stumme Erde“ schildert Dave Goulson eindrücklich, welche Konsequenzen das Insektensterben für unsere Lebensräume hat. Zugleich weiß der britische Biologe mit eindringlichen Schilderungen für alles Kreuchende und Fleuchende zu begeistern. Etwa für den Nachtfalter, der mit seinem Rüssel salzige Tränen unter den Augenlidern schlafender Vögel hervorholt. (Paula Pfoser, ORF.at)

Dave Goulson: Stumme Erde. Warum wir die Insekten retten müssen. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Hanser, 368 Seiten, 25,00 Euro.

Jagen, Opfern, Schlachten

Der Fleischkonsum nimmt weltweit zu, und zwar so schnell, dass wir uns mit dem Hunger danach schweren ökologischen Schaden einhandeln. Thomas Macho blickt hinter die Daten und spürt den großen kulturellen Formationen nach, die noch heute mitschwingen, wenn wir Tiere essen: Jagd, Ritus und industrieller Ernährungskomplex. „Offenkundig sind wir dabei, in einer Art von bewusstlosem Kannibalismus unsere mögliche Zukunft auf diesem Planeten zu verzehren“, lautet nur einer von etlichen Sätzen, die auf den Punkt bringen, was die Folgen unseres Handelns sind. Die Gründe werden von Macho tiefschürfend und elegant analysiert – und dabei werden Zusammenhänge deutlich, die in Staunen versetzen. (Florian Baranyi, ORF.at)

Thomas Macho: Warum wir Tiere essen. Molden, 128 Seiten, 22,00 Euro.

Selbstoptimierung in der Renaissance

Selbstoptimierung und Präsentation des geschliffenen Ideal-Ichs sind nicht erst seit Selfie und Co. en vogue. Bereits ab dem 14. Jahrhundert wurde kräftig am eigenen Image und damit an der Verbesserung der erhofften Außenwahrnehmung getüftelt, wie das Buch „Die Geburt der Mode – eine Kulturgeschichte der Renaissance“ der deutschen in Cambridge lehrenden Historikerin Ulinka Rublack zeigt. Und das Herausputzen will gekonnt sein. Als Instrument auch für die soziale Distinkion bildeten sich damals eben die Geschmackdifferenzen der Mode aus. Der Wettbewerb der persönlichen Eitelkeiten war eröffnet – mit Konsequenzen bis in die heutige Zeit. (Peter Bauer, ORF.at)

Ulinka Rublack: Die Geburt der Mode. Eine Kulturgeschichte der Renaissance. Aus dem Englischen von Karin Schuler. Klett Cotta, 536 Seiten, 49,95 Euro.

Von Gianna Nannini bis Amy Winehouse

Musikerinnen aus verschiedenen Jahrzehnten widmet sich der Sammelband „These Girls, too: Feministische Musikgeschichten“. Darin gibt es Porträts von der Italo-Pop-Legende Gianna Nannini und zeitgenössischen Acts wie dem österreichischen Indie-Trio Dives zu lesen. Besonders interessant ist der Text von Kersty Grether über Amy Winehouse, der unter anderem den streitbaren Umgang diverser Boulevardmdien mit den Suchtproblemen der britischen Soul-Sängerin einordnet. Der dezidiert weibliche Blick auf die ansonsten oft männlich gelesene Pophistorie ist das gewinnbringende Element dieses Nachfolgers zu „These Girls“, in dem bereits 2019 zahlreiche Musikerinnen porträtiert wurden. (Florian Kölsch, für ORF.at)

Juliane Streich (Hg.): These Girls, too. Feministische Musikgeschichten. Ventil Verlag, 304 Seiten, 20,60 Euro.

Das Recht auf Sex

Feministische Bücher über Sex sind heuer gleich mehrfach erschienen, darunter Laurie Pennys Rundumschlag „Sexuelle Revolution“, Katherine Angels „Morgen wird Sex wieder gut“ und „Freiheit“ der US-Autorin Maggie Nelson („Argonauten“). Die vielleicht spannendste Neuerscheinung stammt von der in Oxford lehrenden Philosophin Amia Srinivasan, die sich in „Das Recht auf Sex“ die zeitgenössischen Debatten vorknöpft. Pornografie und Prostitution, Transfeindlichkeit und das Phänomen der Incels (englisch für unfreiwillig zölibatär), Konsens beim Sex und die Frage eines angeborenen Begehrens – gut lesbar, analytisch brillant und bisweilen provokant verhandelt. (Paula Pfoser, ORF.at)

Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Anne Emmert und Claudia Arlinghaus. Klett-Cotta, 320 Seiten, 24,00 Euro.

Ein Ottomotor für den Mann

Typisch Frau, typisch Mann: Geschlechterstereotype ver- und behindern Innovationen, sagt Katrine Marcal. So hätte sich etwa das Elektroauto schon Anfang des 20. Jahrhunderts durchgesetzt, wäre es nicht als „Frauenauto“ – mit eingebauten Kristallvasen – vermarktet worden. Mit spannenden Anekdoten untermauert die schwedische Journalistin auf unterhaltsame Weise ihre These, dass die Technologiegeschichte anders verliefe, wenn Frauen mehr Unterstützung und Kapital für ihre Ideen fänden. (Romana Beer, science.ORF.at)

Katrine Marcal: Die Mutter der Erfindung. Aus dem Englischen von Gesine Schröder. Rowohlt Berlin, 304 Seiten, 22,95 Euro.

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Es werde Licht

Über die Entstehung und was man alles mit Licht machen kann, schreibt der französische Nobelpreisträger Serge Haroche in seinem Buch „Licht – eine Geschichte“. Und die Beschäftigung mit Licht ist so alt wie die Menschheit. Einerseits bleibt der Physiker Haroche seinem Metier treu und erklärt ausführlich das Licht von seiner Entstehung bis zum modernen phyikalischen Verständnis. Andererseits führt Haroche durch die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Licht und die daraus resultierenden Auswirkungen. Und auch Mythen kommen in dem verständlich und ausführlich geschriebenen Buch nicht zu kurz. (Peter Bauer, ORF.at)

Serge Haroche: Licht. Eine Geschichte. Aus dem Französischen von Ursula Held. Klett-Cotta, 464 Seiten, 36 Euro.

Das Neue als Sache der Kunst

Kunst, genauer gesagt deren avantgardistische Teile, war immer Motor des gesellschaftlichen Fortschritts, so lässt sich die Grundannahme Robert Misiks zusammenfassen. Diese beschreibt er anhand einer 200-jährigen Durchmessung künstlerischer Positionen, von Honore de Balzac, Heinrich Heine, Charles Baudelaire, Pablo Picasso, Marcel Duchamps und Bertolt Brecht, der vom „großen Beginnergefühl“ sprach. Bis zu Elfriede Jelinek, Soap & Skin und Milo Rau führen Misiks Betrachtungen, die zugleich eine kompakte Geschichte der Moderne und einen kraftvollen Rettungsversuch des utopischen Denkens darstellen. Denn „Pessimismus ist konterrevolutionär“ – oder: man muss schon an die Kunst glauben, damit sie etwas verändern kann. (Florian Baranyi, ORF.at)

Robert Misik: Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution. Suhrkamp, 284 Seiten, 18,50 Euro.

Wider gängige Gewissheiten

670 dicht beschriebene Seiten, die mit gängigen Gewissheiten aufräumen: Das letzte, monumentalgeschichtlich angelegte Werk des 2021 verstorbenen Anthropologen David Graeber, verfasst mit dem Archäologen David Wengrow, wurde im englischen Original stark diskutiert und hymnisch gefeiert. „Anfänge“ demontiert die Vorstellung einer Fortschrittslogik und die ideengeschichtlich westliche Verortung von Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Gut lesbar und packend geschrieben zeichnet das Buch (Früh-)Geschichte als ein dauerndes „Ausprobieren“ verschiedener Zivilisationsformen, Gerätschaften und Geschlechterverhältnisse nach – von Südamerika bis Asien. (Paula Pfoser, ORF.at)

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm u. a. Klett-Cotta, 672 Seiten, 28,95 Euro.