Sibylle Bergs „RCE“

Aufstand der Nerds gegen das System

Mit ihrem Roman „GRM“ hat Sibylle Berg 2019 einen Verkaufsschlager gelandet. Ging es darin um eine überzogene Zukunft in totaler Überwachung, legt die für ihren bitterbösen Ton bekannte Autorin jetzt nach: „RCE“ erzählt atemlos an den sozialen und ökologischen Bruchlinien der Gegenwart entlang und übersetzt diese abermals in eine nahe Zukunft, in der eine Gruppe Nerds den Aufstand probt.

Mit lakonischer Distanz beobachtet Berg nun schon seit Jahrzehnten die Gegenwart, betreibt dabei belustigt Bindungsanalysen konturloser Figuren, die sich durch eine zur neoliberalen Fitnessveranstaltung verkommenen Welt quälen, die wenig Mitleid für sie übrig hat.

Schon in ihrem Debüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (1997) stellte sich eine Figur die Frage, „ob es Menschen gibt, die sich nicht die meiste Zeit ablenken müssen, um nicht vor Langeweile zu sterben“. Auf die Spitze getrieben hat die deutsch-schweizerische Autorin dieses Projekt, das man durchaus als Kulturpessimismus mit erfrischender Schnauze beschreiben kann, mit „GRM. Brainfuck“, ihrem Überraschungsbestseller mit mehr als 100.000 verkauften Exemplaren.

Bitterböse Geschichte der Gegenwart, Teil zwei

„Es war die Zeit, in der Facebook groß wurde. In der viele ältere Leute dachten, das Internet bestünde nur aus dieser Idiotenplattform. Es war die Zeit der massenhaften Falschmeldungsverbreitung, der Massenmanipulation“, las man dort und bekam die bitterböse Geschichte der Gegenwart präsentiert, verpackt in eine Zukunftsvision rund um neue Elendsviertel in England und wütende Jugendliche aus dieser versinkenden Welt: „Die Menschen wurden unglaublich schnell süchtig nach den Likes ihrer Unbekannten. Die Jugendlichen wurden noch schneller abhängig von einer Erregung, die aus der Mischung von Mobbing, Gewalt, Sex und Bullshit entstand. Es war die Zeit, in der zur realen Grausamkeit der Menschen noch die virtuelle hinzugefügt wurde.“

Sybille Berg
ORF
„Eigentlich sind sich alle einig, dass es zu spät ist“, sagt Autorin Sibylle Berg über die von Krisen bestimmte Gegenwart

Wie „GRM“ besteht „RCE“, die Abkürzung für „Remote Code Execution“, aus einer Aneinanderreihung von Schlaglichtern auf Dutzende Figuren. Diese werden jeweils mit einem kurzen Steckbrief eingeführt, der ihren Nutzen für das übersteigerte „neue Zeitalter, in dem Konsumenten kaum mehr benötigt wurden“, umreißt. „Gesundheitszustand: unter 200 Schritte täglich, Sexualverhalten: keine Fortpflanzung geplant, Ökobilanz: Stromverbrauch über der zugelassenen Höchstmarke“, heißt es da etwa.

„Wie kann ich diese verdammte Welt retten?“

Der fast zynische Blick, der aber immer wieder zum lauten Aufwachen zwingt, ist Bergs erzählerisches Kapital. „Eigentlich sind sich alle einig, dass es zu spät ist“, sagte die Autorin im ORF-Interview über den Zustand der Gegenwart.

Letztendlich ist ihre Literatur aber ein hintersinniges Gedankenexperiment, das sich die Frage stellt, wie einem solchen Pessimismus beizukommen sei: „Der Zustand, in dem wir uns befinden, der ist so ein bisschen ohnmächtig und paralysiert, weil du hast so viele Brandherde, dass du nicht weißt als einzelner Mensch, wo soll ich löschen. Also wie kann ich diese verdammte Welt retten?“, erklärte Berg ihren Ausgangspunkt.

Verhängnisse, überall

Neben die Beobachtung der Fetischisierung von „Exklusivmarken von Walmart, Nike, Starbucks, ExxonMobil, Lidl und Amazon, Amazon, Amazon“ tritt ein Trick, der beim Lesen einen ungeheuren Sog entwickelt: Jede noch so progressive Idee, seien es Feminismus, Ökologie oder Postkolonialismus, wird in das Überwachungssystem integriert, jede Revolution frisst ihre Kinder, und überall lauern Verhängnisse.

Cover „RCE“ von Sibylle Berg
Kiepenheuer&Witsch
Sibylle Berg: „RCE“, Kiepenheuer & Witsch, 695 Seiten, 26,95 Euro

Das „neue Zeitalter“ wirkt durch diese ins Negative prophezeiten Versatzstücke vertraut und unheimlich. Etwa wenn erzählt wird, wie sich die „BewohnerInnen des ehemals reicheren Nordwestens Europas“ angesichts nicht näher benannter großer Umwälzungen verhielten: Sie warteten „in stummer Ungläubigkeit auf ein Wunder“ und streamten Serien.

Daten erzählen

„RCE“ setzt sich aus einem langen Textstrom zusammen, der Eindrücke von wenigen Gewinnern – jene von den großen Banken, Investmentfirmen und Waffenproduzenten profitieren – und vielen Verlierern mehr montiert als erzählt. Wer fein entwickelte psychologische Figurenzeichnung sucht, wird hier jedenfalls nicht fündig, vielmehr versucht sich Berg an einem literarischen Projekt, das der Reihe nach Datensätze abspult.

Dass mitten in diesem Datenhaufen eine Gruppe von sechs jugendlichen Hackern gegen das System opponiert, könnte man als eigentliche Handlung dieses Pageturners bezeichnen – wenn es denn um eine Handlung im herkömmlichen Sinn ginge. Wer denn eigentlich diese Geschichte überblickt und davon erzählt, erweist sich in „RCE“ als die Frage, die auf die Spur dessen führt, was Berg eigentlich vorführt: Es könnte sich hier um die Erzählung einer künstlichen Intelligenz handeln, die von Menschen bekämpft wird und die davon erzählt, um zu einer Lösung zu gelangen. Auch Lösung darf man in „RCE“ keine erwarten – ist die Fortsetzung zu „GRM“ doch als Mittelstück einer Trilogie konzipiert, auf deren abschließenden Teil man wohl noch einige Zeit warten muss.