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die Zweifel im Westen

Längerer Krieg, breitere Debatten

„Über das kurze Gedächtnis heutiger Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden“, meinte der deutsche Philosoph Jürgen Habermas jüngst. Der Ukraine-Krieg, den Russland nicht als solchen bezeichnet, wird nach allgemeiner Einschätzung länger dauern. Das könnte Debatten darüber abkühlen, grundsätzlicher machen, aber auch noch mehr in die Breite ziehen. „In der Perversion des Krieges zählen alle Bemühungen des Helfens auch zur Beute der Kriegsführenden“, versucht die Autorin Marlene Streeruwitz gerade eine grundsätzlichere Betrachtung der jetzigen Situation.

Brief, Gegenbrief, dritter Brief – eine Debatte geht um im Westen Europas, der die scheinbare Eindeutigkeit der Haltung seit dem Überfall auf die Ukraine in breitere Felder trägt. Die Friedensbewegung ist retour, der Antiamerikanismus auch. Es sind Vergleiche im Feld, ob treffend oder nicht. Vorwürfe der Kriegstreiberei und der naiven Kriegsgegnerschaft stehen ebenso im Raum.

Beim Blick auf das Geschehen in der Ukraine zeigt sich: Ein rasches Ende der Konflikte ist nicht in Sicht – gerade auch seit der mit einigem Vorabgetöse erwarteten Rede des russischen Staatschefs Wladimir Putin vom 9. Mai, die eben nicht durch die vielerorts erwartete verschärfte Kriegsrhetorik auffiel. Putin, so die Einschätzung vieler Analysten, setze auf einen längeren Krieg und, damit verbunden, wie zuletzt etwa die „Frankfurter Rundschau“ („FR“) schrieb, „eine sinkende Entschlossenheit des Westens“. Auch bei den Debatten zum Verlauf des Krieges könnte das Meinungsbild breiter werden.

Erweiterte Debatte schon seit über einem Monat

Stimmen, die von der eindeutigen Pro-Ukraine-Haltung abrieten, waren ja schon vor der Brief-Gegenbrief-Kontroverse zu vernehmen. Bereits Mitte April konstatierte der Schriftsteller Christian Baron, „die Gelassenheit“ sei den intellektuellen Debatten seit dem russischen Angriff auf die Ukraine abhanden gekommen: „Es regiert der glühende, zornige, brennende Ton.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sich schon der Sozialpsychologe Harald Welzer im „Stern“ darüber erschreckt gezeigt, „wie rasend schnell ein Narrativ aktivierbar ist, das der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg“ entstamme. Und der in allen Feldern nie um eine Meinung verlegene Richard David Precht hatte sich da ebenso schon eine Abfuhr für seine Aussagen geholt. „Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch die Pflicht zur Klugheit, wann man sich ergeben muss“, lautete Prechts Aussage.

Tatsächlich war also gerade im Feld der Eliten das Meinungsklima zur Ukraine nicht so eindeutig, wie die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer das zuletzt im Ansinnen für das Verfassen des Briefes in der „Emma“ auch gegenüber dem ORF argumentierte. Blickt man auf die Rückläufer des zuletzt veröffentlichten Beitrages auf ORF.at, so scheint sich die überwiegende Mehrheit der Reaktionen nicht im Feld Schwarzers zu bewegen – allerdings wurde auch der Autor hier zur Versachlichung des Tones angehalten.

Hat der Pazifismus ausgedient?

Dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz geht der Lesestoff derzeit nicht aus: Letzte Woche erreichte ihn ein offener Brief von namhaften Intellektuellen und Kulturschaffenden, darunter Alice Schwarzer, Peter Weibel, Lars Eidinger und Juli Zeh. Sie sprechen sich gegen Waffenlieferungen für die Ukraine aus, in der Hoffnung, so eine weitere Eskalation und einen in der Folge drohenden Weltkrieg zu verhindern. Ein medialer Sturm der Entrüstung brach über Schwarzer und Co. herein. Der Vorwurf: Man würde die Ukraine indirekt zur Kapitulation auffordern.

Drei Publikationsschienen neben den Erregungen

Im Debattenfeld zwischen den Briefen, um es einmal so zu nennen, fallen drei Tendenzen auf:

  • Erstens Publikationen, die sich im Bereich schnellen Faktencheckens versuchen – exemplarisch dafür der Ex-„Standard“-Chefredakteur Gerfried Sperl, der sich in dem Band „Putins Krieg gegen Europa“ (gemeinsam mit der Plattform Dossier) am raschen Faktencheck zum Thema Putin und NATO-Osterweiterung versuchte.
  • Zweitens Augenzeugenberichte aus den Gebieten des Krieges, die der Analyse das Moment der persönlichen Erfahrung gegenüberstellen. Das passiert, wie auch hier auf ORF.at gezeigt, in allen Mediengattungen, nicht nur in schriftlicher Form. „Das ist das echte Leben. Das ist kein Film. Oder wie sich das Leben verändern kann“, liest man in dem story.one-Band „24. Februar“, der auf dem TikTok-Feed der Ukrainerin Valeria Schaschenok (@valerisssh) basiert.
  • Und schließlich gibt es die Metaanalysen, die vom jetzigen Krieg ins Grundsätzlichere blicken wollen. Bereits am 28. April veröffentlichte Jürgen Habermas in der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) eine grundsätzliche Auseinandersetzung rund um die Themen „Krieg und Empörung“.

Der Westen könne im Moment nur zwischen zwei Übeln, „der Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum Dritten Weltkrieg“, wählen. Aus dem Kalten Krieg, so Habermas, habe man die Lehre ziehen müssen, „dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in einem vernünftigen ‚Sinn‘ gewonnen werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts“ – der Konflikt könne, so Habermas mit Rückgriff auf das Feld der Pragmatik, „bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss“ beendet werden.

Texte zur Debatte

  • Jürgen Habermas: Krieg und Empörung. „SZ“, 28.4.2022.
  • Marlene Streeruwitz: Handbuch gegen den Krieg. Bahoe Books.
  • Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen. Reclam.
  • Valeria Shashenok: 24. Februar … und der Himmel war nicht mehr blau. Story.one.
  • Gerfried Sperl: Putins Krieg gegen Europa. Phoenix/Selbstverlag.

Habermas: Ein Generationenthema

Habermas konstatierte im Umgang mit diesem Krieg jedenfalls einen Riss zwischen den Generationen. Da die Jungen, die den Eindruck erweckten, „als habe sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen“ – mit einer jungen Außenministerin als „Ikon“, die „der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt“ gegeben habe.

Der Kern des Konflikts liegt bei Habermas in der Grundierung von Erfahrungen: hier jene „die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen“, da jene, „die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und (…) eine andere Mentalität ausgebildet“ hätten.

„Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen“, zitiert Habermas den Mitunterzeichner des „Emma“-Briefes Alexander Kluge. Er meint damit die „postheroische Mentalität“ des Westens, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „unter dem atomaren Schutzschirm der USA“ ausgebildet habe und die eingedenk der möglichen Verwüstungen durch die Option eines Atomkrieges „internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen“ lösen wolle. Dass im Moment von einer „Zeitenwende“ gesprochen werde, erkläre er sich, so Habermas, „aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten“.

Im Zentrum: Die Waffen hoch, die Waffen nieder – Was bringt uns den Frieden wieder?

Ein offener Brief an den deutschen Kanzler Olaf Scholz sorgt für heftige Debatten. Eine Gruppe namhafter Intellektueller um die Frauenrechtsikone Alice Schwarzer fordert darin, keine „weiteren schweren Waffen“ mehr in die Ukraine zu liefern, und Anstrengungen für einen raschen Waffenstillstand. Der Brief fand digital Zehntausende Unterstützer, auch in Österreich, er traf aber auch auf heftige Kritik. Ein Gegenbrief war die Folge.

„Krieg, das stabilste Modell, wie Geschichte gemacht wird“

Gegen eine Alterskohorten zugehörige Lesart des Krieges im Sinne von Habermas will sich die Schriftstellerin Streeruwitz wenden. „Krieg ist das stabilste Modell, wie Geschichte gemacht wurde, und deshalb die stabilste Institution in unseren Kulturen“, schreibt sie nun in ihrem „Handbuch gegen den Krieg“, das binnen weniger Wochen entstanden ist und veröffentlicht wurde. „Von Frieden wissen wir nicht. Frieden lernen wir nicht“, schreibt sie in diesem Buch, das ihre Grundbetrachtungen in sentenzenartige Kapitel packt. Krieg, so Streeruwitz, sei das „einzig berichtete Ereignis in unserem Geschichtsverständnis“.

Die Logik des Krieges, die alle Generationen in unserer Kultur gelernt haben, so könnte man Streeruwitz auf einen Nenner bringen, verkehrt alle grundsätzlichen Logiken des Lebens, auch alle Bedürfnisse des Lebens. Die Kriegsgeschichte schließe für sie die Wirtschaftsgeschichte mit ein, „die ja auch nur Bericht gibt von der Überwältigung der Person durch das, was wirtschaftliche Entwicklung genannt wird“.

Seite aus Streeruwitz-Buch
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Seite aus dem „Handbuch gegen den Krieg“ von Marlene Streeruwitz

„Krieg ist gemacht“, so Streeruwitz, die wie immer insgesamt rät, den Narrativen, egal von welcher Seite sie kommen mochten, zu misstrauen. Der Krieg dreht für sie alle Logiken des Lebenden um: „Unsere Tränen über die Tränen der Kriegsopfer“, so die Autorin, bestätigten eben die angewandte Gewalt: „Wir werden alle in diesen Missbrauch durch den Krieg mit hineingezogen. (…) In der Perversion des Krieges zählen all unsere kleine Bemühungen des Helfens dann eben auch zur Beute der Kriegsführenden. (…) Das ist die äußerste Form der Erpressung der Wohlmeinenden durch die Gewalttätigen.“

Eine Debatte und die Bewertung der Fakten

Dass die Debatte zur Ukraine, zum Krieg und zur Haltung des Westens gegenüber diesem Konflikt in den kommenden Wochen und Monaten auf der Grundlage belastbarer Fakten geführt wird, darf angesichts der Heftigkeit mancher Debatte der letzten Wochen in Zweifel gezogen werden. Andererseits ist das auch der normale Aggregatzustand von Demokratien im digitalen Zeitalter, wie etwa der österreichische Soziologe Alexander Bogner im Rahmen seines Reclam-Bandes „Die Epistemisierung des Politischen“, erschienen 2021 im Schatten der Pandemie bereits vor dem Ukraine-Krieg, gezeigt hat. Wissen, so Bogner, sei „nicht immer eine robuste Ressource“. Oft sei „die Gültigkeit von Wissen umstritten, manchmal unsicher oder uneindeutig“.

Gerade in einer historischen Debatte wird die Geltung des Faktischen durch neue Frames leicht herausgefordert. Und es spielt möglicherweise das von Habermas angesprochene Modell der unterschiedlichen Generationen eine Rolle. Universitär etablierte Expertinnen und Experten im Professorenrang sind im Zuge dieser Debatte Teil der Alterskohorte 50 plus – und die nimmt in die Bewertung der Fakten einen anderen Rahmen, wie etwa die eigenen Erfahrungen des Kalten Krieges, mit in die Betrachtung hinein. Diese Elite ist zugleich gewohnt, die Mindsets der Jüngeren eher unter eine Pauschalvermutung zu stellen: „Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften“, schreibt Habermas und ortet ein „selbstverstärkendes Echo“, das die Zerstörungen „in den sozialen Medien des Westens“ fänden.

Doch es gebe, so erinnert der Soziologe Bogner, auch eine allgemeine Skepsis in der Gesellschaft gegen das Expertenwissen, die in ihren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückgehe. „Heute“, so Bogner, „hat die antiautoritäre Revolte gegen die Wissenschaft ein eigenartiges, fremdes Gesicht“, da sie eben nicht mehr nur von bekannten Gruppen wie „rebellierenden Studierenden, kritischen Intellektuellen und sozialökologisch Bewegten“ getragen würde. „Der allgemeine Glaube an die Allmacht des Wissens“, so Bogner, „beflügelt eine generelle Ablehnung gegen die Experten.“ Aber, so fügt er hinzu, „der Kampf gegen den typisch expertenhaften Anspruch auf besseres Wissen (Hervorhebung, GH) gilt darum auf allen Seiten des poltischen Spektrums als Ausdruck echter Demokratisierung“.