Gerichtsverhandlung des russischen Soldaten Vadim Shishimarin in Kiew
Reuters/Viacheslav Ratynskyi
Kriegsverbrechen

Erster russischer Soldat in Kiew vor Gericht

Das erste Mal seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine muss sich ein Angehöriger der russischen Streitkräfte vor einem ukrainischen Gericht verantworten. Dem 21-jährigen Soldaten wird vorgeworfen, einen unbewaffneten Zivilisten mit einem Kopfschuss getötet zu haben. Der Prozess in Kiew steht unter besonderer Beobachtung. Er dürfte den Auftakt zu zahlreichen weiteren Kriegsverbrechensprozessen markieren.

Für die Ukraine ist der Prozess von großer symbolischer Bedeutung. Nach eigenen Angaben ermitteln die ukrainischen Behörden rund um die russische Invasion inzwischen in mehr als 10.000 Fällen möglicher Kriegsverbrechen. Eine entscheidende Frage wird sein, inwieweit es der ukrainischen Justiz gelingt, trotz der Umstände neutrale Verfahren zu gewährleisten. Der nun in Kiew verhandelte Fall wird hier einen ersten Eindruck geben.

In einem kleinen Gerichtssaal des Solomjanka-Bezirksgerichts wurde der Angeklagte am Freitag erstmals dem Gericht vorgeführt. Unter großem Medieninteresse nahm er in einem kleinen Glaskobel zu einer Voranhörung Platz. Laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft handelt es sich bei dem Angeklagten um Wadim S., einen 21-jährigen Soldaten der Panzerdivision Kantemirowskaja aus der Region Moskau. Er muss sich wegen „Verstößen gegen die Gesetze und Normen des Krieges“ verantworten

Anklage: Tödliche Schüsse aus Auto

Der Soldat soll am 28. Februar in dem Dorf Tschupachiwka östlich der Hauptstadt Kiew einen unbewaffneten 62-jährigen Zivilisten erschossen haben. In den ersten Tagen des ukrainischen Angriffskrieges war die Panzerdivision des Angeklagten Richtung Kiew vorgerückt. Als die Kolonne von ukrainischen Streitkräften angegriffen wurde, habe S. gemeinsam mit vier weiteren Soldaten ein Auto gestohlen, um zu fliehen, sagte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft. Die russischen Soldaten seien in das Dorf Tschupachiwka gefahren.

Der erste für Kriegsverbrechen angeklagte russische Soldat Vadim Shishimarin im Gericht in Kiew
AP/Efrem Lukatsky
Der Prozess gegen den 21-jährigen russischen Soldaten in Kiew könnte zu einem Präzedenzfall werden

Dort trafen sie laut der Anklage auf einen unbewaffneten Bewohner, der mit seinem Fahrrad unterwegs war und mit seinem Handy telefonierte. Der Verdächtige habe daraufhin den Befehl erhalten, den Zivilisten zu töten. Die Soldaten hätten so verhindern wollen, dass der ukrainische Zivilist ihre Anwesenheit verrät. S. habe mit einem Sturmgewehr mehrere Schüsse durch das offene Fenster des Autos auf den Kopf des Mannes abgegeben. Das Opfer sei auf der Stelle tot gewesen.

Prozess auf kommende Woche vertagt

Bereits am 4. Mai hatte der ukrainische Geheimdienst SBU ein Video veröffentlicht, in dem S. zugab, den Zivilisten erschossen zu haben. „Mir wurde befohlen zu schießen“, sagte er auf der Aufnahme. „Ich schoss einen (Schuss) auf ihn. Er fiel. Und wir haben weitergemacht.“ Vor Gericht wurde der russische Soldat am Freitag aber noch nicht befragt. Die Richter und Anwälte erörterten kurz Verfahrensfragen. Laut ukrainischen Medienberichten wurde die Verhandlung schließlich auf Antrag der Staatsanwaltschaft auf Mittwoch vertagt, um sie öffentlich zugänglich zu machen.

Kiew: Russischer Soldat vor Gericht

In Kiew hat ein Prozess gegen einen russischen Soldaten begonnen. Dem 21-Jährigen werden schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen. Laut Anklage habe er einen 61-jährigen Zivilisten durch ein offenes Autofenster erschossen, nachdem dieser beobachtet hatte, dass eine Gruppe russischer Soldaten ein Auto stahlen.

Eine der größten ukrainischen Menschenrechtsgruppen kündigte bereits an, den Prozess genau zu beobachten. Man wolle sicherstellen, dass die Rechte des Angeklagten gewahrt werden, sagte Wolodymyr Jaworskij, Koordinator des Zentrums für bürgerliche Freiheiten in Kiew. Die Einhaltung der Regeln und Normen des Prozesses „wird bestimmen, wie ähnliche Fälle in Zukunft behandelt werden“, sagte Jaworskij.

Russischer Rückzug brachte Gräueltaten ans Licht

Russland sieht sich mit breiten Vorwürfen konfrontiert, dass seine Armee nach dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar in zahlreichen Orten Kriegsverbrechen begangen habe. Viele der mutmaßlichen Gräueltaten kamen im vergangenen Monat ans Licht. Die Moskauer Streitkräfte hatten damals ihren Versuch, Kiew einzunehmen, beendet und sich aus der Umgebung der Hauptstadt zurückgezogen.

In den zuvor von den russischen Truppen besetzten Orten stießen die ukrainischen Streitkräfte und Behörden auf zahlreiche Leichen und Massengräber. Russland bestritt bisher, Zivilisten ins Visier genommen zu haben oder in Kriegsverbrechen verwickelt zu sein – und sprach von „Verleumdung“.

Ermittlungsverfahren wegen „vorsätzlichen Mordes“

Wie am Donnerstag bekanntwurde, leitete die ukrainische Staatsanwaltschaft ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen „vorsätzlichen Mordes“ an ukrainischen Zivilisten ein. Im Dorf Stepanky in der Region Charkiw hatten nach Angaben der ukrainischen Ermittler russische Soldaten am 27. März von einem Panzer aus ein Wohnhaus beschossen und dabei zwei Männer und eine Frau getötet.

Am Donnerstag veröffentlichten internationale Medien überdies ein Video, auf dem offenbar die Tötung unbewaffneter Ukrainer durch russische Soldaten zu sehen ist. Die Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen, wie bewaffnete Männer in russischen Uniformen bei einem Autohaus in der Nähe von Kiew vorfuhren – in einem Lieferwagen, der mit einem von den russischen Streitkräften verwendeten V-Zeichen beschmiert ist.

Nachdem sie das Auto verlassen hatten, unterhielten sie sich mit einem augenscheinlich unbewaffneten Wachmann. Nach dem entspannt wirkenden Gespräch gingen sie auseinander. Kurze Zeit später kehrten zwei der mutmaßlich russischen Soldaten zurück und schossen dem Wachmann und seinem Vorgesetzten in den Rücken. Beide Männer erlagen den Verletzungen.

UNO-Menschenrechtsrat untersucht mögliche Verbrechen

Mutmaßliche russische Kriegsverbrechen waren am Donnerstag auch Thema einer Sondersitzung des UNO-Menschenrechtsrats in Genf, zu der sich die ukrainische Vizeaußenministerin Emine Schaparowa per Video zuschaltete. „Tausende haben in meinem Land ihr Leben verloren. Die Bombardements und der russische Beschuss sind Teil unseres täglichen Lebens geworden“, sagte Schaparowa. „Folter, Verschleppungen, sexuelle Gewalt – die Liste der russischen Verbrechen ist endlos.“

Die UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet sagte, ihre Mitarbeiter sammelten und überprüften die Hinweise auf Verbrechen. „Das Ausmaß illegaler Hinrichtungen einschließlich der Hinweise auf Massenexekutionen in den Gebieten nördlich von Kiew ist schockierend“, sagte sie. Es lägen inzwischen bereits Informationen über 300 Fälle vor.

Das UNO-Gremium verabschiedete mit deutlicher Mehrheit eine Resolution zur Einleitung von Ermittlungen zu den Gräueltaten in der Ukraine. 33 Mitglieder des Rates stimmten für den Schritt, China und Eritrea stimmten dagegen. Zwölf weitere Länder enthielten sich.