Mit dem der Mutter gewidmeten Song „Stefania“ zwischen Rap, Dub und Kernspaltflötenfolklore führt die aus einem Rap-Trio hervorgegangene sechsköpfige Gruppe die Wettquoten an, allerdings knapper als noch vor einigen Tagen.
Dass das im Krieg befindliche Land Favorit für den Bewerb ist, hat freilich sofort zu unsinnigen Kommentaren in den sozialen Netzwerken geführt: Der Song Contest sei politisch geschoben und gekauft (von wem eigentlich? Der NATO? Der EU? Den Reptiloiden?), und überhaupt dürfe Politik bei einem Musikwettbewerb keine Rolle spielen. Hat sie aber in der jahrzehntelangen Geschichte des Bewerbs immer wieder – weil er unter keinem Glassturz stattfindet, in der die Welt draußen ausgeblendet wird.
Ukrainische Erfolgsgeschichte
Dass die Ukraine so hoch gehandelt wird, hat also durchaus mit der Qualität des Songs und der Beiträge des Landes insgesamt zu tun. Und bei 16 Teilnahmen gab es bisher gleich zwei Siege und sieben Top-Fünf-Plätze. Im Vorjahr erreicht die Gruppe Go_A die zweitmeisten Publikumsstimmen und insgesamt den fünften Platz. Wenn die Ukraine heuer tatsächlich gewinnt, dann würde sie es wohl eher auch dem votenden Publikum zu verdanken haben – und weniger den Expertenjurys.
Und da ist wieder Schweden
Denn Jurys gelten eher als stukturkonservativer Faktor und stimmen meist für handwerklich gut gemachte und nicht zu ausgefallene Musik. Und spätestens dann kommen auch andere potenzielle Siegerländer ins Spiel – allen voran Schweden. Der skandinavische Popperfektionismus lässt das Land immer hoch im Kurs stehen. Mit Cornelia Jacobs schickt man heuer noch dazu eine Teilnehmerin, deren Song „Hold Me Closer“ weniger kühl und kalkuliert wirkt. Mit der gebündetelten Aufmerksamkeit für andere Länder flog sie lange unter dem Radar. Doch spätestens im Semifinale am Donnerstag unterstrich sie barfuß und mit rauchiger Stimme ihre Titelambitionen.
Britische Wiederauferstehung?
Großbritannien gehört in der Geschichte des Song Contest mit fünf Siegen und 15 zweiten Plätzen zu den erfolgreichsten Teilnehmerländern. Die goldene Zeit ist aber längst vorbei, und dass heuer mit Sam Ryder ein Kandidat mit laut Wettquoten realistischen Chancen auf den Sieg im Finale antritt, ist nach einigen letzten und fast letzten Plätzen doch überraschend.
Ryder ist einer jener Künstler, die via TikTok zu großer Berühmtheit gekommen sind und denen erst danach der klassische Chartdurchbruch gelang. Im Vorfeld wurde der stimmgewaltige Brite mit seiner von einer ganzen Armada an hochkarätigen Songwritern geschriebenen, radiotauglichen Nummer „Space Man“ schon als das perfekte Gesamtpaket gefeiert.
Dass man nach Jahren von gefühlter Antriebslosigkeit heuer auch wieder einmal richtig mitmischen will, signalisiert auch ein zweites Big-Five-Land: Aus Spanien tritt Chanel mit „SloMo“ und einem Latino-Dance-Auftritt an, in den ganz offenkundig auf allen Ebenen viel investiert wurde.
Teletwitter
Vom Teletwitter-Team ausgewählte Tweets mit „#ESCORF“ werden während der TV-Übertragungen auf der Teletext-Seite 780 eingeblendet.
Hält Italien Kurs?
Italien ist heuer gleich doppelt fix im Finale gesetzt: als eines der fünf großen Beitragszahlerländer und als Gastgeber gleichermaßen. Seit der Song Contest in den 1990er Jahren zu einem Megaevent angewachsen ist, wurde der Siegertitel jedes Jahr in ein anderes Land weitergereicht. Und sehr oft ließen die Beiträge der Titelverteidiger darauf schließen, dass es absolut nicht im Interesse des Austragungslandes gewesen sein kann, noch einmal die aufwendigen Shows zu auszurichten und vor allem zu finanzieren.
In Italien wird der Beitrag aber ohne Kompromisse im Sanremo-Festival in einem komplexen Auswahlverfahren ermittelt – es könnte also eng für die RAI werden. Dass der heurige Beitrag „Brividi“ von Mahmood & Blanco die Erfolgsgeschichte von Maneskin wiederholen könnte, ist mit Blick auf die Wertung bei den Buchmachern nämlich auch nicht ganz auszuschließen.
Bananenwölfe wohl auf das Publikum angewiesen
Als letztes Siegesszenario gibt es noch die Möglichkeit, dass ein gewitzter Beitrag zwischen Dada und Daft Punk, zwischen Comedy und Danceknaller gewinnt: Norwegen. Mit dem inkognito auftretenden Duo Subwoolfer und dem Song „Give That Wolf a Banana“ ist ein cleverer PR-Coup gelungen, eine Masked-Singer-Geschichte in der Eurovision-Show. Bei den Wettquoten fiel Norwegen allerdings zuletzt zurück, und Jurys sind nicht gerade dafür bekannt, witzige Beiträge als künstlerisch wertvoll zu betrachten. Insofern müsste das Publikum hier für die ganze große Überraschung sorgen.
Liveticker auf ORF.at
Das Finale ist am Samstag ab 21.00 Uhr live in ORF1 und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen. ORF.at begleitet den Bewerb mit einem Liveticker – samt Bildern, animierten GIFs und Social-Media-Kommentaren.
Traurige Überraschung?
Zumindest in die Top Fünf könnten es zwei todessehnsüchtige Balladen schaffen, die erstaunlich viel Zuspruch erhalten. Amanda Georgiadi Tenfjord vertritt Griechenland mit „Die Together“, einem modern gehaltenen Song mit merkwürdig explizitem Fatalismus. Metaphernreicher und flüssig singt Ochman aus Polen „River“, musikalisch sehr orientiert am Siegertitel von 2019, „Arcadia“ von Duncan Laurence. Eine Überraschung im Sinne einer Topplatzierung ist vielleicht auch noch Rosa Linn aus Armenien zuzutrauen, die eine etwas beschwingtere Ballade am Start hat. Für alle anderen Teilnehmer der beiden Semifinale wäre eine Platzierung in den Top Ten wohl schon ein großer Erfolg.
FM4 wieder dabei
Nach vielen Jahren Pause begleitet FM4 heuer wieder den Song Contest. Das Top-FM4-Duo Duscher und Gratzer hat sich Regisseurin Kurdwin Ayub und Superfan Florian Alexander ins Studio eingeladen – zu hören auf FM4 und im Stream auf tvthek.ORF.at.
Der Startvorteil, zumindest den von Zusehern und Zuseherinnen der Semifinale schon einmal gehört worden zu sein, fehlt den zwei noch nicht erwähnten „Big Five“-Ländern: Frankreich und Deutschland. Das bretonische Frauentrio Ahez und der Elektromusiker Alvan waren in Vorfeld hoch gehandelt worden, dass es sich mit ihrer tranceartigen Folklorenummer ausgeht, darf aber bezweifelt werden. Fast schon leidtun könnte einem Deutschland. Malik Harris gelingt mit dem Song „Rockstars“ durchaus ein Ohrwurm, der aber – zumindest was die Wettquoten prophezeien – eher klanglos untergehen könnte. Aber abgerechnet wird erst am Schluss – und das gilt freilich auch für die vorderen Plätze.