Die britische Außenministerin Liz Trus
AP/Czarek Sokolowski
Provokation für EU

London eskaliert Post-Brexit-Streit

Der Streit über die Verhältnisse an der irisch-nordirischen Grenze nach Großbritanniens EU-Austritt eskaliert: London hat nun ein Gesetz angekündigt, das es der Regierung erlauben soll, die mit der EU ausgehandelten Regeln zu ignorieren. Brüssel reagiert scharf. Im Extremfall droht ein Handelskrieg. Der britische Premier Boris Johnson könnte darauf setzen, dass die EU die geeinte Front gegen Moskau im Ukraine-Krieg nicht gefährden will. Fix scheint: Das leidige Thema wird die Beziehungen noch jahrelang belasten.

Die britische Regierung will mit einem neuen Gesetz die Brexit-Sonderregeln für Nordirland teilweise aushebeln. Außenministerin Liz Truss kündigte am Dienstag im Londoner Unterhaus ein Gesetzesvorhaben an, das die seit dem Brexit neu entstandenen Handelsbarrieren zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und Großbritannien abbauen soll. Damit würde sich London von den mit Brüssel ausgehandelten Regelungen für Nordirland lossagen, die im Brexit-Abkommen gesetzlich festgehalten sind.

Waren zwischen Großbritannien und Nordirland müssen gemäß dem Nordirland-Protokoll, das Teil des Brexit-Deals ist, seit dem EU-Austritt an der Irischen See kontrolliert werden. Mit dieser Regelung soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Staat Irland vermieden werden, die Spannungen in der ehemaligen Bürgerkriegsregion erneut befeuern könnte. Außerdem war man sich einig, dass die Kontrollen an der irisch-nordirischen Landesgrenze zu aufwendig wären. Anhänger einer engen Anbindung Nordirlands an das Vereinigte Königreich – die Unionisten – fürchten jedoch dadurch eine Entfremdung und Abkoppelung bzw. umgekehrt eine Annäherung Irlands und Nordirlands.

Protestplakat an einer Straße in Nordirland
Reuters/Peter Nicholls
Unionisten in Nordirland lehnen das Abkommen ab

Nach Nordirland-Wahl unter Druck

Mit der Offensive reagiert London auf den Unmut der meist protestantischen Unionisten in Nordirland. Die größte Unionisten-Partei DUP blockiert derzeit die Bildung einer Einheitsregierung mit der katholisch-nationalistischen Partei Sinn Fein, die aus den nordirischen Parlamentswahlen in der vergangenen Woche als stärkste Kraft hervorgegangen war. Es droht eine politische Blockade über Monate. DUP-Parteichef Jeffrey Donaldson begrüßte die Ankündigung von Truss als willkommenen, wenn auch überfälligen Schritt, dem nun auch Taten folgen müssten.

Bisher ist das Gesetzesvorhaben der konservativen Regierung lediglich eine Ankündigung, konkret auf den Weg gebracht ist es noch nicht. Das solle in den kommenden Wochen passieren, sagte Truss. Und selbst dann dürfte es noch Monate dauern, bis das Gesetz – so es Premier Johnson tatsächlich ernst damit meinen sollte – endgültig beschlossen wird. Die jetzige Ankündigung ist eine Eskalation – aber das Post-Brexit-Drama wird sich vermutlich noch Jahre hinziehen. Faktum ist, dass die Unionisten die Umsetzung des Protokolls bereits jetzt de facto weitgehend verhindern.

Spekulation mit Ukraine-Krieg?

In Brüssel gibt es – laut einem Bericht des Nachrichtenportals politico.eu – den Verdacht, Johnson setze darauf, dass die EU die gemeinsame Linie der Unterstützung der Ukraine im Krieg nicht gefährden will und daher nun zu mehr Zugeständnissen bereit sein könnte. Die Optionen für beide Seiten sind wenig erfreulich: Die EU könnte gegen ein britisches Gesetz klagen, das gegen das Nordirland-Protokoll verstößt – allerdings erst, nachdem es in Kraft getreten ist.

London könnte Artikel 16 des Protokolls auslösen – eine Notbremse für den Fall, dass eine Seite grobe Probleme sieht. Das Verfahren ist allerdings extrem kompliziert und langwierig. Und London könnte auch von den USA unter Druck gesetzt werden. Dort gibt es gerade bei den regierenden Demokraten keinerlei Interesse, den Friedensprozess auf der irischen Insel zu gefährden. Washington könnte Johnson in Handelsfragen unter Druck setzen.

Carlingford Lough
Reuters/Clodagh Kilcoyne
Blick auf Carlingford Lough an der Ostseite der irischen Insel – durch die Bucht verläuft die Grenze

„Angebot“ an Nordirland

Truss versprach, die geplanten Änderungen am Protokoll sollten Bürokratie abbauen und dafür sorgen, dass den Menschen in Nordirland die gleichen Möglichkeiten offen stünden wie allen Bürgern in Großbritannien. Unternehmen sollten etwa unter einem neu gestalteten Rahmen wählen können, ob sie sich britischen oder EU-Standards verpflichten wollten.

Der Streit zwischen London und Brüssel über die Sonderregeln für Nordirland schwelt bereits seit Langem. Regelmäßig trafen sich zuletzt Truss und EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic zu Gesprächen – allerdings ohne nennenswerte Erfolge. In Richtung Brüssel versicherte die Britin nun, man sei weiterhin gesprächsbereit und würde ein Verhandlungsergebnis dem einseitigen Handeln vorziehen. Aber: „Wir können es uns nicht leisten, länger zu warten.“ Das Vorgehen stehe jedoch im Einklang mit internationalem Recht und werde der EU keinerlei Schaden zufügen.

GB erwägt Änderung des Nordirland-Protokolls

Im Streit über das Nordirland-Protokoll hat die britische Regierung mit einer einseitigen Änderung der Brexit-Verträge innerhalb weniger Wochen gedroht. „In den kommenden Wochen“ solle ein Gesetz verabschiedet werden, das die einseitige Änderung des Nordirland-Protokolls ermöglichen würde, sagte Außenministerin Liz Truss im britischen Parlament in London. Die „Präferenz“ bleibe für London aber „eine Verhandlungslösung mit der EU“. Das Nordirland-Protokoll im EU-Abkommen sieht Zollkontrollen im Warenaustausch zwischen der britischen Provinz und dem restlichen Vereinigten Königreich vor.

Sefkovic: „Nicht akzeptabel“

Aus Brüssel kam jedoch postwendend scharfe Kritik: Kommissionsvize Sefcovic schrieb auf Twitter, einseitige Handlungen seien „nicht akzeptabel“, und er habe große Bedenken. Die EU werde mit allen ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen reagieren müssen, sollte London das Gesetz tatsächlich auf den Weg bringen, hieß es weiter. Im Raum steht auch ein Ende des gesamten Brexit-Vertrags. Die Folge könnte ein Handelskrieg zwischen Brüssel und London sein.

Die handelspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion, Anna Cavazzini, sprach von einem bisher unerreichten Tiefpunkt der Dauereskalation durch die britische Regierung. „Sollte solch ein Gesetz wirklich in Kraft treten, ist das ein klarer Bruch internationalen Rechts.“ Die EU dürfe sich von dieser Politik der Drohungen nicht treiben lassen, genau das beabsichtige Johnson mit der nun verkündeten Provokation.